Nachsaison am meer
Während die Sonne nun etwas milder schien, die Touristenströme in dem beliebten Ferienort an der See deutlich abebbten und so ein wenig mehr Ruhe in die ansonsten so hektisch frequentierte Seebad-Idylle einkehrte, saß ich an einem dieser Nachmittage allein an einem der wenigen verbliebenen Tische auf der Terrasse eines Restaurants und schrieb voller Tatendrang an meiner neuen romantischen Liebesgeschichte. Ich genoss die absolut friedliche Stille, wie auch die wohltuende Wärme der Sonne, die von der weißen, gegenüberliegenden Häuserfassade einer Pension reflektiert wurde, während ich
bequem im Schatten saß und von meinem Cappuccino trank, den mir die freundliche Kellnerin erst kurz zuvor serviert hatte.
Ein leicht auflandiger Seewind verschaffte mir zudem ständig frische Luft und gestaltete mir meinen Aufenthalt in dem allmählich immer mehr vereinsamenden Café so angenehm wie möglich. Auf diese Weise bestens versorgt, machte natürlich auch meine feinsinnig verfasste Liebesgeschichte enorme Fortschritte und ich fand, dass sie mir in einer solch hinreißenden Umgebung immer besser gelang, je intensiver ich daran schrieb.
Plötzlich wurde auf einem jener halbrunden Balkone in der ersten Etage dieser unmittelbar gegenüberliegenden Pension eine Balkontür geöffnet und eine sehr sportlich schlanke Frau
um die Dreißig mit halblangem aschblonden Haar, betrat ihren winzigen Balkon, auf dem bestenfalls zwei hölzerne Klappstühle Platz fanden. Sie trug ein dünnes körperbetontes, samtbraunes Kleid mit kleinen weißen Punkten und wie passend dazu, hochelegante rote Highheels. Mit ihren schmalen Händen umfasste sie das schmiedeeiserne Geländer des Balkons und wandte ihr hübsches Gesicht mit geschlossenen Augen der Sonne zu. Einen Moment lang schien es, als genösse sie auf diese Weise die so auf sie einwirkenden wärmenden Strahlen der Sonne. Doch dann zog sie sich entschlossen das samtbraune Kleid mit den weißen Punkten über den Kopf und hängte es sorgsam über das metallene Geländer. Danach setzte sie sich wie Gott sie
geschaffen hatte auf einen der beiden weißen Klappstühle und ließ sich geradewegs von den goldenen Strahlen der nachmittäglichen Sonne verwöhnen. Mir bot sich derweil ein geradezu faszinierendes Bild und wieder einmal mehr bedauerte ich, leider kein Maler zu sein der dieses bezaubernde Motiv mit Pinsel und Farbe auf seiner Leinwand hätte festhalten können. Natürlich hätte ich davon auch ein schnelles Foto mit meiner neuen Digitalkamera, welche ich bei jeder Gelegenheit stets bei mir habe, schießen können, aber das verbot sich mir aus gewissen Anstandsgründen heraus quasi von selbst. So blieb mir zu meinem Leidwesen nur das Bild jener hübschen, sich ungeniert nackt sonnenden Frau aus der Ferne zu betrachten
und es lediglich in meinem Gedächtnis abzuspeichern. Nach einer knappen halben Stunde erhob sie sich wieder von ihrem Stuhl und schaute vom Balkon auf die schmale Strandstraße hinab. Nun hatte sie mich offensichtlich erst bemerkt und sandte mir daraufhin ein überaus smartes Lächeln. Einen Augenblick später hatte sie jedoch schon nach ihrem Kleid gegriffen und war anschließend wieder in ihrem Zimmer verschwunden.
Am nächsten Tag zur nämlichen Zeit, als ich wieder in meinem kleinen Café saß, geschah exakt dasselbe und auch diesmal hängte die junge Frau ihr samtbraunes Kleid mit den weißen Punkten erneut über die Brüstung und ließ sich die wärmenden Sonnenstrahlen auf
ihrer nackten Haut gefallen. Jedoch hatte sie
mich diesmal gleich bemerkt und winkte mir charmant von ihrem Balkon herab. War dies ein Spiel, eine Show, oder einfach nur eine Narretei, die sie da mit mir trieb? Ich wusste es nicht, als sie aber am dritten Tag erneut auf ihrem Balkon erschien, trug sie ein weißes Kleid mit seitlichen grauen Streifen. Dazu diesmal aber knatschgelbe Highheels, was mich jedoch schon ein wenig verwunderte.
An diesem Nachmittag hatte ich mir bei der freundlichen Kellnerin neben meinem obligatorischen Cappuccino auch ein appetitlich leckeres Bismarck-Brötchen bestellt, als die bezaubernde schlanke Schöne von gegenüber wieder auf ihren Miniatur-Balkon hinaustrat und sich erneut recht freizügig im Evaskostüm sonnte. Was für ein
äußerst merkwürdiges Spiel das doch ist, dachte ich noch, als ich gerade herzhaft in mein leckeres Fischbrötchen beißen wollte. Doch just in diesem Moment sprang die Dame auf ihrem Balkon auf und winkte aufgeregt mit beiden Händen zu mir hinunter. Dann warf sie sich rasch ihr weißes Kleid über und verließ geschwind den Balkon. Einen Augenblick später jedoch stürmte sie schon mehrere Stufen zugleich auf einmal nehmend, die breite Wendeltreppe im Treppenhaus hinunter und kam aufgelöst aus dem Haus gestürzt. Sie breitete ihre Arme aus und sprang die drei Stufen, die sie noch von der Ebene der Straße trennten, hinab. Dabei flog sie förmlich auf mich zu. Mit zwei, drei kräftigen Flügelschlägen ihrer deutlich über einen Meter
breiten Flügelspannweite überquerte sie in Windeseile die Strandstraße und hielt nun direkt auf mich zu. Ich konnte gerade noch in ihre angriffslustig funkelnden gelben Augen schauen, bevor ich dabei rückwärts stolpernd, krachend auf einen der Caféstühle landete. Sie hingegen drehte lachend und dabei zugleich laut kreischend noch eine Runde über die Café-Terrasse. Dann schnappte sie sich mit ihrem kräftigen Schnabel mein inzwischen heruntergefallenes Fischbrötchen und flog mit weit ausholenden Flügelschlägen und ihrer Beute in Richtung Strand auf und davon...
»Ja, ja, hier am Meer dürfen Sie nicht einfach nur so vor sich hinträumen, meinte die Kellnerin kopfschüttelnd, als sie diesen
rasanten Überraschungsangriff beobachtet hatte, denn wenn man hier auch nur einen einzigen Augenblick lang nicht aufpasst, dann stibitzen einem diese gierigen und ewig hungrigen Silbermöwen sogar doch glatt noch das Essen vom Teller… «
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Impressum
Cover: selfARTwork
Text: Bleistift
Graphik inside: selfARTwork
© by Louis 2019/8 Update: 2019/10