Alles ging so schnell. Der Sprint, der Schlag, der Verlust des Gleichgewichtes. Jasmin spürte noch, wie ihre Schlagwaffe auf etwas Hartes traf und war sich sicher, dass es der Kopf gewesen sein musste. Ihre fehlende Kampferfahrung ehrte zwar diesen mutigen Sturm, forderte aber umgehend auch seinen Tribut. Jasmin unterschätzte ihre Geschwindigkeit und das physikalische Zusammenspiel aus Bewegungsrichtung und Geschwindigkeit.
Ihr Schwung war kraftvoll, sie holte von weit hinter ihrem Rücken aus und wollte dem Angreifer aus der Kapsel auf die Schläfe schlagen. Das hatte sie noch in Erinnerung
aus irgendwelchen Action-Filmen. Immer schön mit Schmackes auf die Schläfe, knipst sofort die Beleuchtung aus. Sie holte also noch aus, während sie auf die Kante zu rannte und begann auch den Schlag noch bevor sie zum Stehen gekommen war. Das Ergebnis war, dass die Summe aus Anlauf, Drehkraft und der Kraftübertragung über den Schlagstock beim Auftreffen, Jasmin sich am Ende selber über die Kante katapultierte. Verblüfft begriff sie im ersten Moment gar nicht, was da gerade mit ihr passierte. Durch die Drehung beim Schlag fiel sie mit dem Rücken voran, sodass sie in der Kürze der Zeit nicht erkennen konnte, dass sie statt direkt ins Wasser zu fallen, noch die Kante der Plattform mitnehmen würde.
Sie schlug hart mit dem Kopf auf der Kante der Holzplanken auf, während ihr restlicher Körper der Schwerkraft folgend weiter ins Wasser flog. Der Effekt war vergleichbar mit einem heftigen Schlag einer Keule auf den Hinterkopf. Nicht einmal das eiskalte Wasser konnte die Ohnmacht verhindern. Noch bevor Jasmins Kleidung vollständig mit Wasser vollgesogen war, wurde ihr schwarz vor Augen. Sie trieb in der „Toter Mann“-haltung an der Oberfläche, aber es war nur eine Frage der Zeit, bis ihre nassen Kleider sie unter die Wasseroberfläche ziehen würden. Ihre Schlagwaffe trieb langsam aus ihrer kraftlos geöffneten Hand und dümpelte mit jeder Welle von ihr fort. Ihre fehlende Körperspannung
bedingte, dass ihr Körper sich bereits in einem immer steiler werdenden Winkel unter der Wasseroberfläche bewegte. Ihr Stock wurde gegriffen und mit der vordersten Spitze wurde Jasmin zur Plattform hingezogen. Kräftige Hände griffen nach ihr, gruben sich tief in ihre nasse Kleidung. Fingerspitzen gruben sich grob in ihre Arme und zogen. Jasmin spürte davon nichts.
„Hey Jasmin! Aufwachen“, eine laute Männerstimme drang wie durch Watte gedämpft in ihr Bewusstsein ein. „Jasmin!“. Eine zögerliche Ohrfeige schnalzte auf ihrer Wange. Raue Finger rissen eines ihrer Augenlieder hastig auf. Ein riesiges
blaues Auge starrte mitten in ihre Pupille, welche sich reflexartig bei dem plötzlichen Lichteinfall zusammenzog. „Ok, die Pupillen reagieren schon mal. Sie atmet ohne gurgelnde Geräusche, also hat sich auch kein Wasser in den Lungen. Wenn sie Pech hat, hat sie was verschluckt aber das kann in der kurzen Zeit im Wasser nicht viel gewesen sein.“ „Sollten wir ihr nicht die nassen Sachen ausziehen“ fragte eine andere Stimme zögerlich. „Wirklich warm ist es nicht, aber sie scheint nicht in Lebensgefahr zu sein. Ich bin mir ehrlich gesagt auch unsicher. Eigentlich ja, wir sollten zumindest die oberste Schicht ausziehen, um eine Unterkühlung bestmöglich
vorzubeugen.“ „Hose zuerst?“ „Ja, ich denke das ist der einfachere Part.“ Marcel beugte sich schüchtern über Jasmin und versuchte umständlich den Knopf der enganliegenden und jetzt nassen Hose durch sein Loch zu drücken. „Was zum Henker machst du da?“, krächzte Jasmin kraftlos hervor. „Finger weg du perverses …“ „Beruhige dich, wir wollen nur helfen“, versuchte Marcel ungelenk die Situation zu erklären. „Ich helf‘ DIR gleich, wenn du nicht sofort deine Lustgriffel da wegnimmst!“ Marcel hatte tatsächlich noch immer die Fingerspitzen einer Hand auf der Innenseite
