Stunden später wurde ohne anzuklopfen die Tür geöffnet und Jack stand wieder im Zimmer. Erschöpft drehte Jules ihren Kopf zur Seite, damit sie ihn nicht ansehen musste. „Jules, bitte, können wir reden?“, fragte er zaghaft, doch Jules bewegte sich nicht. Der Monitor blieb bei einem gleichmäßigen Ton, die Medikamente zusammen mit ihrem Entschluss taten ihre Wirkung. Sie hörte, wie er wieder einen Stuhl über den Boden zog und nahm dann seinen riesigen Schatten über sich wahr, bevor er auf dem Stuhl neben ihr zusammen sackte. McAllister wusste nicht genau, wo er beginnen sollte. Alles, worum seine Gedanken schwirrten, war, dass er sie jetzt beschützen musste. Wenn es sein sollte, mit seinem Leben. Seit dem ersten Augenblick an, war er in diese Frau
verliebt und er würde alles für ihre Sicherheit tun, was in seiner Macht stand. „Bitte sag mir, warum du mich einen Lügner nennst.“ Endlich kamen Worte aus seinem Mund. Das unüberhörbare Leiden in seiner Stimme störte ihn nicht, sie konnte ruhig wissen, wie es in ihm aussah. Jules regte sich nicht. „Bitte.“, flehte er und attackierte ihren Hinterkopf mit seinen traurigen Augen. Kribbelnd spürte sie seinen Blick und schließlich hielt sie es nicht mehr aus. „Du bist kein Security-Typ. Du bist vom FBI.“ Jetzt sah sie ihn direkt an. Erleichterung machte sich in ihm breit. Der einzige Punkt, der sie störte, war die Berufsbezeichnung. Er seufzte tief. „Ja, ich arbeite beim FBI.“, gab er zu. „Du hast mich angelogen.“ Ein mickriger Versuch, anschuldigend mit dem Finger auf ihn zu zeigen,
misslang. „Nein, habe ich nicht.“, verteidigte er sich und lächelte frech, „Ich sagte, ich sei in der Sicherheitsbranche. Das war keine Lüge.“ „Aber auch nicht die volle Wahrheit.“ Trotzig schob sie ihre Unterlippe vor. Völlig unangemessen regte sich sein Schritt, als er ihre feuchte, rote Lippe ansah. Verlegen räusperte er sich: „Es tut mir leid, Jules.“, fing er an. Er holte tief Luft. „Weißt du, wenn ich Frauen kennenlerne und gleich mit meinem Job rausrücke, dann springt die eine Hälfte entsetzt auf und läuft davon und die andere sieht in mir nur noch den aggressiven Agenten. Klar, ich liebe meinen Job, aber ich bin nicht mein Job, ich definiere mich nicht ausschließlich darüber. Als ich gemerkt habe, dass du etwas Einzigartiges für mich werden könntest, da wollte ich vermeiden, dass dich mein Beruf vielleicht abschreckt. Es wäre nicht leicht für eine Frau. Kannst du mich
verstehen?“ Jules schwieg lange, völlig in sich gekehrt. Beinahe dachte er schon, sie ignoriere ihn einfach, da sagte sie: „Hast du mein Leben schon durch gecheckt?“ „Nein“, erwiderte er augenblicklich, „so etwas tue ich nicht. Wenn ich etwas über dich wissen will, frage ich dich einfach. Ich will dich sehen, so wie ich will, dass du mich siehst. Nicht was in irgendwelchen Akten steht.“ Beruhigt nickte sie. „Es gibt da etwas - ein kleines Geheimnis. Aber ich bin noch nicht soweit, dir davon zu erzählen.“ „Du bist aber keine Schwerstkriminelle, oder?“, versuchte er sie zu necken. Zum Glück verstand Jules diese Art Humor und sie lachte. „Nein, das bin ich wirklich nicht.“ „Gut, dann kann ich damit leben. Vergeben und vergessen?“, fragte er hoffnungsvoll. Wieder nickte sie. Jack konnte nicht anders, er stand auf und nahm sie in die Arme, drückte sie
