Miko
Es dauerte nur wenige Sekunden, bis ich realisierte, dass mich jemand beobachtete. Ich zog den Reißverschluss meiner Jacke komplett zu und dann atmete ich durch. Die Luft an diesem Abend war mild und dennoch hatte ich das Gefühl, das mich innerlich eine Kälte erfasst hatte, die ich mir nicht erklären konnte.
“Hey Miko!” hörte ich jemand meinen Namen rufen.
Ich drehte mich blitzschnell um. Verdammt. Eric war mir doch tatsächlich gefolgt. Dieser Idiot. Ich hatte ihm klar und deutlich gesagt, dass er sich nicht
einmischen sollte. Aber Eric war schon immer der Typ gewesen, der gewisse Dinge einfach ignorierte und das machte, was er für richtig hielt. Manchmal war das gut, aber in meinem Fall trat eher das Gegenteil in Kraft.
“Ich hab dir doch gesagt, dass ich nicht zurückkomme!” knurrte ich ihn an.
Eric kniff die Augen zusammen.
“Mein Gott Miko, jetzt reiß dich zusammen. Du hast immer noch die Möglichkeit einfach umzukehren, und dich für den kleinen Ausraster zu entschuldigen.”
“Kleiner Ausraster?” Ich lachte kurz auf, um Erin zu verdeutlichen, was ich davon hielt.
Er packte meinen Arm, was mich kurz stoppen ließ. Ich sah ihm in die Augen und erkannte die dunklen Flecke darunter. Eric sah fertig aus.
“Jeder hätte wahrscheinlich so gehandelt. Also, versuch es bitte aus einem anderen Blickwinkel zu sehen!” versuchte er es noch einmal.
Ich dachte an die letzten Stunden. Meine Hand ballte sich zur Faust. Ich spürte, wie die Wut in mir zu wachsen begann. Ich musste blinzeln, damit Eric meine aufkommenden Tränen nicht sah.
Eric presste mir etwas gegen die Brust. Ich schaute nach unten und erkannte sofort, was es war. Meine Dienstmarke,
die ich vor wenigen Minuten auf dem Schreibtisch meines Bosses liegen lassen hatte. Lewis O’Mailey staunte nicht schlecht, doch ehe er etwas erwidern konnte, war ich mit einem Bein schon aus der Tür. Vielleicht war es nur eine Kurzschlussreaktion meinerseits, aber ich konnte an dem jetzigen Fall nicht mehr weiter arbeiten. Nicht unter diesen Umständen. Nicht mit dem Wissen, dass ich derjenige war, der alles vermasselt hatte.
“Ich weiß, dass dich all das wahnsinnig macht, aber du hast richtig gehandelt. Und ich sage dir das, weil es stimmt. Bitte Miko, du musst nur die Überprüfung über dich ergehen lassen
und dann werden sie dir sagen, dass alles mit rechten Dingen zugegangen ist.”
Es war wie ein kurzes Zucken in meinen Augen und plötzlich erinnerte ich mich an die Szene, die mir solche Angst machte. Da war diese Frau, in den Händen eines Mannes, der sie von hinten mit einer Waffe bedrohte. Ich konnte die Angst in ihren Augen sehen. Spürte den Todeskampf, den sie vermutlich gerade durchlebte. Ich bat den Mann mehrmals, sie gehen zu lassen.
“Miko?”
Eric riss mich aus meinen Gedanken. Ich starrte ihn an.
“Du benimmst dich merkwürdig, ehrlich. Ich weiß nicht wieso, aber ich mag dich.
Als Kollege und Freund. Also lass mich jetzt nicht hängen, kapiert?
Eine ganz normale Geiselnahme, die tödlich für das Opfer endete. Das kommt vor, Miko. Du hattest keine Wahl. Das solltest du als Detective eigentlich wissen.”
Ich schüttelte den Kopf. Eigentlich wollte ich alles an mir abschütteln. Dieses unangenehme Gefühl, das meine Brust zu schnürte. Es brachte mich um den Verstand. Es zerriss mich innerlich, weil ich nicht wollte, dass die Wahrheit ans Licht kam, aber sie würde kommen. Und sie würde mich überrollen wie ein Zug. Unaufhaltsam und mit voller Wucht. Es würde nicht mehr lange dauern und
sie würden die Tote identifizieren.
“Du hast keine Ahnung, was da abgelaufen ist, Eric. Also bitte, erspar mir deine Worte!”
Ich wollte an ihm vorbei, doch er hielt mich davon ab.
“Was soll das werden?” fragte ich nun schon leicht genervt.
“Was das werden soll? Vielleicht fängst du endlich mal mit einer ganz einfachen Sache an. Und zwar, mit mir darüber zu reden, du Vollidiot!”
“Lass mich in Ruhe. Und nimm das hier wieder an dich!” Ich drückte ihm die Dienstmarke in die Hand.
“Kanntest du sie?” fragte er plötzlich.
Eine Frage, die das Faß zum überlaufen
brachte. Ich fühlte mich so, als hätte man mich bei einer verbotenen Sache erwischt.
“Du bist ein hervorragender Detective, Miko. Also komm schon…”
Noch ehe Eric den Satz heraus brachte, brannten bei mir die Sicherungen komplett durch.
Ich schubste ihn mit voller Wucht von mir weg und er landete unsanft auf dem Boden. Ich zeigte mit dem Finger auf ihn.
“Lass mich in Frieden, Eric. Und das meine ich ernst.”
Schnellen Schrittes ging ich einfach weiter. Ich ließ Eric hinter mir und stieg in meinen
Wagen.
Ich atmete tief durch. Was hatte ich nur getan. Langsam zog ich das Handy aus meiner Hosentasche. 11 Anrufe in Abwesenheit und alle von derselben Nummer. Lewis O’Mailey.
Vielleicht war das der Moment, in dem er es herausgefunden hatte.
Und vielleicht war genau das der Moment, in dem ich realisierte, das die Frau, die ich erschossen hatte, meine Schwester war.