Der kleine Unterschied
Es begab sich zu einer Zeit, als der Mai noch mild und ein Landregen hin und wieder neben dem nötigen Nass auch Erfrischung brachte, die Luft keineswegs stickig und drückend, sondern angenehm sauber war. Ahorn und Esche wuchsen zu Riesen heran und boten unter ihrem Schutz für Groß und Klein ein Zuhause.
Romy, eine schwarz-weiße Colliedame, gebar ihre Welpen. "Geh du nur jagen, ich schaffe das allein.", hatte sie zu Back, ihrem Begleiter, gemeint. Im Laufe des Tages kamen die sechs zuckersüßen Mädels und ein kleiner Racker zur Welt.
Zärtlich umsorgte Romy ihre Jungen. Besonders vorsichtig säuberte sie den sehr kleinen Rüden. Was würde Back wohl sagen? Gerade Prinz wirkte so winzig neben seinen Wurfgeschwistern.
Ein lautstarkes Blöken der Schafe, die das Gras in der Nähe der Baumhöhle der Collies fraßen, kündigte Backs Heimkehr an. Sie begrüßten den frisch gebackenen Vater freudig: "Sie sind da, wir denken, alle sind gesund und munter." Der stolze Collie legte seine Beute vor der Höhle ab. Er betrat diese neugierig und mit erhobenen Hauptes.
"Schatz, da bist du ja, warst du
erfolgreich?", empfing ihn Romy. Back lugte vorsichtig zu den Welpen und konnte seine Sorge über den Kleinsten im Wurf nicht verbergen. Die Hündin beschwichtigte ihn durch Blickkontakt und leckte ihm das Maul.
"Hey, schert euch weg, ihr Diebe!", hörten sie die Schafe empört schimpfen. Beide liefen vor die Höhle und sahen, wie einige Raubmöwen gierig über der Beute kreisten. "Die müssen mir gefolgt sein. Ich war heute wieder am Ufer jagen." Die Möwen flogen einen großen Bogen und schrien lauthals: "Kiha, kiha, die Jungen sind da!" Back war außer
sich: "Macht nicht so einen Aufstand. Ihr lockt noch Zweibeiner an!" Doch die Vögel ließen sich nicht beruhigen. Sie flatterten höher und höher und schrien aus Leibeskräften. "Kiha, kiha, kiha!"
Plötzlich Stille. Zwischen den Bäumen näherten sich tatsächlich Zweibeiner.
"Schnell in die Höhle!", befahl der Rüde seiner Romy. Aus Sorge, es könnten Jäger sein, lief der alte Collie den Zweibeinern knurrend entgegen. Doch dann erkannte er in ihnen Romys Besitzer, die Schafzüchter Frauke und Sören. "Alles in Ordnung mein Guter! Wir sind es nur und möchten nach Romy
sehen. Ist der Nachwuchs schon da?" Der Rüde sprang zur Seite und ließ die beiden bis zur Baumhöhle vorgehen.
Die Colliedame lugte nun vorsichtig aus der Höhle hervor. Sie verstand jedes Wort der Zweibeiner und kannte diese gut genug, um zu wissen, dass von ihnen
keine Gefahr für die Welpen ausging. Frauke durfte als Erste nachsehen. "Oh!", rief sie entzückt, "Sören schau dir das an! Er ist da, der Kleine. Wir haben unseren zauberhaften Sheltie. In der Ahnenreihe von Romy oder Back müssen nordische Spitze gewesen sein, wie du es vermutet hast, Sören." Die Colliehündin
schaute verdutzt drein. "Sie nannten den kleinen Prinz "Sheltie." Das war er nun,
der feine Unterschied. Einen zu klein geratenen Colliewelpen nannten die Zweibeiner also einen "Sheltie"?
Schade, dass Romy zwar die Zweibeiner verstand, doch ihre Sprache nicht konnte. Darüber hätte sie sich gern mit Sören und Frauke unterhalten.
Was wäre wohl, wenn sie damals schon geahnt hätte, dass ihr kleiner Welpe Prinz genau dieses Talent in sich trug.
Noch war er zu jung, doch er würde eines schönen Tages mit Zweibeiner über seine
Herkunft reden können.
Und weil es die Nachkommen von Prinz heute noch gibt, unterhalten sie sich von Zeit zu Zeit mit von ihnen ausgewählten Zweibeinern.