Diese kleine Geschichte entstammt aus dem - wenn alles gut geht - sehr bald erscheinenden Buch "Baronica - Herz der Vergessenen Lande". Einer von vielen Schnipseln, die ich einsparen musste, um die maximale Seitenzahl des Verlags einzuhalten. An dieser Stelle werden davon noch einige Weitere folgen, weil ich denke, dass sie hier gut aufgehoben sind. Sie tragen nichts zur Hauptgeschichte bei, beleben aber die Welt und sollen daher nicht in einem hässlichen Word-Dokument ihr kärgliches Dasein fristen müssen.Viel Spaß, Jon Barnis
In den Vergessenen Landen nimmt man es von jeher nicht so genau mit der Namensgebung. Wie die Wilde Ebene nur unter gutmütigen Augen wirklich eben ist, sind auch die Wildwinden alles andere als wild. Im Gegenteil, hier handelt es sich um eine reine Züchtung, die mit der ursprünglichen Winde nicht mehr viel gemeinsam hat.
Schuld daran sind die Jünger von SoliaEl, landläufig bekannt als Göttin der Natur, des Lebens und des Lichts. In den Landen gibt es nur wenige Götter, die sich daher um mehrere Fachbereiche gleichzeitig kümmern müssen. Um genau zu sein, sind es lediglich zwei, denn die Gottheit Muri duldet normalerweise keine anderen, höheren Wesen neben sich. Möglicherweise genießt sie ja Sonderrechte, wer weiß das schon. Der Glaube an Sie ist
gerade deshalb ungebrochen stark und wächst seit dem Untergang der Baronic stetig. Dabei gilt sie als milde und gütig, was man im Allgemeinen auch über ihre Anhänger sagt. Mal abgesehen von ein paar versprengten Eiferern, die in ihrer ewig gestrigen oder radikalen Gesinnung leider in jeder Religion zu finden sind.
Die Solia, wie sich ihre Getreuen unverschnörkelt nennen, leben meist in eigenen, abgeschlossenen Gemeinden, die in ihrem Aufbau Klöstern gleichen, bei weitem aber nicht so streng religiös organisiert sind. Viel mehr bestehen sie hauptsächlich aus Natur-Künstlern, ausgezeichneten Gärtnern und Pflanzenkundigen, welche durch allerlei verwegene Züchtungen schon so manch neue Art kreierten. Darunter die berühmten Wildwinden, die seither das Bild ihrer Siedlungen prägen.
Die Ur-Winde, auch Salzwinde genannt, wächst nur in der kargen Bergregion rund um die kleine Stadt Glimmer. Dieser liegt nördlich des Dreispitzgebirges in den Silberlanden, ein idyllischer Flecken, verträumt und weltfremd. Die Winde ist ein unscheinbares Gewächs, eher unattraktiv für Fressfeinde, weil bitter wie Gallensaft. Dafür blüht die Pflanze hin und wieder, wenn sie mal Lust dazu hat, in zufällig ausgewählten Farben und verströmt in dieser Zeit einen angenehmen Geruch, der ein wenig an salziges Meerwasser erinnert. Sie ist zwar recht wählerisch, was Klima und Höhe angeht, doch sobald die äußeren Umstände passen, kann sie fast niemand mehr am Wachsen und Wuchern hindern.
Die Bewohner, vor allem aber die Bauern der Glimmer-Region, fürchten sie als Landplage, denn sie hat eine ausgezeichnete Verteidigung
gegen ihre Ausrottung entwickelt. Wo sich andere Vertreter dieser Art damit begnügen, Stacheln auszubilden oder möglichst giftig zu sein, ersann die Winde einen kühneren Plan.
Um Unkraut heraus zu reißen, muss man normalerweise nur so lange und kräftig daran herum ziehen, bis es nachgibt. Irgendwann bricht jeder Stängel und verliert jede Wurzel die Bodenhaftung. Dagegen galt es eine Strategie zu finden, so beschloss die Winde, unausreißbar zu werden. Mit jeder Generation wurden ihre Wurzeln größer, holziger und gruben sich tiefer ins Erdreich. Gleichzeitig entwickelte sie nicht nur einen Stängel, nein, aus dem Boden schossen immer mehr von ihnen, manchmal bis zu sechs oder acht, die sich wie ein wilder Zopf um sich selbst und die Anderen wickelten. Es entstand ein garstiges Geflecht, armdick und in alle Himmelsrichtungen wuchernd, von ungestümen Lebenswillen besessen.
Zeitgleich bildete sich der sonst weiche, grüne Stängel zu einem holzigen Geäst um, welches härter wurde als manches Metall, dennoch in seiner Gesamtheit noch biegsam war, um nicht zu brechen. Nach nur einem Jahrhundert Evolution wurde so aus der kleinen, harmlosen, nervigen Winde ein wahres Ungetüm, das jedem Versuch es zu beseitigen entschlossen trotzte.
Weder Säge noch Axt konnten ihr etwas anhaben. Selbst wenn man es schaffte, sie oberirdisch zu Fall zu bringen, wuchs die Pflanze im Untergrund weiter, holte sich aus der Erde neue Kraft um im nächsten Jahr mit der doppelten Energie zurückzuschlagen.
In genau dieser Widerspenstigkeit sahen die Anhänger der Naturgöttin ein unmissverständliches Zeichen ihrer Existenz. Wie sollte, ohne das Zutun von SoliaEl, eine so rasche Verwandlung möglich sein? Kurzerhand
ernannten sie die Winde zu ihrer heiligen Pflanze und perfektionierten sie. Was als Unkraut begann, wuchs schnell zu Höhen heran, die sonst nur Bäume erreichen. Aus den dünnen, holzigen Stängeln wurden wuchtige Stämme, sich selbst in wilden Formen umschlingend. Die kleinen, bunten Blüten, welche einst eher niedlich wirkten als schön, wandelten sich zu riesigen, tellergroßen Prachtexemplaren. Unter den kundigen Händen der Solia-Gärtner wurde so aus der Salzwinde eine Wildwinde, zehn Mal größer und stärker als ihr Urahn.
