Zu diesem Zeitpunkt drehte sich Ben im Wald um und begann zurück zur Hütte zu rennen. Luisa war noch damit beschäftigt sich in ihrem Unterwasserverlies umzusehen. Auch alle anderen, die bisher an ihre Stationen gebracht wurden, befassten sich mit ihrem direkten Umfeld und der Frage, wie es weitergehen sollte. Die andere Hälfte der Gruppe stand noch immer auf der kleinen Plattform und diskutierte, wer als nächstes in die Gondel steigen sollte. Eine echte Diskussion entstand gar nicht erst, da es keinen wirklichen Plan gab. Kilian fasste sich ein Herz und bat darum, als nächster in die Gondel einsteigen zu dürfen.
Da es keinen Grund gab, welcher dagegengesprochen hätte, gewährte Jasmin Kilian den Wunsch und half ihm in die Gondel. Er machte es sich soweit bequem, wie er konnte, und sagte dann an Jasmin gerichtet: „Ich hoffe, wir sehen uns wieder. Drückt mir die Daumen, dass ich zu den anderen gebracht werde.“ Dieser reife Gedanke lies Jasmin kurz erschauern. Sie strich Kilian durch die Haare und ermutigte ihn. „Du bist ein großer Junge und hast dich bis hierhin gut geschlagen. Egal was am Ende der Schienen auf dich wartet, du schaffst das. Und irgendwie bin ich mir sicher, dass du nicht allein sein wirst. Wirst schon sehen, alles wird gut.“
Sie hoffte, diese Aussage mit einem entsprechend selbstbewussten und überzeugten Ausdruck in ihrem Gesicht zu unterstreichen. Allerdings enttarnte Kilian sie umgehend. „Danke, dass du es versuchst, mir Mut zu zureden. Adrian und Marcel passen auf dich auf. Hab keine Angst.“ Adrian stellte sich neben Jasmin und beugte sich ein Stück zu Kilian in die Gondel. Jede Bewegung, verriet den Schmerz, den Adrian in der Nase spüren musste, aber er riss sich bemerkenswert zusammen. „Kilian, wenn uns jemand etwas antun wollte, hätte es bereits viele Gelegenheiten gegeben.
Diese Gondel bringt dich an einen sicheren Ort, an dem die anderen auch sein werden. Vielleicht nicht alle, vielleicht gibt es mehrere Punkte, aber alleine wird keiner von uns weitermachen müssen. Ich verspreche dir, dass du keine Angst haben musst.“ Dann ertönte das mittlerweile bekannte „Tack“ und Jasmin und Adrian traten einen Schritt zurück. Jasmin fand es bewundernswert, wie Kilian für den Moment seine Angst beherrschen konnte. Aus der Luft betrachtet hätte man sehen können, wie Kilian und Ben sich aufeinander zu bewegten. Kilian erreichte die Hütte als Erster mit großem zeitlichem Abstand. Er stieg
aus der Gondel aus und bemerkte zuerst das Podest mit der Schaltvorrichtung. Die Hütte war groß genug, die Gondel aufzunehmen und bot weiter genug Raum, sich neben der Gondel zu bewegen. Die Schienen führten durch die Hütte durch und auf der anderen Seite wieder raus. Kilian wunderte sich nicht darüber, dass er nicht weitergefahren wurde. Für ihn war das wie U-Bahn fahren. Man sieht den Fahrer nicht, aber man hält an bestimmten Punkten. Da die Gondel hielt, war er überzeugt, dass sie für ihn gehalten hatte und stieg aus. Er hatte das Podest gerade erreicht und begonnen die ersten Symbole darauf genauer anzusehen, da setzte sich die Gondel erneut in Bewegung und rauschte
zurück in die Richtung, aus der er mit der Gondel gebracht worden war. Da er niemanden sonst in der Hütte sehen oder hören konnte beschlich Kilian nun doch das Gefühl einen Fehler gemacht zu haben. Er bekam es jetzt mit einer der ultimativen Urängste zu tun. Allein und hilflos im nirgendwo zu sein. Der eigentlich große Raum begann sich Seite für Seite auf ihn zuzubewegen. Das Dach senkte sich und der Boden quoll hoch. Die Schienen bliesen sich auf und sein Raum, sein Platz wurde von allem anderen in dieser Hütte beansprucht. Raus, er musste raus und den Himmel sehen. Also rannte er so schnell er konnte. Er zwängte sich unter den Schienen durch, das
