Der Schrei
Blutrot senkte sich die Sonne auf den glitzernden Horizont. Nicht mehr lange, dann würde sie das Hier verlassen, um anderswo aufzugehen. Ihr letztes Adieu zeichnete in die Wipfel der Bäume und auf die steilen Felsen ringsum rotgoldene Feuerzungen, die sich lebhaft hinauf und hinab schlängelten, um sich dann im feurig schimmernden Meer zu verlieren. Der spätsommerliche Wind des Tages hatte beinahe aufgehört; aber letzte kleine Wellen auf dem Wasser zeugten von der beinahe unmerklichen Brise, die salzig vom Meer her wehte. Fast meinte man, die jetzt immer sanfter werdenden Wellen an die
Küstenfelsen wogen zu hören, wie ein melancholisches Wispern, das sich über das Wasser ausbreitete. Das schrille Kreischen der Möwen tönte beinahe zu laut und fordernd, während sie sich um die Fischköpfe und Innereien balgten. Ihre Aufgeregtheit stand im Widerspruch zur abendlichen Gelassenheit im Hafen des Dorfes. Die Fischer kippten Abend für Abend ihre unverkäuflichen Reste für die Möwen ins Wasser oder auch auf die steilen Felsen, auf denen sie ihre Brut- und Schlafplätze hatten. Den ganzen Tag hatten diese ungeduldig auf die heimkehrenden Fischer gewartet, und sie schon am Eingang des Fjords freudig mit großem Geschrei zu ihren Ankerplätzen begleitet. Mancher Vogel hatte da schon
versucht, einen ganzen Fisch von Bord aus den Kisten zu angeln, indem sie pfeilschnell auf das Deck hinabstießen. Aber die Fischer verscheuchten sie mit Stöcken, wollten sie doch ihren verdienten Lohn nicht kampflos aufgeben. Trotzdem fiel für die Möwen noch genug ab, dass es allabendlich ein Festmahl werden konnte.
Noch war die Luft voll mit umherschwirrenden, wild schreienden Möwen. Sie stießen spitze Schreie aus, wenn sie sich in die Fluten stürzten, um sich kurz darauf mit einem Beutestück wieder in die Lüfte zu erheben. Es schien wie eine einstudierte Choreographie. Mal sah man einen Pulk Möwen gleichzeitig mit großem Getöse in die Fluten stürzen, dann stoben ebenso viele wieder in die Lüfte, im
Schnabel ein Stück Fisch. Manche brauchten weitere Tauchgänge, weil andere ihnen erfolgreich die Beute streitig machten. Dann stürmten sie sich erneut mit nassen Federn ins Wasser. Andere fischten im Flug die schuppigen Kadaver, ohne auch nur nasse Flügelspitzen zu bekommen, indem sie knapp über der Wasserfläche mit ausgebreiteten Flügeln flogen; sie brauchten nur noch zuzugreifen. Doch mit jedem Augenblick, den die Nacht vom Tag forderte, ließ sich eine Möwe nach der anderen auf den Felsen nieder und das Geschrei verstummte nach und nach, und machte wenig später einer gespenstischen Stille Platz. In der Abenddämmerung taumelten die verschmähten Fischreste auf den Grund, wo
sich bestimmt jemand fand, der Appetit darauf hatte.
Eine junge Frau saß allein am Ufer auf dem Landungssteg der Kutter, die vertäut dalagen und sanft in der Dünung schaukelten. Sie wirkte irgendwie zerbrechlich und ebenso entrückt wie die abendliche Stimmung. Sie starrte gedankenverloren in die Weite und hatte keinen Blick für die Melancholie und Sentimentalität dieses abendlichen Gemäldes. Ihre Schultern hingen schlaff herunter und schienen aller Kraft beraubt zu sein. Auch ihr Kopf fiel immer wieder auf die Brust, nur um Augenblicke später wieder aufzuschrecken. Dann verlor sich ihr Blick wieder in der Ferne. Wie lange sie schon da saß, wusste man nicht mehr zu sagen. In den vergangenen Tagen
hatte sie ihren Platz nur selten verlassen. Seit mehr als achtzig stunden saß sie stumm, ja geradezu leblos da, und nun schien sie fast verwachsen mit ihrer Umgebung. Sie musste müde, todmüde sein, dachten die Leute im Dorf. Aber niemand hatte sie bisher zur Heimkehr bewegen können. Da hatten sie es sein gelassen, sie anzusprechen. Nur aus der Ferne beobachteten sie beunruhigt die junge Frau auf dem Anleger.
