Eric
Es überraschte mich nicht, dass Miko die Geduld verlor. Ich wollte ihn herausfordern, denn scheinbar brannte ihm etwas auf der Seele. Nie zuvor hatte ich ihn so verzweifelt gesehen.
Schon in O’Maileys Büro benahm er sich merkwürdig. Ich rappelte mich wieder auf und klopfte mir den Dreck von meinen Klamotten.
Mein Handy vibrierte und ich nahm das Gespräch entgegen.
“Stone!?” meldete ich mich.
“Hier ist O’Mailey! Wo sind Sie?” Ich
konnte die Ungeduld in seiner Stimme hören.
“Bin noch vor dem Gebäude. Ich habe versucht, mit Detective Miller zu reden, aber wie Sie sich bereits denken können, war das zwecklos.”
“Vermutlich hatte das auch seinen Grund. Wir haben eben einen Anruf aus der Gerichtsmedizin bekommen. Die Tote ist Eve Miller.”
“Moment mal. Wollen Sie damit sagen, dass die beiden in einem verwandtschaftlichen Verhältnis stehen?” Das konnte unmöglich wahr sein, dennoch würde es Mikos Verhalten erklären. Das war doch Wahnsinn.
“Sie ist seine Schwester. Ich kann es
selbst kaum glauben.
Sie waren doch bei der Geiselnahme dabei. Hat er sich denn überhaupt nichts anmerken lassen? “ wollte er wissen.
Ich schaute nach vorn. Mikos Wagen stand noch immer am Straßenrand. Vielleicht würde ich ihn noch erreichen.
“Ich melde mich später nochmal bei Ihnen!” sagte ich knapp und legte auf.
Die ganze Situation kam mir merkwürdig vor. Ich versuchte zu verstehen, was in Mikos Kopf vorging, aber es fiel mir schwer, all das Geschehene einzuordnen. Hatte er seine eigene Schwester nicht erkannt? Warum hatte er kein Wort erwähnt? Wenn ich gewusst hätte, dass es sich um ein Familienmitglied handelt,
wäre er nicht an diesem Ort gewesen.
Mein Handy vibrierte ein zweites Mal.
“Ich…” wollte ich sagen, doch die wütende Stimme von O’Mailey unterbrach mich.
“Wenn Sie noch einmal auflegen, Stone, dann reiß ich Ihnen den Kopf ab. Und nun hören Sie mir zu.”
“Ich bin gerade auf dem Weg zu Mikos Auto. Lassen Sie mich versuchen, ihn aufzuhalten. Vielleicht kann ich ihn ja doch überzeugen.”
“Das können Sie gern, aber erst, wenn Sie mir zuhören. Wir haben hier eine Situation, die alles andere als gewöhnlich ist. Miller hat zwei Schüsse
abgegegeben.
Können Sie mir das bestätigen?”
Ich überlegte kurz und stimmte ihm zu.
“Gut, Wir haben eine Kugel im Kopf des Geiselnehmers und eine Kugel im Kopf von Eve Miller gefunden. Beide Projektile blieben stecken. Kein glatter Durchschuss. Jetzt halten Sie sich fest. Wir haben Millers Waffe mit beiden Projektilen überprüft.”
“Eine stimmt nicht überein!” schlussfolgerte ich.
“So ist es”, antwortete O’Mailiey.
“Und welche Kugel gehört nicht zu Millers Waffe?” wollte ich wissen.
“Es ist die von Eve Miller. Scheinbar hat einer seiner Schüsse das Ziel verfehlt.
Was wiederum bedeutet, dass wir es hier mit einer Person zu tun haben, die Eve Miller getötet hat. Und es war nicht Detective Miller. Die Kollegen von der Spurensicherung sind noch auf der Suche nach der dritten Kugel, die die mit hoher Wahrscheinlichkeit an beiden vorbei gegangen ist. Stone, bringen Sie mir Detective Miller hierher. Wir haben einiges zu besprechen.”
“Ich habe verstanden. Darf ich nun auflegen?”
Doch O’Mailey hatte das Telefonat selbst schon beendet. Netter Typ.
Ich befürchtete, das Miko schon längst nicht mehr da war, doch ich irrte mich.
Als ich an die Autoscheibe klopfte,
zuckte Miko zusammen. Er sah ziemlich mitgenommen aus, vermutlich noch schlimmer als ich.
“Hast du noch nicht genug? fragte er, während er ausstieg.
“Du musst mir nur kurz zuhören okay?
Du hast mit keinem Wort erwähnt, wer die Frau war, Miko. Und es tut mir leid, wirklich.
O’Mailey hat mich eben angerufen und Neuigkeiten.”
“Oh Eric, lass es gut sein. Ich will das alles nicht hören. Ich habe meine eigene Schwester umgebracht und ich habe keine Ahnung, wie ich damit umgehen soll.”
“Verdammt, du hast sie nicht getötet. Du
hast sie nicht mal erwischt, weil es nicht deine Kugel war, okay? Jemand hat auf sie geschossen. Aber das warst nicht du.”
“Was?” Miko starrte mich ungläubig an.
Es minderte vielleicht nicht seine Traurigkeit, aber vielleicht die Wut, die er auf sich selbst hatte. Er brauchte jetzt einen klaren Gedanken, denn irgendwer hatte es auf seine Schwester abgesehen und sie getötet.
“Wie kann das sein?” murmelte er vor sich hin.
“Dann müssten drei Schüsse gefallen sein. Aber… aber ich habe nur zwei gehört und das waren meine!” sagte er diesmal lauter.
Ich hatte ehrlich gesagt auch keine
Ahnung, wie das möglich war, denn auch ich hatte nur zwei Schüsse wahrgenommen.
“O’Mailey will dich sehen. Geh zu ihm. Ich weiß, dass es im Moment schwierig für dich ist, aber vielleicht können wir herausfinden, was genau passiert ist.”
Miko nickte mir zu und plötzlich veränderte sich etwas in seinem Gesichtsausdruck.
“Es gibt da eine Sache, die du wissen musst, Eric!” sagte er zu mir und zum ersten Mal in meinem Leben überkam mich ein schlechtes Gefühl.