Jules ging mit Flöckchen in einen der nahegelegenen Hundeparks. Sie brauchte jetzt irgendwelche Ablenkung, die sie möglichst keinen Gedanken an diesen seltsamen Vormittag verschwenden ließ. Glücklicherweise schienen mehrere Menschen auf eine ähnliche Idee gekommen zu sein und es ergab sich ein spielendes Rudel, was genug Beschäftigung bot. Leider wurde es irgendwann dunkel und sie ging zurück, machte sich eines der Omelettes warm und dachte nun doch über alles nach. Jack war, wie er selbst sagte, ein gut erzogener, altmodischer Gentleman, davon hatte sie sich selbst überzeugen können. Nicht einmal wurden seine Bewegungen ihr gegenüber aufdringlich oder respektlos. Klar, er hatte halbnackt unter dieser Decke dort gelegen und als sie die
Massage beginnen wollte, grinste er sie spielerisch zweideutig an. Seine Berührungen aber waren allesamt nahezu züchtig, er immer zuvorkommend und höflich. Gestern Abend hatte sie so viel gelacht, wie schon lange nicht mehr und sich sehr wohl gefühlt. Eigentlich sagte ihr Bauchgefühl nichts schlechtes über ihn. Allerdings waren da auch immer noch diese Zweifel und das Misstrauen, welches ihr eingetrichtert worden war. Die junge Frau beschloss sich noch weiter abzulenken und rief ihre beste Freundin Bianca an. Bald war die Benefizveranstaltung des örtlichen Tierschutzes. Eine Spendengala, finanziert von einer gut begüterte Gönnerin, die sich auf ihrem eigenen Anwesen einen kleinen Zoo aus Katzen, Hunden und Schweinen hielt. Alljährlich lud die Grand Dame zu dieser Veranstaltung ein, damit
sich ihre Freunde und Bekannten gegenseitig auf die Schulter klopfen konnten, zu deren großzügigen Beiträgen für das Wohl der Tiere. Als Repräsentant des Tierschutzes und des Tierheimes war Charlie jedes Mal eingeladen und war natürlich niemals dort hin gegangen. Immer wieder schickte er Jules unter dem Vorwand, dass sie als Naturschönheit viel besser hinein passte, als ein zerknitterter alter Mann. Zudem würde sie vielleicht einem charmanten, jungen Mann auffallen? Bianca engagierte sich direkt im Tierheim und erhielt ebenfalls des Öfteren eine Einladung. Trotz der Geldmittel für die Gala wurden immer freiwillige Helfer für die Organisation und Dekoration gesucht, wo sich Bianca und Jules selbstverständlich einbrachten. Beide waren dem Ausschuss für die Dekoration zugeteilt. Über die Ausstattung für die Tische war man sich noch nicht ganz einig und schon seit längerem wollte sie einige Ideen dazu zu
entwickeln. Heiterkeit durchdrang die etwas raue Stimme von Bianca, ihre Freundin war von einem ausgeprägt offenen und fröhlichen Gemüt, herzlich und jedermann war schnell von ihr eingenommen. Beide kannten sich noch von der Highschool und auch, wenn Bianca zwischenzeitlich an einem College, relativ weit entfernt, angenommen wurde und lange weg war, hielt die Freundschaft. Bianca bemerkte, dass ihre Beste sich nicht auf das Gespräch konzentrieren konnte. „Ist irgendwas, Jules? Du wirkst so abwesend.“ „Nein, alles ist gut“, erwiderte sie. Noch wollte sie sich nicht alles vor ihrer Freundin preis geben. Wahrscheinlich würde sie jede Einzelheit wissen wollen und mit guten Ratschlägen aufwarten. Dazu hatte sie keine Lust, weil sie sich selbst so unsicher mit allem
fühlte. Darüber hinaus war dies einer der wenigen Momente, in denen die gute Laune von Bianca auf Jules nicht übersprang. Es war also wirklich ernst. „Ich bin nur etwas müde. Vielleicht war es kein guter Gedanke, das jetzt besprechen zu wollen. Tut mir leid.“ „Ist schon in Ordnung.“ Die Frau an der anderen Seite der Leitung spürte, dass sie nur eine Ausrede hörte, respektierte jedoch Jules' Entscheidung. Zusammengesunken saß sie den ganzen Nachmittag, Abend und die halbe Nacht auf dem Sofa und grübelte wieder über ihr aktuelles Dilemma nach, wägte Für und Wider ab. Letztendlich stupste Flöckchen sie an, Jules hatte seine Fütterung vergessen. Als sie endlich im Bett lag, sah sie Jacks Gesicht vor sich. Es ist eh egal, dachte sie, im Endeffekt ist es schon zu spät. Genieße das Gefühl, altes Mädchen und hör auf, dich zu quälen. Wer weiß, wann ihr
wieder so ein Mann begegnete und vielleicht war Fortuna dieses Mal auf ihrer Seite. Mit dieser getroffenen Entscheidung, kuschelte sie sich beruhigt in die Ersatzdecke und sog den Duft von McAllister tief in sich ein. Gut gelaunt kam Jack am Sonntagmorgen um die Ecke gelaufen, Jules und Flöckchen kamen auch gerade an. Erfreut lächelte sie ihm entgegen und er meinte ihre Augen blitzen gesehen zu haben. Sein Herz machte einen Hüpfer, dann waren da auf einmal auch diese verdammte Schmetterlinge und um alles perfekt zu machen, krabbelten Feuerarmeisen über jede Stelle, die sie gestern berührte. Jack wusste, jetzt war er verloren. Jeder Vorsatz, jedes Versprechen, jede Ehre warf er gerade für diese Frau über Bord. Doch ein Risiko durfte er nicht eingehen, seine Gefühle würde er für sich behalten, es war einfach nicht möglich.