von Jasmins Hosenbund. Schnell zog er sie raus und nahm ein paar Schritte Abstand. Jetzt erkannt Jasmin auch die andere Person. Ok, die Schläfe hat sie wohl um eine gute Handbreit verpasst und stattdessen Adrians Nase in eine interessante neue Stellung gebracht. Aus seinen Nasenlöchern lief karminrot leuchtendes und glänzendes Blut und irgendwie machte er einen wenig stabilen Eindruck. Er wankte leicht und suchte die Nähe der Klippenkante. Die Kinder standen direkt über ihm. Alle wieder vereint, dachte Jasmin und richtete ihr Wort an Adrian. „Das mit deiner Nase, sorry man.“ „Schon ok, ich…“ „Ich hätte dir die ganze Birne zu Brei schlagen sollen du dämlicher Wichser. Und jetzt? Nicht
geglückte Flucht? Der einzige der zu doof ist sich von einer ferngesteuerten Kapsel chauffieren zu lassen?“ „Sauer. Ok, das verstehe ich“, Adrians Stimme klang extrem nasal. Das Innere seiner Nase musste komplett zugeschwollen sein. Jedes Wort aus seinem Mund wurde von einer Welle grellen Schmerzens begleitet. Man brauchte keine Vorstellungskraft dazu, sein Gesicht spiegelte den Schmerz überdeutlich. „Ich hatte nicht vor Euch allein zu lassen. Warte bevor du mich unterbrichst. Ja es sah vielleicht so aus. Ich hätte es vielleicht erklären sollen, aber ich war selber unsicher und ihr hättet es mir vermutlich sofort ausgeredet. Am Ende habe ich uns nur Zeit gespart. Ich wollte mehr über dieses Ding hier
erfahren. Ich hatte die Hoffnung, das System zu verstehen. Ich hatte die Hoffnung, an der nächsten Station etwas Hilfreiches zu finden. Ich wollte nur helfen, Euch beschützen.“ Adrian machte eine kurze Pause und sammelte seine Gedanken. Der Schlag mitten ins Gesicht hat ihn ordentlich erwischt und er musste mit viel Kraft gegen den Schwindel ankämpfen. „Als ich tatsächlich an einer Station angekommen bin, stieg ich kurz aus und sah mich um. Ich habe mich nie weit von der Gondel entfernt. Es war niemand da. Das bedeutet, die Gondel fährt tatsächlich jeden zu einem anderen Ziel. Ich möchte sogar wetten, wenn ich jetzt nochmal einsteige, fährt sie nicht mehr an die Station von gerade eben.
Ich denke aber auch, wir können die Gondel überlisten und zu zweit darin fahren. Dann wären wir übriggebliebenen schon mal nicht allein, da wo uns die Gondel hinbringt. Sie scheint stabil genug dafür zu sein, wenngleich es für die Fahrt wohl ziemlich eng werden wird. Ich habe an der Station ein kleines Pult gefunden. Da waren komische leuchtende Striche drauf und ein Knopf, ein Hebel und irgendwelche Symbole. Ich konnte damit nichts anfangen. Ich habe mich weiter umgesehen, es wirkte, als sei ich irgendwo am Rande eines Urwaldes. Felsen, hoch gewachsene Bäume, riesige Büsche. Die Station war auf einer leichten Anhöhe, ich konnte auch auf eine große Lichtung blicken, oder ein Plateau, wie auch immer. Dann
entriegelte die Kapsel wieder und begann aus der Station zu manövrieren. Ich habe nicht mehr nachgedacht, nur noch reagiert. Bevor die Gondel Geschwindigkeit aufnehmen konnte, bin ich einfach drauf gesprungen.“ Adrian musste kurz innehalten und zog tief aus dem Rachen Blutspeichel hoch, spuckte einen ekligen Klumpen ins Wasser und tastete vorsichtig seine Nase ab. Als er das Nasenbein zaghaft berührte, zuckte er zusammen wodurch das Blut wieder begann aus seiner Nase zu laufen. „Weiß jemand, wie man das stillt? Hab‘ mir die scheiß Nase beim Sprung auf die Gondel gebrochen. Ich konnte mich nicht richtig festhalten und bin erstmal kräftig abgerutscht.