ging bei seiner Größe schneller als drüber zu klettern. Dann stand er wieder auf und rannte auf die Tür zu. Der Druck in der Hütte musste zugenommen haben, seine Lungen erlaubten ihm keine tiefen Atemzüge mehr. Sein Hals verengte sich mit jedem Schritt und obwohl die gesamte Hütte im Schrumpfen begriffen war, wurde der Weg zur rettenden Tür immer länger. Jeder Schritt nach vorne fühlte sich an, wie auf einem Laufband, welches sich schneller bewegt als man selber. Man rennt und rennt und bewegt sich trotzdem eher rückwärts. Nun paarte sich seine Angst auch noch mit Panik. Er hatte gerade einmal den halben Raum durchquert, da lief ihm schon der Schweiß den Hals herunter. Druck lag auf seinen Ohren und hoffte so sehr, dass
draußen vor der Tür die anderen auf ihn warteten. Ausgekämpft und schweißgebadet erreichte Kilian die Tür und stolperte die Holzstufen raus ins Freie. Augenblicklich beruhigte er sich wieder ein wenig. Jetzt da die Wände und die Decke sich nicht mehr um ihn zuschnürten konnte er auch wieder besser atmen. Er ließ sich rücklings ins nasse Gras fallen und starrte einfach nur in den Himmel. Die friedlichen Wolken strichen langsam wie in Zeitlupe vor dem blauen Hintergrund. Sein Herz reduzierte die Taktzahl und das Pochen in seinen Schlagadern lies kontinuierlich nach. Nur das Dröhnen in seinen Ohren, das war unablässig
vorhanden. Kilian setzte sich auf und blickte um sich herum. Keine Spur von irgendjemandem. Adrian hatte ihm versprochen, nicht alleine weiter zu müssen. Nun saß er aber hier, mutterseelenalleine. Allein, nach seiner ersten Panikattacke. Allein, ohne Anleitung und Kontaktmöglichkeiten zu irgendjemandem. Allein, ohne Eltern, ohne andere Erwachsene. Sein ganzes bisheriges Leben wurde ihm gesagt, wo es langging, wann er aufstehen, wann in die Schule gehen musste. Wann er abends ins Bett muss und was es zu essen gab. Er hatte keine schweren Entscheidungen selber zu treffen. Woher sollte er wissen, was
hier und jetzt tun war? Er wusste es nicht, und diese Tatsache war ihm allerdings sehr bewusst. Sein Verstand begriff in welcher Situation er sich gerade befand, seine Psyche konnte damit allerdings nur sehr behäbig umgehen. Der Junge fing an fürchterlich zu weinen. Sein zarter Körper zitterte, während unermessliche Mengen an salzigen Tränen aus den leicht geröteten Augen quollen und ihre Bahnen auf Kilians Wangen abliefen. Das herzzerreißende Zittern des Unterkiefers schüttelte alle sich am Kinn ansammelnden Tropfen auf sein Shirt und in das lange Gras auf dem er saß. Seine von seelischem Schmerz gezeichneten Augen suchten vergebens nach Hilfe und fanden nur ein Ufer, eine Lichtung und Wald… und die
Hütte. Zur gleichen Zeit zurück an der Klippe lief die Gondel wieder ein und der verbliebene Rest hatte vereinbart, die beiden Mädchen gemeinsam in die Gondel zu setzen. Es waren schließlich Schwestern und Adrian war sich seiner Notlüge Kilian gegenüber durchaus bewusst. Er wusste nicht, ob am Ende von Kilians Fahrt jemand wartete. Der Junge würde ihm das hoffentlich irgendwie verzeihen können, falls sie sich überhaupt wiedersehen würden. Die Mädchen passten relativ gut zu zweit in die Gondel und waren vor Angst und Aufregung schon lange nicht mehr ansprechbar. Die Vernunft hatte gesagt, trenn die beiden