Plötzlich schrak sie auf und sah sich ängstlich und zugleich aufgeregt um, als habe sie etwas gehört oder gesehen. Doch in der einsetzenden Dunkelheit war weiter nichts auszumachen, kein Umriss, kein Motorengeräusch. Flehend richtete sich ihr Blick immer wieder zum Horizont. Sie wartete
auf das Boot, das noch immer nicht heimgekehrt war. Die Fischer berichteten schon vor Tagen, dass ein Boot im letzten Sturm verlorengegangen war. Mit jedem Tag aber schwand die Hoffnung, dass das Boot doch noch heimkehrte, und der alltägliche Kampf ums Überleben stumpfte zusehends die Gemüter ab. Unter den Fischern war wenig Platz für Sentimentalität. Man wünschte sich zwar eine Antwort über den Verbleib der Kollegen, aber der eigene Alltag glich allzu oft einem zermürbenden Kampf. Wenn auch viele Fischer schon einen Freund an das Meer verloren hatten, lange trauern war nicht ihr Ding. Zu oft schon war ein Boot mitsamt seiner Besatzung vom Fang nicht wieder zurückgekommen. Sie hatten mit sich selbst
und ihrer Arbeit genug Sorge. Und die Sorgen der jungen Frau berührten sie nur am Rande; zu oft hatte dort schon eine den Anleger blockiert.
Schaudernd dachte sie an die einsetzende Nacht. Sie machte ihr nicht nur Angst, sie wusste, dass die kommende Nacht noch kälter würde als es die vergangenen Nächte hier am Hafen schon gewesen waren. Schwach erhob sie sich, nur um sich gleich erschöpft an den Anleger zu lehnen. Vor Kälte zitternd zog sie die dünne Jacke enger um die Schultern; es war inzwischen empfindlich kühl geworden. Dann blickte sie unschlüssig vom Hafen über die Weite des Fjords. Es schien, als überlegte sie, ob sie noch bleiben oder doch heimgehen sollte. Einesteils trieb es sie fort, weit fort,
andererseits schien sie unfähig, sich zu rühren. Ihr Blick klebte an dem nunmehr dunkelroten Horizont, das sichtbare Ende eines Tages, der wie die vergangenen ohne die Wiederkehr ihres geliebten Vaters, ihres Bruders und ihres Geliebten endete. Die Drei waren Tage zuvor, wie schon so oft, gemeinsam zum Fischen rausgefahren. Sie hatten die Erfahrung der Generationen vor ihnen. Bislang waren sie auch immer gesund heimgekehrt. Ein Sturm oder Gewitter war nichts Besonderes, das hatten sie unzählige Male schon erlebt. Was also war ihnen zugestoßen, dass sie nicht mit den anderen in den Hafen zurückgefahren waren? Waren sie von einem schweren Brecher umgeworfen worden und im Meer versunken? Oder hatten
sie einen der vielen Felsen gerammt, die weit da draußen oft den Weg erschwerten? Oder hatten sie zuviel gewollt, und dabei zuviel riskiert? Diese und tausend andere Fragen quälten sie seither. Doch auch der auflandige Wind brachte keine Antwort – und auch das kleine Schiff mit dem Namen ›Esperanza‹ nicht zurück.
Sie ließ sich am Anleger runtergleiten. Auf den nun nachtfeuchten Holzplanken schob sie die Arme unters Kinn und schloss einen Moment die Augen. Ihr Atem ging schwer, und Tränen rollten ihre Wangen hinab. Sollte sie nun doch heimkehren? Oder sollte sie weiter hier warten? Sie war so müde und ausgelaugt. Sie sehnte sich nach einem warmen Bett, aber ohne ihren Geliebten blieb es kalt. Oft schon
hatte sie allein in den Kissen gelegen, während er in der Nacht draußen auf See gewesen war. Nie hatte sie sich dabei wirklich um ihn gesorgt; und immer hatte er ihr versichert, gesund wiederzukommen. Und sie hatte ihm geglaubt; stets hatte sie ihn am Morgen wieder in die Arme schließen können. Nie hätte sie gedacht, dass sie einmal hier sitzen und vergeblich auf ihn warten würde! Wie gern würde sie ihn jetzt in die Arme nehmen und sich von seiner Unbeschwertheit tragen lassen, und, von seinen starken Armen emporgehoben, ein ›ich habe dich vermisst, ich liebe dich‹ hauchen!
