Die frische Brise trieb Gina lange, feuchte Strähnen in die Augen. Ihr geöffneter weißer Kimono schlackerte um ihre Beine. Das ehemals elegante Kleid darunter war zerrissen. Die Arme in die Seiten gestemmt, stand sie weit vorne am Strand, dort wo die Brandung im Sand auslief. Ihre Füße sanken mit jeder sanft anrollenden Welle ein bisschen weiter in den Schlick, aber das schien sie gar nicht zu bemerken. Sie bewegte sich nicht. Starrte nur auf das sich endlos vor ihr ausbreitende Meer. Soweit sie blicken konnte nur Wasser, Wasser und noch mehr Wasser.
Die Sonne hatte sich vorübergehend hinter ein paar Wolken versteckt, was ihr
mehr als Recht war.
Unter anderen Umständen war es hier durchaus schön. Weißer Sandstrand und keine lärmenden Touristenscharen.
Doch genau das, war auch ihr momentanes Problem. Gina saß hier nämlich unfreiwillig und vollkommen alleine fest.
Ihren diesjährigen Urlaub hatte sie schon seit langer Zeit genau geplant. Sie hatte von Erholung geträumt, bei der sie ihre “Seele baumeln lassen” würde. Im warmen Sand liegen und in der Sonne braten, inmitten eines südamerikanischen Tropenparadieses.
Auf einer Sonnenliege einen
Liebesroman lesen und dabei an einer fruchtigen Caipirinha nippen, die ihr einer dieser braungebrannten und gut aussehenden Kellner bringen würde. Und alles würde nach Sonnenmilch und Meer riechen, nach Sommerferien und Freiheit.
Aber stattdessen stand Gina nun hier.
Mitten im Nirgendwo, auf dieser gottverdammten Insel.
Hier gab es wahrhaftig nichts, außer einiger Kokospalmen, Buschwerk , Steinen und diesem Sandstrand, auf dem sie durch Zufall und mit einem halb aufgeblasenen Schlauchboot vor zwei Tagen gestrandet war.
Ihr Magen knurrte. Sie hatte Hunger.
Doch außer ein paar Kokosnüssen und Fischen, wenn man sie ohne jedes Hilfsmittel fangen konnte, gab es hier rein gar nichts. Das Inselchen war, abgesehen von ein paar Vögeln, vollkommen unbewohnt.
Gina strich sich mit verzweifelter Geste die wirren Haare aus dem Gesicht und seufzte. Was sollte sie jetzt bloß tun? Sie befreite ihre Füsse mit einem schmatzenden Geräusch aus dem nassen Sand und wandte sich zur Seite, um eine weitere Runde um die Insel zu drehen. Vielleicht hatten die Wellen ja noch irgendetwas Nützliches angeschwemmt.
Bis auf ein knallgelbes Gummitier, dass wohl vor langer Zeit mal zwischen ein paar Steinen hängengeblieben war und einer Menge Muscheln, fand sie nichts.
Jedenfalls nichts was ihr irgendwie nützlich sein konnte.
Laut fluchend schleuderte sie die kleine gelbe Gummi-Ente ins Wasser. Verzweiflung machte sich in ihr breit und auch Wut auf diese ganze schreckliche Situation.
Himmel war sie wütend! Ganz besonders auf Ernesto.
Ernesto mit seinen weiß blitzenden Zähnen, seinem unwiderstehlichen Charme, den schwarz gelockten Haaren und seinem immer hemdlosen,
muskulösen Oberkörper.
Ernesto der ihr das ganze Schlamassel hier eingebrockt hatte.
Er hatte ihr nämlich, in seinem akzentreichen Englisch, von dieser fantastischen Fahrt mit der Privatyacht des Bürgermeisters überhaupt erst erzählt .
"Er lädt einmal im Jahr eine kleine Gruppe von Touristen auf seine Yacht ein. Maximal zehn Leute zu einem exclusiven Moon-and-Candlelight-Dinner."
"Oh, aber da sind doch bestimmt schon alle Plätze vergeben?" Hatte sie zaghaft gefragt.
"Ja, eigentlich schon." Lautete seine
Antwort, wobei er sie jedoch so ungemein sexy angezwinkert hatte.
"Aber weißt du wo Ernesto auch noch arbeitet? Er arbeitet auf der Yacht! Und für meine ganz spezielle Freundin Gina, wird Ernesto ...ganz bestimmt noch einen Platz besorgen!" Dann hatten sie sich wild geküsst und Gina hatte keine weiteren Fragen mehr gestellt.
Schon drei Tage später hatte er ihr tatsächlich eines der begehrten Tickets für die Fahrt in die Hand gedrückt. Sie hatte ihr schönstes Kleid angezogen, das mit seinem tiefen Rückenausschnitt ihre Figur so richtig gut zur Geltung brachte und ihr einziges Paar Highheels die sie
mit in den Urlaub genommen hatte. Darüber noch den weißen Kimono, falls es sich etwas abkühlen würde.
Alle geladenen Gäste mussten zuerst mit einem Motorboot zu der, ein Stück weit vom Hafen entfernt ankernden Yacht, gebracht werden. Die Yacht war der Wahnsinn. Eines dieser ominösen, dreistöckigen Luxusdinger, erbaut für die Schönen und Reichen, zu denen Gina eigentlich nicht zählte. Gleichzeitig fragte sie sich, wie der Bürgermeister sich so etwas überhaupt leisten konnte. Doch dann zuckte sie innerlich mit den Schultern. Es ging sie nichts an und außerdem, einem geschenkten Gaul und
so...
Es hatte sich seltsam angefühlt bis zu dem für sie reservierten Tisch geleitet zu werden, auf dem sich eine Unmenge an edlem Geschirr und Gläsern befand, zusammen mit viel zuviel Besteck. Sie würde unzweifelhaft ihren "Pretty Woman" Moment bekommen und sich womöglich beim Öffnen eines Hummers blamieren.