Nun werden Sie sich fragen, wie es dennoch möglich ist, ihnen ihr Holz abspenstig zu machen, denn für dieses ist die Wildwinde ja über alle Grenzen hinaus berühmt. Lange Zeit stellte das auch für die erfahrenen Gärtner ein Problem dar, bis ein findiger Anhänger, Pflanzenkundler von Beruf und Freizeit-Alchemist, durch Zufall die Entdeckung seines
Lebens machte. In mehrerlei Hinsicht sogar. Mangold der Zwölfte hieß er, so wie jeder Solia nach einer Pflanze benannt. Er studierte das Wachstum von Wildwinden-Sprösslingen, auch gern mal von Zuhause aus, doch irgendwann lief eines seiner privaten Experimente deutlich aus dem Ruder.
Man ist heute sicher, dass er sich damals an einer Formel versuchte, die aus normalem Wasser ein hochprozentiges Getränk machen sollte, ohne die lästigen Zwischenschritte der Gärung und Lagerung. Alkohol war seinerzeit schon teuer, daher wäre das eine bahnbrechende Entdeckung gewesen. Leider erwies sie sich eher als Knochenbrechend, vor allem für den bedauernswerten Mangold und kostete ihm am Ende das noch gar nicht so jahrreiche Leben, als das Gemisch voller Leidenschaft explodierte. Weder von ihm, noch vom Resultat des gescheiterten Experiments blieb viel übrig, aber
dessen Überbleibsel genügten den schockieren Kollegen wenigstens, um weitete Studien anzustellen. Die Reste von Mangold hingegen verbrannte man, löste die Asche in Wasser auf und goss damit, wie es der Brauch vor schrieb, die große Wildwinde im Zentrum der Gemeinde.
Ein paar Spritzer der Lösung, die tatsächlich hochgradig alkohollastig war, trafen während der Explosion einen schon größeren Winden-Sprössling, der sogleich an den verholzten Stellen Risse bekam. Nur wenige Minuten später war er oberhalb davon abgestorben und fiel tot in den Tontopf hinab. Natürlich probierte man das eilends an ausgewachsenen Exemplaren aus und tatsächlich funktionierte es dort gleichfalls, wenn auch etwas langsamer. Letztendlich starben die dicken Äste nach einiger Zeit ab, welche mit der Lösung benetzt wurden. Holzfällen mittels Alchemie, da eröffneten sich plötzlich ganz neue
Perspektiven! Fortan konnte man eingreifen, wenn ein zu ehrgeiziger Wildwindentrieb drohte, sich durch Hauswände zu bohren oder Straßen unpassierbar zu machen.
Allerdings ist diese Technik nicht für den Massengebrauch gedacht. Das kontrollierte Herstellen der Lösung erwies sich als schwierig, zumindest wenn man darauf Wert legte, lebendig und unversehrt zu bleiben. Zudem verehren die Solia ja diese Pflanzen immer noch und veranstalten vor jeder Anwendung eine ausufernde Zeremonie, um die Göttin gnädig zu stimmen. Ein reichhaltiger Holzertrag ist demnach nicht zu erwarten, obwohl viele Besucher gern ein paar Scheite davon erworben hätten.
Auch das ist wiederum nicht möglich, denn ihr Glaube verbietet es ihnen, die sterblichen Überreste der heiligen Pflanze für Münzen
feilzubieten. Das wäre in ihrem Verständnis dasselbe, als brächte man die verstorbenen Verwandten zur Ersatzteilgewinnung in ein Krankenhaus und ließe sich dafür reich entlohnen. Daher werden die Holzscheite, wenn überhaupt, verschenkt, an besonders gern gesehene Gäste zum Beispiel, um sich zu bedanken, oder besonders einflussreiche, um sich mit ihnen gut zu stellen.
Der aufmerksame Leser wird jetzt empört einwerfen, ich hätte doch gar nicht erklärt, warum die Wildwinden nun Wildwinden genannt werden, obwohl lediglich ihre Urform dem Namen noch gerecht wird. Auf diese Frage kann ich keine Antwort geben. Selbst nach intensiven Forschungen war kein Schriftstück aufzutreiben, welches beschrieb, wie es zu dieser Umbenennung kam. Daher lege ich es unter "Mysterien der Vergessenen Lande" ab.
Für jene, in deren Besitz sich ein Holzscheit aus dieser Pflanze befindet, spielt das ohnehin keine Rolle. Sie sind einfach froh darüber, dass man mit Wildwindenholz hunderte Feuer entfachen und stundenlang am Leben erhalten kann, ohne das dabei das Holz merklich Schaden nimmt. Der berühmte Entdecker Antonie Xorpa beschreibt sogar in einer seiner Geschichten, er sei fast drei Jahre mit fünf Exemplaren ausgekommen, bevor sie bis zum Kern durch gebrannt waren. Äußerst nützlich für lange Reisen und damit verbundene Übernachtungen im Freien. Schließlich ist nichts ärgerlicher, als morgens irgendwo in der Wilden Ebene aufzuwachen und zu merken, dass das schützende Lagerfeuer über Nacht erlosch. Und das man deswegen eingesponnen am Boden liegt und sich eine Horde Giftläufer nun an deinen sterblichen Überresten gütlich tut