„Guten Morgen“, rief sie ihm entgegen, „wie geht es dir? Ist dein Kopfweh besser?“ „Das war schon wieder in bester Ordnung, als ich gestern so plötzlich gehen musste“, antwortete er fröhlich. Er war eindeutig verloren, jedes Wort von ihr brachte ihn näher an eine fast lächerliche Euphorie. 'Sie freute sich, mich zu sehen', war alles, was ihm für eine ganze Weile durch den Kopf ging. Nachdem sie schwitzend ihre Runde beendeten, wagte er einen neuen Vorstoß. Zwar durfte er seine Gefühle für sie nicht offen zeigen und ihr schon gar nicht anvertrauen, aber niemand konnte ihn davon abhalten, so viel Zeit wie möglich mit ihr zu verbringen. „Wann hast du morgen Feierabend?“, fragte er deshalb. „So wie immer gegen sieben. Warum?“ „Ich sagte doch, ich möchte den Freitagabend gerne wiederholen. Da sind noch eine ganze Menge Restaurants, die ich mit dir besuchen
möchte.“ Jules hörte sein Schmunzeln deutlich, während sie ihre Hände müde auf ihre Oberschenkel stützte und schwer atmete. Jack gab ein hartes Tempo vor. „Gut, einverstanden.“ Ein glückliches Lächeln konnte sie sich nicht mehr verkneifen. „Holst du mich um acht ab? Und deine Nummer brauche ich auch endlich, falls was dazwischen kommt“, setzte sie mutig nach. Dieser Mann brachte sie dazu, sich so zu verhalten, wie sie sich fühlte. Konnte man freier sein? Bevor Jack antwortete, klingelte Jules' Mobiltelefon. Sie sah die Nummer im Display und ihr Gesicht wurde so grau, wie die Wolken über ihnen. Dieser Mensch am Telefon tat ihr offensichtlich nicht gut, am liebsten hätte er ihr das blöde Ding weggenommen und zertreten. Nachdenklich stand er neben ihr und bemühte
sich seinen plötzlich stark erwachten Beschützerinstinkt unter Kontrolle zu behalten. „Wie lange bist du denn schon hier?“ Jack wurde unruhig. Das war gar nicht gut, absolut nicht gut. „Nein, ich will nicht. Lass mich in Ruhe, bitte.“ Er machte einen Schritt auf sie zu und zögerte dann doch. Er sollte sich nicht einmischen, also ging er lieber einige Schritte zurück. Sofort schenkte sie ihm einen dankbaren Blick. Aus dieser Entfernung konnte er lediglich ihre Mimik beobachten und die ließen sein Herz schmerzen. Wut, Trauer, Schmerz und Resignation wechselten sekündlich. Jules sah mitgenommen aus, nachdem sie aufgelegte. Nun hielt ihn nichts mehr, seine großen Schritte überbrückten schnell die selbst geschaffene Distanz und nahm sie in seine Arme und drückte sie an sich. „Wer auch immer das war, du solltest nicht mehr ran gehen, wenn er oder sie anruft“, sagte er
flüsternd in ihr Haar, dessen Duft sich geradezu berauschend auf ihn auswirkte. Sie nickte an seiner Brust und ließ sich von seinem Geruch hinweg tragen. Dort konnte ihr nichts passieren, nichts war wichtig, außer genau diesem Moment. Nach einem tiefen Atemzug genoß sie die großen Muskeln um sich herum, Jacks Wange auf ihrem Haar und seine Stimme, die beruhigend vor sich hin brummte. Sein Brustkorb vibrierte angenehm und sie hörte seinen stetigen Herzschlag. So hätte sie dort lange stehen können. Nach ein paar Sekunden löste er sich trotzdem von ihr und sah besorgt aus. „Ist alles wieder in Ordnung?“ „Nicht wirklich, aber es geht schon besser“, antwortete Jules ehrlich. „Wenn du nichts dagegen hast, würde ich jetzt gerne nach Hause.“ Eigentlich wollte sie alles andere als das, eine innere Stimme schrie nach Jack
