Romane & Erzählungen
Das Feenkind

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"Das Feenkind"
Veröffentlicht am 06. Februar 2009, 14 Seiten
Kategorie Romane & Erzählungen
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Das Feenkind

Das Feenkind

Das Feenkind Horst wachte schweißgebadet auf. Ruckartig setzte er sich auf und horchte angestrengt in die Stille. Nichts. Also war es ein Traum gewesen? Er hatte ein Kind weinen gehört. Es war ein verzweifeltes Weinen gewesen. Es war bis in sein Innerstes gedrungen und hatte ihn erschreckt hochfahren lassen. Noch immer glaubte er dieses Jammern zu hören. Aber im Haus blieb es still. Nur ein leises Ächzen der Bodenbretter war zu hören.
Horst wohnte erst seit kurzem hier und das Haus war fast zu groß für ihn. Es war für eine Familie gedacht, aber die hatte er ja nicht mehr. Vielleicht hatte es ihn gerade deshalb hierher gezogen. Er wollte Abstand gewinnen, alles hinter sich lassen: Den Schmerz, die Enttäuschung, die Frustration über ein verpfuschtes Leben. Zuerst war sein Kind gegangen und dann hatte ihn seine Frau verlassen. Der Schmerz über den Verlust ihres einzigen Kindes hatte sie nicht enger zusammengeschweißt, nein jeder hatte sich in seinem Schmerz eingeigelt und daran war letztendlich ihre Ehe zerbrochen. Katharina, sein kleiner Liebling war nur fünf Jahre alt geworden. Seine letzte Erinnerung an sie war, wie sie fröhlich lachend den Bürgersteig entlang hüpfte und dabei gefährlich nahe an die Bordsteinkante kam. Er wollte warnend rufen, aber da sah er sie schon fallen: Sie war ausgerutscht und direkt vor ein Auto gestürzt, das viel zu schnell die Einbahnstraße entlang brauste.
Eines Tages war ihm, durch puren Zufall, die Zeitung seiner Heimat in die Hände gefallen. Das alte Doktorhaus wurde vermietet, da sein Besitzer für einige Jahre ins Ausland ging. Er wollte währenddessen das Haus nicht unbeaufsichtigt lassen und suchte dafür einen verlässlichen Mieter. Horst rief an und da die Mietbedingungen annehmbar waren, kam man überein. So war er nun hier. In diesem Dorf war er aufgewachsen, hier wollte er wieder zu sich selbst finden.
Das Haus stand ein wenig außerhalb des Dorfes. Horst war es recht so. Er liebte die Einsamkeit. Frau Ludwig, die zweimal in der Woche seine Unordnung beseitigte, genügte ihm völlig als Kontakt mit der Außenwelt. Und das Wenige, das er zum Leben brauchte, ließ er sich ins Haus bringen. Lukas, der Botenjunge, ausgestattet mit einem Walkman, hatte stets seine Ohren zugestöpselt und war froh, wenn Horst ihn nicht ansprach. Hin und wieder rief sein Freund Jochen an und brachte so Neuigkeiten in sein Eremitenleben.
So saß er nun täglich vor seiner Schreibmaschine und versuchte sich auf seine Arbeit zu konzentrieren. Schließlich lebte er von dem, was er zu Papier brachte. Seine zwei ersten Romane waren Bestseller geworden, doch seit dem Tod von Katharina war sein Kopf wie ausgehöhlt. Lustlos saß er stundenlang vor dem leeren Blatt Papier, bis er dann aufsprang und durch den nahen Wald lief, von wo er zwar müde, aber keineswegs ideenreicher zurückkehrte.
Er legte sich wieder hin und versuchte weiterzuschlafen, aber es gelang ihm nicht. Seine Gedanken ließen sich nicht abschalten wie ein Rundfunkgerät. Sie wirbelten weiterhin durch seinen Kopf und ließen ihn leidvoll die Einsamkeit spüren. Katharina hätte dieses Haus mit Leben erfüllt. Er konnte ihr übermütiges Lachen immer noch hören. In letzter Zeit träumte er sehr häufig von ihr. Und nun hatte er sie sogar weinen gehört. Gequält warf er sich von einer Seite auf die andere. Instinktiv griff seine Hand zur Seite und suchte nach Nadine. Da fiel ihm ein: Nadine war weit fort, Nadine hatte ihn verlassen.
In der darauffolgenden Nacht vermeinte er wieder ein leises Klagen zu hören. Diesmal war er sich sicher: Er hatte nicht geträumt. So stand er auf und ging dem Geräusch nach. Plötzlich verstummte es. Als es sich auch in den folgenden Nächten wiederholte, sprach er Frau Ludwig darauf an. Die schüttelte bloß den Kopf und meinte: "Hier gibt es keine Kinder, soviel ich weiß. Im Haus unten an der Straße wohnt ein altes Ehepaar und das Haus neben ihnen steht zum Verkauf: Es ist leer. Dort wohnte ein junges Paar mit seinem Kind. Das war damals eine traurige Geschichte." Sie schnaufte hörbar und ohne ein weiteres Wort wandte sie sich um und machte sich wieder an die Arbeit.