Stunden vergingen. Das Dorf lag in trügerischem Frieden, und die wenigen Lichter in der Bucht wirkten beängstigend. Kaum ein
Laut war zu hören, nur das monotone Plätschern der Wellen, wenn sie an die Kaimauer schlugen. Um sie herum war finsterste Nacht, nicht einmal die Sterne schauten vorbei, dicke Wolken – die letzten Boten des vergangenen Sturms – schoben sich dick und undurchdringlich davor. Sie war so müde und zugleich so unruhig. Wenn sie jetzt heimginge, würde sie auch kein Auge zutun können. So blieb sie sitzen und starrte in die Finsternis. Was sollte werden, wenn ... Sie konnte doch nicht ewig hierbleiben. Irgendwas musste passieren, damit das hier ein Ende hatte! Aber sie konnte und wollte sich nichts vorstellen. Wenn er wirklich nicht wiederkam, wie alle inzwischen glaubten? Wenn sie hierblieb, bis auch von ihr nichts
mehr übrig war? Aber sollte sie überhaupt die Hoffnung so schnell aufgeben und wie das Dorf wieder zur Tagesordnung übergehen? Nein! Das käme einem Verrat gleich! Einem Verrat an ihm und den anderen beiden. Das konnte sie nicht. Sie würde hier Wache halten; es könnte doch sein, dass sie wiederkamen. Und dann wäre keiner da, der sie empfangen würde.
Es war unheimlich still und finster im Fjord. Nicht einmal die sonst so laute Brandung dran vom Meer herüber. Auch der Wind hatte weiter nachgelassen. Sie dachte, er ist wie der traurige Atem der Meerjungfrauen, ein Hauch, weiter nichts. Die Möwen und die Menschen schliefen. Auch die sonst den ganzen Tag kläffenden Hunde waren still. Einzig ihr
eigener Atem begleitete das Glucksen der auslaufenden Wellen. Immer wieder sah sie zum unsichtbaren Horizont, in der wagen Hoffnung, ein kleines Licht herkommen zu sehen oder das Tuckern des Kutters zu hören. Doch nichts von alledem.
Langsam begann die Kälte ihre Glieder steif werden zu lassen. Sie massierte sich die Beine, fast alles Gefühl schien daraus verschwunden zu sein. Es dauerte lange, bis sie wieder ihr Zehen spürte. Doch die Kälte war unerbittlich, sie fror und ärgerte sich, keine wärmere Kleidung angezogen zu haben. Da erinnerte sie sich, dass sie immer noch das trug, was sie bei seiner Ausfahrt angehabt hatte. Und da war es warm gewesen.
In quälender Langsamkeit verging die Nacht.
Sie konnte sich kaum noch aufrecht halten. Sie war so unendlich müde, todmüde, hatte sie doch die letzten Nächte kaum Schlaf gefunden. Irgendwann kippte sie einfach zur Seite und schlief ein. Sie träumte. Sie träumte von ihm. Sie sah sein Gesicht, das von der Sonne gebräunt und der Seeluft gegerbt war. Unter seinem blond gelockten Pony strahlten sie zwei tiefblaue Augen an. Er stand ganz vorn auf dem Kutter und schien ihr etwas zuzurufen. Sie versuchte, seine Lippen zu lesen. Ich liebe dich, schien er zu rufen, ich habe dich vermisst. Doch bald bin ich bei dir. Sie konnte es mit dem Herzen hören. Und es machte sie glücklich.
Dann verschwand die Vision, die Brandung wurde stumm und große Finsternis breitete
sich aus.
Wie lange sie geschlafen hatte, wusste sie nicht. Doch als sie die Augen wieder aufschlug, schimmerte über den Hügeln hinter ihr der neue Morgen. Es war noch sehr früh, das Dorf schlief noch. Sie streckte ihre steifen Glieder und rappelte sich auf. Alles tat ihr weh. Sie fühlte sich so schrecklich, ihr Kopf brummte und ihr Magen brannte. Sie hatte seit Tagen nichts gegessen, fiel ihr ein. Du bist ein Dummkopf, schalt sie sich. Sie würde essen, wenn erst wieder alles gut war.