McAllisters Umarmungen. Er solle sie mitnehmen, irgendwo hin, sie den ganzen Tag nicht mehr loslassen und die Menschheit von ihr fern halten. „Ich kenne dich noch nicht lange und noch nicht gut genug, Jules, also bitte verzeih mir, aber ich halte es für keine gute Idee dich jetzt alleine zu lassen.“ „Was hast du vor?“ Zwar bemühte sie sich nicht alle Hoffnung durchklingen zu lassen, die sie in sich spürte, doch es gelang ihr ganz offensichtlich nicht gut genug, denn sie sah Jacks Mundwinkel leicht nach oben wandern. „Ich kann nicht viel in der Küche, aber meine heiße Schokolade ist der Hammer. Wenn du magst, nehme ich euch beide mit zu mir. Wie du mir, so ich dir. Wie wäre das?“ Jules wäre ihm am liebsten um den Hals gefallen und hätte ihn abgeknutscht, dennoch nickte sie ruhig. „Einverstanden“, quetschte sie raus und folgte ihm dann zum Wagen.
Als sie vor dem Gebäuden ausstiegen, in dem Jack wohnte, stockte Jules plötzlich. Ihre Gesichtsfarbe fiel von grau zu weiß ab. Stirnrunzelnd sah er sie an. „Lass uns gehen.“ Doch ihre Beine bewegten sich keinen Millimeter, der Schock machte sich nun bemerkbar, Angst, die sie noch nachspürte, lähmte sie. McAllister pfiff kurzentschlossen nach Flöckchen, der sich in diesem unbeobachteten Momenten ein paar Meter entfernt hatte und ging leicht in die Hocke. „Halt' dich fest“, sagte er nur und legte dann einen Arm in ihren Rücken und den anderen unter ihre Kniekehlen. Er hob sie hoch, als wöge sie nichts. Den blauen Wagen auf der anderen Seite bemerkte er nicht.
Erst an seinem Sofa ließ er sie herunter. Jack holte eine Bettdecke und stopfte sie um Jules herum, sodass sie nur noch ihre Arme bewegen konnte. „Sitzen bleiben.“, befahl er im dumpfen Ton und war sich ihres ungläubigen Blickes wohl bewusst, als er in die Küche hinüber ging, um den Kakao zu zubereiten. Ja, verdammt, er hatte sie alle sieben Stockwerke hoch getragen und noch nie in seinem Leben fühlte sich irgendetwas besser an, als ihren Körper an seinem, ihre Hände um seinen Nacken gelegt brachten ihn beinahe um den Verstand. Es machte ihn wütend, dieses Gefühl nur für eine befristete Zeit genießen zu dürfen. Langsam verlor er die Kontrolle über diese beschissene Kribbeln, welches sie überall in ihm auslöste. Mit beiden Tassen in den Händen setzte er sich neben sie auf das kleine Sofa und reichte ihr eine. Daraufhin schaltete er einfach den
Fernseher ein, legte seinen freien Arm um sie und zog sie zu sich heran. Heute würde er Jules nicht mehr gehen lassen, egal wie gefährlich das für ihn würde. Es dämmerte bereits, da fand sie endlich die Stärke sich zu regen. Zaghaft tippte sie gegen seine Brust, um seine Aufmerksamkeit zu erlangen. „Ich müsste mal ins Bad.“, sagte sie leise. Laute Worte hätten alle Gemütlichkeit zerstört, fand sie. Er nickte, ließ aber nicht los. Unsicher sah sie hoch und entdeckte eine frech hochgezogene Augenbraue. „Geh doch oder willst du nicht mehr?“ Ein kleines Gerangel entspann sich zwischen den Beiden, nachdem sie ihm in einer kurzen Sekunde des Übermutes spielerisch auf die Schulter schlug, bei dem sie kichernd auf den Boden fielen. Ausgelassen feixend saß sie schließlich