Horst kam am späten Nachmittag, als er von seinem Waldlauf zurückkehrte, an dem alten, leeren Haus vorbei. Neugierig trat er näher. Erst jetzt fiel ihm auf, dass hinter dem Haus ein Garten lag, den eine hohe Mauer nach allen Seiten hin abschirmte. Er wollte einen Blick hineinwerfen, aber der Eingang war mit Brettern zugenagelt. Als er versuchte eines der Bretter nach oben zu schieben, löste es sich und fiel mit lautem Krach zu Boden. Die dadurch entstandene Öffnung war groß genug, um hindurch zu kriechen. Die Neugierde trieb ihn vorwärts und so stand er plötzlich mitten im Garten. Im hohen Grase standen verschiedene Obstbäume. Längs der Mauer blühten Rhododendrensträucher und dort, wo die Mauer ans Haus grenzte, stand ein Fliederbusch. Eine verwitterte Holzbank, die sich an den Stamm einer Wildkirsche lehnte, sah man kaum, denn sie war vom Gras überwuchert. Er fühlte sich in einer anderen Welt. Das Ganze wirkte auf ihn wie ein kleines ursprüngliches Stück Natur in all seiner Wildheit. Da kam ihm die Idee: Hier konnte er schreiben, niemand würde ihn stören. Da es keinen Besitzer gab, konnte es ihm auch niemand verbieten.
Seine kleine Reiseschreibmaschine auf den Knien tippte Horst eifrig seine Einfälle aufs Papier. Plötzlich waren sie wieder da, die Ideen. Es musste der Zauber dieses wilden, verwahrlosten Gartens sein, der ihn wieder zum Schreiben gebracht hatte. Hin und wieder streckte er sich und lehnte seinen Rücken gegen den Stamm des Baumes. Dann schloss er die Augen und lauschte den Stimmen, die der Garten hervorzauberte: Über ihm sang ein Vogel, Bienen summten. In der Nähe musste ein kleiner Tümpel sein, denn er hörte einen Frosch quaken. Plötzlich hatte er das Gefühl, dass sich noch jemand im Garten befand. Er öffnete die Augen und erblickte in der Nähe der Rhododendrensträucher ein kleines blondes Mädchen, das ihn aus großen, traurigen Augen anstarrte. Er wollte schon rufen, da war sie auf einmal nicht mehr da. Wer mochte sie gewesen sein? Ein Kind aus dem Dorf, das seine Lücke im Bretterzaun gefunden hatte?
Das kleine Mädchen sah er nun öfters, wenn er im Garten arbeitete. Sie tauchte plötzlich auf und sagte kein Wort. Sie starrte ihn nur mit diesen traurigen Augen an. Und dann verschwand sie plötzlich im Nichts. Er rief nach ihr und durchsuchte das Dickicht, da er das Gefühl hatte: Die Kleine wollte etwas von ihm. Aber sie war nicht mehr da. Langsam wurde ihm die Sache unheimlich. Wer war das Kind? Und was wollte sie von ihm? Er wollte Frau Ludwig darauf ansprechen. Vielleicht kannte sie das Mädchen.
"Wo sagen Sie, haben Sie das Kind gesehen? Im Garten? Und blond ist sie? Das ist die kleine Amina, die damals spurlos verschwunden ist."
Er schaute sie entgeistert an. Was meinte sie damit?
Doch sie fuhr bereits fort: "Sie müssen wissen, das war damals eine schlimme Sache. Haben Sie es nicht aus der Zeitung erfahren?" Er schüttelte verneinend den Kopf. Er las selten die Zeitung.
"Das Kind verschwand aus diesem Garten. Die Polizei und viele freiwillige Helfer haben es wochenlang gesucht. Es war wie vom Erdboden verschluckt. Die Eltern waren verzweifelt und dann zogen sie weg. Ich glaube, sie wollten nicht mehr hier bleiben, wo alles sie an das Kind erinnerte."
Sprachlos hatte er ihr zugehört. Dann schüttelte er ungläubig den Kopf. Eine traurige Geschichte, aber sonst wohl nur Hirngespinste. Wie konnte ein totes Kind sich melden. Er hatte ein scheues Dorfkind aufgeschreckt, das neugierig auf diesen komischen Fremden war, der sich erdreistete, den verwunschenen Garten zu benützen.