an sich und strich ihr zärtlich über die Haare. Bald darauf bemerkte er ihre regelmäßigen Atemzüge, legte die schlafende Jules behutsam in ihr Kissen zurück und verließ das Zimmer. Es gab jede Menge zu tun. Draußen nickte er zwei Kollegen stumm zu und raste zurück ins Büro. Ihr knurrender Magen weckte Jules und sie klingelte nach der Schwester. Diese kam direkt mit einem voll beladenem Tablett herein. „Der Doktor kommt gleich.“, sagte sie nur, als sie die Mahlzeit vor Jules abstellte und wieder ging. Grüblerisch biss Jules in das pappige Sandwich. Sie war sich nicht sicher, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Da war einerseits Jack McAllister, der gutaussehende FBI-Agent, in den sie sich zugegebenermaßen heftig verliebt hatte und ER. Sollten ER jemals von Jack erfahren, würde die Hölle losbrechen, andererseits würden Jack die Hände gebunden
sein. Er musste nun mal seinen Job machen. Innerlich betete sie, dass die beiden Männer in ihrem Leben sich niemals über den Weg liefen. Einen von beiden zu verlieren, könnte ihr Herz kaum ertragen. Doch wenn sie jetzt wusste, wie es ausging, dann könnte sie sich darauf vorbereiten. So würde der Verlust nicht so groß zu spüren zu sein und sie könnte die Zeit, welche sie mit Jack noch hatte, genießen. Diese Schönmalerei beschwichtigte ihre aufgebrachten Gedanken einigermaßen. Der Arzt kam und sagte ihr, dass es ihr bis auf eine kleine Gehirnerschütterung gut ginge und sie morgen wieder nach Hause könne. Erschrocken dachte sie das erste Mal an Flöckchen, den armen Kerl hatte sie völlig vergessen. Sie fragte nach ihren Sachen und durchsuchte diese dann nach ihrem Telefon. Als sie es endlich in der Hand hielt, wählte sie hastig Jacks
Nummer. „McAllister.“, meldete er sich keuchend. „Hey Jack, ich bin es.“, sagte sie froh, ihn sofort erwischt zu haben. „Hey, Prinzessin, alles klar?“ „Ja, mir geht es gut. Ich kann morgen entlassen werden. Warum ich anrufe: Könntest du mir einen großen Gefallen tun?“ „Klar. Was soll ich machen?“ „Dich um Flöckchen kümmern? Er war seit heute Morgen nicht mehr draußen.“ „Oh Mädchen“, sagte er leicht enttäuscht in den Hörer, „damit wollte ich dich doch überraschen. Ich bin gerade mit ihm joggen und hab schon ein paar Dinge für ihn in meinem Wagen.“ „Moment Mal.. wie.. was.. wie bist du in meine Wohnung gekommen?“ „FBI Geheimnis.“ Sie hörte Jacks wohlklingendes, tiefes Lachen. „Prinzessin, ich muss weiter. Ich hole dich morgen Mittag ab, in Ordnung? Schlaf
gut.“ „Ja, bis Morgen. Du auch.“ Perplex legte sie auf und versuchte in dem unbequemen Bett eine gute Schlafposition zu finden. Wie versprochen stand Jack am nächsten Tag gegen Mittag in Jules‘ Zimmer und nahm ihre Hand, nachdem sie die Entlassungspapiere unterschrieben hatte. Zielsicher führte er sie zu einem großen, dunklen Wagen. „Wo hast du den jetzt so schnell her?“ „Dienstwagen.“, antwortete er nur, während er ihr die Tür öffnete, „Bitte sehr, Mylady.“ Er setzte sich hinters Steuer und warf einen kurzen Blick zu Jules. Die krallte sich ängstlich in den Sitz und stierte geradeaus. Fürsorglich schnallte er ihr den Gurt um und schaltete den Drive Modus ein. Eine Sekunde zögerte er, dann legte er seine Hand auf ihren Oberschenkel und streichelte sie mit seinem Daumen. „Ich werde