Dabei bin ich offensichtlich ziemlich unglücklich mit dem Gesicht aufgeschlagen. Ich habe dann doch irgendwo Halt gefunden und mich mühsam Stück für Stück an der Gondelaussenseite entlang zur Luke gearbeitet.“ Adrian blickte respektvoll zur geparkten Kapsel bevor er weitersprach. „Gar nicht so einfach, wenn alles mit schmierigem Blut voll ist. Ich dachte schon, das war‘s, hier im Meer mitten im Nirgendwo gibt Adrian seine letzte Vorstellung. Ich weiß nicht wie, aber mit meinen letzten Reserven bin ich dann irgendwie noch in die Gondel gekommen, bevor sie volle Fahrt erreichte. Danach hätte ich mich nicht mehr halten können.“ Jasmin sortierte die gerade aufgenommenen
Informationen für sich. „Also habe nicht ich dir die Nase gebrochen?“, fragte sie mit mehr Überraschung in der Stimme als beabsichtigt. Jasmin begann ihren Zorn auf Adrian zu reduzieren, er hatte sich tatsächlich in Gefahr für die Gruppe gebracht. Irgendwie hatte das sogar seinen Reiz. Keiner der anderen kam zurück, um Informationen mit der Gruppe zu teilen. Alle anderen sind egoistisch alleine losgezogen und versuchten ihr Glück ohne die anderen. „Himmel nein, die Nase habe ich mir selber gebrochen. Ich lass mir doch nicht von einem kleinen Mädchen die Nase brechen. Wie peinlich wäre das denn?“ Sein spöttisches Prusten verwandelte sich adhoc in ein gurgelndes, schmerzvolles Jaulen. Jasmin
dachte sich nur, wie schön es doch sei, dass die kleinen Sünden tatsächlich schnell gesühnt werden. Auch wenn er seine Machoart etwas übertrieb, zu sehen, wie er dem Schmerz der gebrochenen Nase ausgesetzt war, weckte Jasmins Mutterinstinkt. „Zieh einen Schuh aus, gib mir eine Socke“, forderte Jasmin Adrian auf. Sowohl dieser wie auch Marcel glotzten sie irritiert an. „Was willst du mit meinen Socken?“ schon fast protestierend streifte sich Adrian einen Schuh ab und rollte eine seiner stylischen Tennissocken ab. Jasmin nahm diese wie selbstverständlich und tränkte sie im Wasser. Sie musste sich dazu nicht mehr weit von der Plattform runterbeugen. Das Wasser stand
immer höher. Es würde nicht mehr lange dauern, bis die Plattform auf dem Niveau der Klippe wäre. Sie presste das überschüssige Wasser aus der dicken Socke und warnte Adrian „Könnte ein wenig weh tun. Trag’s wie ein Mann.“ Mit diesen Worten säuberte sie Adrians Gesicht grob vom Großteil des Blutes. „Jetzt kommt der spannende Teil. Setz dich da hin und lehn deinen Kopf und Rücken fest an die Steinwand.“ Sie nahm die Socke, wusch sie nochmal im Wasser aus und wrang mit aller Kraft alles an Wasser raus, was möglich war. Sie drehte und faltete die Socke in einer Art, sodass sich ein recht fester Klotz ergab.
Glücklich mit dem harten Ergebnis in ihrer Hand wand sie sich wieder Adrian zu. Sie sah sich die Nase genau von allen Seiten an. Sie traute sich nicht die Bruchstelle anzufassen, also mutmaßte sie wie der Bruch verlief. Am Ende änderte das nichts, ohne Röntgenbild war das sowieso nur ein Ratespiel. Ähnlich wie Schiffe versenken. Man setzt einen Schuss und hofft die richtige Lücke zu treffen. Sie kaute kurz auf ihrer Unterlippe, überlegt noch einmal scharf. Nach einem letzten prüfenden Blick auf den Nasenrücken schaute sie Adrian tief in die Augen. Dann griff sie mit der einen Hand beherzt um seinen Kopf und presste von vorne den nassen Sockenklotz seitlich an die Nase. „Kennst doch sicherlich: Wer schön sein
will…“ und noch bevor Adrian protestieren konnte, rastete das Nasenbein mit einem lauten Knacken zurück in seine ursprüngliche Position.