In den nächsten Tagen hatte die Schaffenskrise ihn wieder eingeholt. Das Mädchen war nicht mehr aufgetaucht. Sie war wohl seine Muse gewesen. Ihre stille Anwesenheit hatte seine Phantasie beflügelt; sie war Teil des Gartens geworden. Um sich irgendwie zu beschäftigen, fing er an, den Garten von seinem Unkraut zu befreien. Als er sich den Rhododendrensträuchern näherte, fiel ihm ein kleiner Hügel auf, der mit wilden Blumen übersät war. Ein Fuchs oder Marder musste letzte Nacht daran gegraben haben, denn aus einer kleinen Vertiefung lugte etwas Buntes. Horst konnte nicht erkennen, was es war und so zog er daran. Es war ein Stofffetzen. Durch das Ziehen hatte sich die Erde gelockert und zum Vorschein kam etwas, das aussah wie ein kleiner Knochen. Anscheinend war hier der Hund begraben worden, aber was machte der Rest eines Kinderkleides bei der Tierleiche? Er holte seinen Spaten aus dem Schuppen und begann zu graben. Vor ein paar Tagen hatte es geregnet und so war das Ganze kein schweres Unterfangen. Nach längerem Herumstochern kam ein kleines Skelett zutage, das nicht aussah, wie das Knochengerüst eine Hundes. Er wusste nicht, was er davon halten sollte. Eigentlich ging ihn alles nichts an, aber zur Sicherheit wollte er mit Frau Ludwig darüber reden.
Die war in heller Aufregung. "Wir müssen sofort die Polizei einschalten."
"Waaas? Man wird uns für verrückt halten. Außerdem vergessen Sie, dass ich widerrechtlich diesen fremden Garten benütze. Und überhaupt, was soll da schon vergraben sein. Vielleicht hatten sie einen kleinen Hund, der ihnen verendet ist und den sie, des Kindes wegen, in ein Tuch gewickelt haben."
Doch Frau Ludwig ließ seine Einwände nicht gelten. So fuhr einige Zeit später ein Polizeiwagen mit zwei Streifenbeamten vor. Er musste ihnen die Stelle zeigen, wo er das kleine Skelett gefunden hatte. Nachdem sie sich leise miteinander unterhalten hatten, gingen sie wieder, nicht ohne vorher den Garten zuzunageln. Das hatte er nun von seiner Schwatzhaftigkeit. Hätte er bloß nichts gesagt. Sie hatten ihm sein kleines Paradies genommen. Kurze Zeit später wurde das Skelett weggebracht: Um jeden Zweifel auszuschließen, sollte es einer Autopsie unterzogen werden.
Es mochte ein Monat seit dem Auffinden der kleinen Leiche vergangen sein, da stürmte Frau Ludwig - gleich nachdem sie die Haustür aufgeschlossen hatte - in sein Arbeitszimmer und posaunte aufgeregt: "Es ist Amina, die sie gefunden haben. Ich habe es ja gleich gesagt", fügte sie triumphierend hinzu.
"Wer ist Amina?" Horst sah erstaunt von seiner Schreibmaschine hoch.
"Na, das kleine Mädchen, das hier gelebt hat. Ich habe Ihnen doch davon erzählt. Wie es scheint, ist sie erschlagen worden. Nun suchen sie die Eltern und die sind unauffindbar." Bevor Horst etwas einwerfen konnte, fuhr sie fort: "Überall wurde damals nach ihr gesucht: Im Wald - in den nächsten Ortschaften - hier im Dorf haben sie jeden Stein umgedreht. Niemand dachte aber daran, im Haus und im Garten selbst nachzusehen. Niemand hatte etwas gesehen oder gehört. Auch ihr Vermieter konnte diesbezüglich nicht viel sagen. Er pflegte keinen Kontakt zu seinen Nachbarn. Nur einmal hatte er mir gegenüber erwähnt, dass er froh sei, keine eigenen Kinder zu haben, denn das Mädchen sei eine richtige Heulsuse. Er höre sie immer weinen, hauptsächlich in der Nacht. Sonst aber war niemanden etwas aufgefallen. Was ja nicht verwunderlich ist, denn das Haus steht ziemlich abseits."
"Sind Sie sicher, dass es das kleine, verschwundene Mädchen ist, was ich da ausgegraben habe?" Ihn schauderte. Frau Ludwig nickte heftig. Horst musste an die vielen Male denken, als er in der Nacht ein Kind weinen hörte. Und das kleine Mädchen im Garten, war das ein Trugbild gewesen?
"Wie sah Amina denn aus?" Fragend sah er Frau Ludwig an.
"Sie war ein schmächtiges, blondes Kind von ungefähr sechs Jahren mit großen Augen, die immer traurig blickten. Ich sah sie stets alleine spielen. Armes Ding!", fügte sie gefühlvoll hinzu.
Horst drehte sich nachdenklich seiner Schreibmaschine zu und fuhr fort, seine Gedanken einzutippen. Dabei musste er an das kleine Mädchen denken. Hoffentlich hatte Amina endlich ihre Ruhe gefunden.
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KaiM

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