Sie probierte sich zu beruhigen und hielt nach Ernesto Ausschau, den sie jedoch nirgendwo entdecken konnte. Sie beobachtete die anderen Leute, meist Pärchen, die sich an den Tischen verteilt hatten und leise tuschelten, hin und
wieder ein "Ahh" oder ein "Ohh" ausstießen, während sie sich staunend umsahen.
Die gut ausgebildeten Kellner brachten allen Gästen Eiskübel mit einer guten Flasche Champagner an den Tisch. Mit einem leichten "Plopp" wurden die Flaschen entkorkt und man schenkte Gina ihre erste Champagnertulpe ein. Es war ihr etwas unangenehm hier alleine an einem Tisch zu sitzen, deswegen kippte die goldfarbene Flüssigkeit fast in einem Zug hinunter und bat um mehr. Erst nach der dritten Tulpe, fühlte sie sich wohler und stand auf, um ein wenig umherzugehen. Sie stellte sich an die Reling und sah auf das im Mondlicht
glitzernde Gewässer, hob ihr Glas und prostete dem Meer zu.
Während alle aßen und tranken, fing die Yacht ihre kleine Rundfahrt an. Die Stimmen um Gina wurden etwas leiser und es spielte dezente Musik im Hintergrund.
Sie fühlte sich wunderbar leicht. Ihre Flasche war inzwischen geleert. Etwas unsicher auf den Beinen erhob sie sich und bemerkte, dass sie dringend auf Toilette musste. Sie wollte aber niemanden fragen und ging mit etwas unsicheren Schritten auf die Suche nach einer eindeutig beschilderten Tür.
Gina war sich nicht sicher, ob es am
Wellengang lag, der sich verändert hatte, oder ob sie einfach nur zuviel getrunken hatte. Sie musste sich überall festhalten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Schließlich fand sie die gesuchte Tür und betrat die luxuriöste Toilette die sie je gesehen hatte. Sie erleichterte sich gerade, als durch die Yacht ein kräftiger Ruck ging. Gina fiel nach vorne und knallte mit dem Gesicht voran auf den Boden . Mühselig rappelte sie sich auf und rieb sich die schmerzende Stirn. Das würde Morgen eine ziemlich Beule geben. Sie taumelte in Richtung Ausgang während der Boden unter ihren Füßen schwankte. Als sie die Toilettentür zum Gang hin öffnete, hörte sie laute Schreie.
Uniformierte Bedienstete hasteten an ihr vorbei, beinahe wurde sie dabei umgerannt.
Die nächsten Ereignisse waren in ihrem Kopf nur noch als ein wildes Gerenne abgespeichert. Sie lief kopflos durch die Korridore und schnappte Satzfetzen auf, Sachen wie: "ein verdammtes U-Boot hat uns gerammt", oder "Wir wurden von einem U-Boot torpediert". Aber das konnte doch gar nicht stimmen, oder?
Irgendwer drückte ihr plötzlich ein Paket in den Arm und schrie sie an. Befahl ihr, sie solle springen und dann an der roten Schnur ziehen. Sie ließ sich von anderen Leuten um sie her mitreißen, stolperte hin und wieder, bis sie irgendwann an
der Reling stand.
Sie sprang über Bord und zog panisch an der Schnur. Das Paket entpuppte sich als selbstaufblasendes Notfall Schlauchboot, in das Gina mit ihren letzten Kräften hineinkrabbelte.
Vollkommen erschöpft hatte sie sich im Boot in einer Ecke zusammengerollt und war irgendwann weinend eingeschlafen. Am nächsten Tag erwachte sie mit rasenden Kopfschmerzen von der stechenden Sonne. Sie stellte fest das sie irgendwo gestrandet war und dass das Schlauchboot nicht einmal prall mit Luft gefüllt war. Das sie mit dem Ding nicht doch ertrunken war, grenzte an ein Wunder. Und wo war sie hier bloß
gelandet? Gina hatte vor der Reise im Katalog über viele kleine unbewohnte Inseln gelesen. Es war nur eine Frage der Zeit bis Suchtrupps sie finden würden, sie würden bestimmt nach den Leuten die auf der Yacht gewesen waren suchen.
Oder vielleicht wurde die Insel auch von Fischern manchmal benutzt. Sie musste einfach nur abwarten und kräftig winken, wenn sich ein Boot näherte.
Es gab dabei nur ein wirklich großes Problem.
Trinkwasser, Fehlanzeige.
*********
Artikel der Zeitschrift "La Habanera", zwei Monate nach dem Anschlag auf die Luxusyacht "El Brigadier":
-Gestern in den frühen Morgenstunden machten zwei Fischer, auf der Isla cuadrado, eine grausige Entdeckung. José de la Sanchez und Manoel Castro Lopez
fanden dort in einem Seenot-Schlauchboot die sterblichen Überreste einer Frau.
Die Leiche wurde inzwischen in das Institut für Forensik der Hauptstadt überführt. Die genaue Identität ist noch nicht offiziell bekannt, doch handelt es sich dabei vermutlich um eine vermisste Passagierin, die sich an Bord der "El Brigadier" befand, als diese vor zwei Monaten von einem Torpedo getroffen wurde.
Der vermutlich als Vergeltungsschlag eines Drogenkartells ausgeführte Angriff, wurde noch immer nicht aufgeklärt. Die Ermittlungen laufen weiterhin.
***Meine Geschichte ist vollkommen fiktiv. Sie basiert allerdings auf einer wahren Geschichte, die sich einst auf
einer Burgruine am Rhein abgespielt hat.
Copyright Nina P.Camara, Juli 2019