Plötzlich schrak sie auf und starrte geradeaus auf den Horizont. Da war doch was?! Nur wenig konnte sie in der Dämmerung, an der Grenze zwischen Tag und Nacht erkennen, aber es war ihr, als wäre da ein dunkler Punkt,
der mit jedem Augenblick größer wurde. Ach, das ist nichts, dachte sie, bestimmt nur ein Fels. Da war doch schon immer einer, oder? Nein, das war kein Fels! Der Punkt wurde mit jedem Augenblick größer, und je heller es wurde, desto deutlicher und größer wurde er. War das vielleicht das Boot? Sein Boot, um dessen Willen sie hier Tag und Nacht gesessen hatte?
Irgendwie schien die Sonne zu wissen, was hier passierte, und beeilte sich, den Fjord zu erhellen. Sie konnte schon die steilen Felswände erkennen. Die ersten Möwen flogen auf und kreisten über ihr. Da hört sie auch die ersten Hunde bellen. Und nur wenig später tauchten ein paar Leute auf, die wie sie gebannt auf den Horizont hinausblickten.
Dann erkannte sie den kleinen Kutter, der gerade in den Fjord hineinfuhr. Wie auf ein geheimes Zeichen flog eine ganze Schar Möwen ihm entgegen. Euch interessiert nur Fressen, dachte sie, alles Andere ist euch egal! Doch auch sie konnte und wollte ihren Blick nicht von dem Boot nehmen, das unendlich langsam auf den Hafen zu fuhr. Das mussten sie sein! Das musste er sein! Wer sonst? Endlich! Entfuhr es ihr. Endlich!
In ihrer Aufregung riss sie sich die Jacke runter, breitete die Arme aus und hielt die Hände wie einen Trichter vor den Mund. Und dann hörte man einen Mark erschütternden, langen Schrei! Sie schrie aus Leibeskräften in den Morgen! Sie schrie immer noch, als sie plötzlich ein paar starke Arme hielten. Es war
ein Freund ihres Vaters. Sie lehnte sich erschöpft an seine starke Brust und Tränen rannen ihr übers Gesicht. Diese vielen ungeweinten Tränen, die die ganze Zeit in ihr geblieben waren. Jetzt brachen sie aus ihr heraus. Sie lehnte erschöpft an der Schulter, weinte und schluchzte, bis alle Tränen geweint waren. Die Arme hielten sie wortlos fest und warm. Mit jedem Augenblick wurde sie ruhiger, und mit einem Mal hob sie den Kopf und sah, wie das Boot an dem Anleger festgemacht wurde, auf dem sie tagelang verzweifelt wartend gesessen hatte.
Dann fing sie den Blick ihres Geliebten auf, der gerade vom Boot stieg. Er sah müde und abgekämpft, aber ungleich erleichtert aus. Sein Gesicht zierte ein leichter blonder Bart,
der zuvor nicht da gewesen war. Und unter dem dichten Pony strahlten zwei müde, glückliche Augen, die ihr entgegenkamen. Jetzt hielt sie nichts mehr! Sie wand sich ohne ein Wort aus den Armen, die sie so warm aufgefangen hatten, und lief – ja, stolperte fast – auf ihren Geliebten zu. Dann fiel sie ihm erleichtert in die Arme, die sie hochhoben, dass sie ihm ganz nah war. Seine Wange pikste ungewohnt, aber das war jetzt nicht wichtig. Sie hatte ihn wieder! Sie hatte nicht umsonst Tag und Nacht auf ihn gewartet! Ich liebe dich, flüsterte er, ich habe dich vermisst. Und sie hauchte ihm einen Kuss auf den Mund. Ich habe die ganze Zeit auf dich gewartet; ich habe gewusst, du würdest wiederkommen. Ich liebe dich.
Die Menge empfing die Vermissten mit großem Hallo und Hurra. Sie nahmen sie auf die Schultern und verließen den Anleger. Das sollte gefeiert werden! Der Platz füllte sich mit lachenden Menschen, groß und klein. Das ganze Dorf war auf den Beinen. Die Sonne strahlte mit ihnen um die Wette, die Möwen flatterten ebenso aufgeregt umher, als wüssten sie, was für ein schöner Tag es heute werden würde. Die Freude über die glückliche Heimkehr der drei kannte keine Grenze. Alles rief durcheinander und wollte als Erstes wissen, was geschehen war.
Ich saß auf meinem Felsen und streckte die Flügel weit aus. Sie waren ein wenig steif geworden, schließlich hatte ich seit Tagen kein Auge zugemacht. Jetzt war ich endlich frei und
konnte aufs Meer hinausfliegen und nach einer Mahlzeit Ausschau halten. Und hinterher würde ich wieder zum Felsen zurückfliegen. Schließlich wartete noch ein Fest auf mich.