und lasst jeweils eine mit einem Erwachsenen fahren. Dagegen hatten sich allerdings beide Schwestern strikt ausgesprochen. Keine würde ohne die andere irgendwo hingehen. Von hier mussten sie aber weg, die Plattform stand mittlerweile fast auf einer Höhe mit der Klippe, das wiederum bedeutete, dass das Wasser keine zwei Meter mehr vom Rand der Klippe entfernt gewesen ist. Kurzerhand hat man dem Willen der Mädchen nachgegeben und sie in die Gondel gesteckt. Sie waren bereits außer Sichtweite als die Plattform die Kante der Klippe unaufhaltsam erreichte. Jasmin holte Adrian und Marcel aus ihren Gedanken: „Wollen wir Streichhölzer ziehen?“, sie lachte
müde über ihren eigenen Scherz. „Wir sind uns doch im Klaren, dass die nächste Fahrt die letzte sein wird? Danach wird es kein Plateau mehr geben, auf welchem wir auf die Gondel warten können.“ Marcel wirkte auf einmal sehr alt und verbraucht. Seine Haut schimmerte blass und seine Augen blickten trübe ins Nichts. Jasmin überlegte fieberhaft, ob sich mit den Ästen der Bäume und Büsche um sie herum etwas basteln lies. Adrian zerbrach sich den Kopf mit Überlegungen, wie alle drei doch die Gondel passen würden. Mit sieben Promille hatten es Teile der Menschheit geschafft, bis zu zwölf Personen in Telefonzellen zu stopfen, da würden doch drei Personen keine echte Herausforderung darstellen. Marcels
Reset-Knopf wurde gerade anhaltend gedrückt. Weder Jasmin noch Adrian bemerkten die Leere in Marcels Blick, beide waren viel zu sehr damit beschäftigt ihre Gedankenspiele auf Belastbarkeit zu prüfen. Beinahe zeitgleich hoben Jasmin und Adrian die Köpfe und schauten sich mit aufgerissenen Augen an. „Ich hab’s!“ Der Aufschrei der beiden riss Marcel aus seiner Blase. Jasmin und Adrian unterhielten sich bereits angeregt über die gegenseitigen Erkenntnisse und Pläne. Die Euphorie in ihren Gesichtern ließen Marcel schlagartig wieder Mut fassen. Er stellte seinen Stolz beiseite, machte deutlich, dass er keine eigenen Ideen hatte. „Ich mache alles, was ihr mir sagt. Bitte, ich
will einfach nur weg von hier.“ Wenn er schon nicht den kreativen Rettungsansatz beisteuern konnte, wollte er doch zumindest ein Teil der Umsetzung werden. Und er wollte auf keinen Fall elendig auf diesem Plateau ertrinken. Kilian wog trotz seines aufgewühlten Zustandes recht sachlich ab, welche Optionen er momentan hatte. Die Hütte bot erstmal grundsätzlich Schutz und die Möglichkeit sich zu verstecken. Er nahm all seinen verbliebenen Mut zusammen und machte sich auf den Weg zurück zur Hütte. Je näher er der Hütte kam, desto leiser wurde auch das Dröhnen in seinen Ohren. Beim Durchqueren der Türe verstummte es sogar gänzlich. Die Wände bewegten sich diesmal keinen
Millimeter und auch sonst blieb alles ruhig im Inneren. Unsicher, was genau er in der Hütte machen sollte suchte er sich eine Ecke, die weit genug von den Schienen entfernt war, um nicht von der Gondel erwischt zu werden, wenn sie wiederkommen sollte. Er hoffte so sehr, dass sie wiederkommt und irgendjemanden hierherbringen würde. So saß er eine ganze Weile da, mit laufender Nase und nicht versiegen wollendem Tränenfluss. Erst als er ein Knarren der Holzstufen hörte, erstarrte er aus Angst. Ein pechschwarzer Schatten drängte sich schnaubend und grunzend durch die Tür. Kilians Augen weiteten sich. Die kleinen Haare auf seinen Armen stellten sich auf und sein gesamter Körper schrie: LAUF WEG. Kilian konnte
sehen, wie der Kopf sich langsam drehte. Wo sollte er hinrennen? Der einzige Ausweg war versperrt. Die Schienen verhinderten ein schnelles Entkommen durch die anderen Öffnungen der Hütte. Kilian versteinerte und betete, dass er im Dunkel der Hütte nicht zu erkennen war. Als der schnaufende Schatten seinen Kopf einmal von der rechten Ecke der Hütte zu Kilian herüber gemacht hatte, hielt der Schatten in seiner Bewegung abrupt inne. „Hallo, … Kleiner“