vornüber gebeugt auf einem Jack in Rückenlage, wirr standen ihre Haare in alle Richtungen ab. Sie war nie hübscher, dachte er bei sich und grinste, während er ihre Hände auf seinen Schultern festhielt. Auf einmal überkam es ihn und er drückte ihre Hände zur Seite, sodass ihr Gesicht bis auf wenige Zentimeter zu seinem herunter kam. Beide atmeten in Erwartung dessen, was passieren würde, schwer. Plötzlich ernst geworden, versank er in ihren Augen, die nur für ihn leuchteten. Erstaunen machte sich kurz in ihm breit, ihre Augen strahlten – strahlten so richtig, wie er sich gewünscht hatte. Ihm entgegen, für ihn und wegen ihm, in diesem Moment hätte es nichts Schöneres geben können. Versonnen strich er ihr eine Strähne hinters Ohr, dabei berührte sein Daumen sanft ihre Wange und er ließ ihn an ihrem Wangenknochen liegen. „Hey, Schönheit“, sagte er leise. „Was hältst du von Pizza und einem guten Film. Danach kannst
du in meinem großen, kuscheligen Bett in Ruhe schlafen. Ich werde hier auf dem Sofa bleiben. Was hältst du davon?“ Zögernd nickte Jules. „Gut, dann werde ich mal bei meinem guten Kumpel Luigi anrufen.“ Wieder nickte Jules und ihre Mundwinkel zuckten, Jack sah es ganz deutlich. „Geh doch oder willst du nicht mehr?“, wiederholte sie, was Jack vorhin zu ihr sagte. Jetzt zuckten auch seine Lippen und er beide verfielen wieder in ein großes Lachen. Schließlich ließ sie sich von ihm herunterrollen und ging ins Bad, während er telefonierte. Vor dem Spiegel atmete Jules erst mal ganz tief durch. Verflixt, wollte er sie küssen? Die jedoch viel wichtigere Frage, wollte sie ihn küssen oder hätte sie seine Kuss zugelassen? Bei der ersten Frage war sie sich nicht ganz
sicher, aber sie vermutete es ganz stark. Zu der zweiten Frage wollte sie am liebsten ein großes JA in die Welt brüllen! Jack saß schon wieder auf der Couch und suchte nach einem passenden Film. „Möchtest du eher was ruhiges oder darf es was actionreicheres sein?“, fragte er ohne hoch zu sehen. „Magst du Star Wars?“ Überrascht zuckte sein Kopf in ihre Richtung, als er sie diese Frage stellen hörte. „Bitte sage mir eine Film von Episode vier bis sechs und nicht diesen neuen Scheiß.“ Zweifelnd schoßen seine Augenbrauen gen Haaransatz. „Ich werde keinen von den dreien sagen, denn das ist meine liebste Triologie“, meinte Jules grinsend und platzierte sich neben ihn. „Wir könnten heute mit vier anfangen und uns dann durcharbeiten.“ Hölle, war sie mutig bei diesem Mann, er tat ihr richtig gut und sie beschloss
nun endgültig jede Sekunde bei und mit ihm zu genießen. Sie hatten den Film gerade eine halbe Stunde geschaut, da klingelte der Pizzalieferant. Nach dem Essen wurde Jules müde und irgendwann fiel ihr Kopf gegen Jacks Schulter. Das letzte, was sie mitbekam, war ein warmer, Schutz bietender Arm, der sich um sie legte und an einen gestählten Körper zog. Wohlig schnurrend gab sie nach und schlief ein. Jack musste schmunzeln, als sie dieses Knurren von sich gab. Als er sicher war, dass sie fest schlief, trug er sie kurzerhand in sein Schlafzimmer. Eine Sekunde stand er unentschlossen neben dem Bett, ob er ihr irgendetwas der Bequemlichkeit halber ausziehen sollte. Dann ließ er es bleiben und machte sich das Sofa zurecht. Den Arm unterm Kopf verschränkt sah er zur Zimmerdecke, die
vom Mondlicht erhellt wurde, und dachte an die junge Frau in seinem Bett. Schüchtern bis zum Umfallen, aber langsam taute sie ihm gegenüber auf und präsentierte einen tollen Humor und Filmgeschmack. Liebevoll hatte sie sich um ihn gekümmert, als ihm einer seiner seltenen Anfälle quälte. Er konnte stundenlang mit ihr reden, wie er heute wieder feststellte. Selig lächelnd überkam ihn langsam der Schlaf.