super vorsichtig fahren.“, sagte er, woraufhin Jules nickte. Am Ende der Fahrt zitterte sie vor Anspannung und kam nur langsam aus dem Wagen. Jack schnappte sich ihr Gepäck, das sie aus ihrer Wohnung geholt hatten und trug sie erneut die sieben Stockwerke in seine Wohnung. „Ich kann wirklich alleine in meiner Wohnung bleiben, sonst hätten sie mich ja nicht aus dem Krankenhaus entlassen.“, beschwerte sie sich kurz darauf bei ihm. Sie stand im Türrahmen zum Wohnzimmer mit vor sich verschränkten Armen, während er sich wieder zum Gehen wandte. „Ich habe dich aber lieber noch etwas in meiner Nähe, falls etwas sein sollte, Prinzessin. Darüber diskutiere ich auch nicht mit dir. Ich bin in spätestens drei Stunden wieder hier, du kannst dich inzwischen für den Rest der Woche bei Charlie krankmelden und es dir dann mit
einer Pizza vorm Fernseher gemütlich machen. Flöckchen hatte schon alles, was er brauchte. Bye.“ Er fasste mit seiner Hand in ihren Nacken und drückte ihr einen Kuss auf die empört verzogenen Lippen. „Ruh‘ dich aus.“, sagte er noch im Umdrehen und verschwand durch die Tür. SSA Smidt hatte für heute Nachmittag ein Meeting angesetzt, es gab wohl neue Erkenntnisse zu Brian Bennett. Bald würde er erledigen, wozu er in die Stadt gekommen war und es musste ein Plan her, um das Schlimmste zu verhindern. Jules sah noch einige Zeit die geschlossene Tür an, danach wanderte ihr Blick zu Flöckchen der auf einer Decke im Wohnzimmer lag. Seelig schlafend hatte er sich zusammengerollt und fühlte sich offensichtlich ziemlich wohl, in
dieser eigentlich fremden Wohnung. Verräter. Unschlüssig tigerte sie durch die Zimmer. War es wirklich die richtige Entscheidung, Jack zu verzeihen? Würde ihr kleines Herz die Trennung verkraften, wenn es soweit war? Irgendwann würde ER alles herausfinden und dann Gnade ihr Gott vor der Wahl, die sie treffen musste. Aber Jack, der große, liebevolle Koloss war einfach zu verlockend, ihre Gefühle bereits zu stark, als das sie sich noch zurückhalten könnte. Insoweit musste sie ihre eigene Lüge bereits aufgeben. Was blieb, war zu hoffen, dass es nicht allzu schlimm würde, wenn alles ein Ende fand. Sie dachte an ihren Beschluss, alles an ihrer momentanen Beziehung zu Jack und vor allem Jack selbst zu genießen und lächelte zaghaft. Genau das würde sie tun. Zufriedener setzte sie sich einen Tee auf, den sie in einem Küchenschrank fand und schob sich die Pizza aus dem kleinen Tiefkühler vom
Kühlschrank in den Ofen. Eingekuschelt in eine Wolldecke saß die junge Frau auf dem Sofa und sah sich einen romantischen Film an. So gedankenverloren vor sich hin mampfend vergaß sie völlig die Zeit und irgendwann fielen ihr beinahe die Augen zu. Schlurfenden Schrittes ging sie ins Bad, machte sich dort fertig und legte sich in Jacks Bett. Dort sah sie auf den Wecker, Jack war schon weit länger fort, als er angekündigt hatte. Sorgenvoll nahm sie sich ihr Mobiltelefon und versuchte ihn anzurufen, doch es sprang nur die Mailbox an. Also schrieb sie ihm eine kurze Nachricht und holte sich ein Buch aus dem Wohnzimmer. Flöckchen wachte auf und folgte ihr ins Bett, wo er es sich an dem Fußende gemütlich machte. Jules hatte keine Ahnung, ob es für Jack in Ordnung war, das der Hund mit im Bett lag, doch gerade fühlte sie sich dadurch
erheblich wohler. In dieser nicht vertrauten Umgebung alleine und einem verschwunden Jack, wurde ihr doch etwas mulmig zu Mute.
Apollinaris Ein sehr gelungenes Cover! :) |