Tod in Venedig
Reisebericht,
basierend auf einer
realen, jedoch schon
lang zurückliegenden
Begebenheit
Es war nicht die von Touristen überschwemmte Lagunenstadt, in der sich diese Reiseepisode abspielte, sondern eine einsame Meeresbucht im Nordwesten Irlands, die von einem langen, menschenleeren Sandstrand gesäumt war. An einem sonnigen Septembertag vor etlichen Jahren hatte ich es mir schon früh am Morgen am Ende des Strandes auf unsrer Campingliege bequem gemacht und mich - wie schon öfters in diesem Urlaub - in eines dieser wunderschönen Landschaftsbilder vertieft, mit denen die raue irische Westküste so reichlich gesegnet ist. Wegen des auffrischenden Windes tief in zwei Decken eingekuschelt, genoss ich die angenehm wärmenden Strahlen der Morgensonne auf meinem Gesicht und konnte mich kaum an den hohen Wellenbergen sattsehen, die der Wind pausenlos am Strand auftürmte. Er wehte ablandig, daher waren die Wellen steil und erschienen im Gegenlicht der Sonne durchsichtig wie türkisblaues Glas. Kurz bevor
sie sich am Ufer in breiter Front überschlugen, riss ihnen der Wind noch die Gischt von den weißen Kämmen und legte feine Nebelschleier über diese immer wieder neuen Bilder elementarer Kraft.
Zu dieser Szenerie passte bestens Heinrich Bölls „Irisches Tagebuch“ (er hatte es nicht weit von hier auf Achill-Island geschrieben), das ich nebenbei las und das ich abwechselnd mit der rechten und linken Hand hochhielt, während sich die andere Hand unter der Decke wieder aufwärmte - doch immer wieder wurde mein Blick von der tosenden Brandung angezogen. Nach etwa einer halben Stunde der Einsamkeit belebten unversehens zwei herumtollende Hunde diese Bilder zusätzlich, als sie zusammen mit ihrer Herrin am anderen Ende des leeren Strandes auftauchten und sich übermütig durch das aufspritzende Flachwasser am Ufer jagten. Zwischendurch machten sie
vergnügt auch mal ihre Herrin nass, wenn sie zu ihr hin tobten und sich den Pelz ausschüttelten. Dann sah ich die Frau lachend die Flucht ergreifen - ohne allerdings ihr Lachen zu hören, da es von der Brandung übertönt wurde. Vor der Kulisse tosender, sich brechender Wellen boten diese lebhaften Drei einen Anblick purer Lebensfreude.
Als sie sich ausgetobt hatten, verließen sie den Uferbereich und setzten ihren Rundgang in meiner Richtung fort. Offenbar kannten die weit vorauslaufenden Hunde den Weg durch die Dünen, den auch ich genommen hatte und in dessen Nähe sich unser Wohnmobil versteckte. Wie nicht anders zu erwarten, machten die Hunde aber noch einen Abstecher zu mir und schnüffelten neugierig an meiner Liege herum, bevor ihre Herrin sie zurückpfiiff und entschuldigend lächelnd auf mich zukam. Bei mir angelangt fügte sie noch einige irische oder
englische Worte der Entschuldigung hinzu, die ich mit solch holprigem Englisch beantwortete, dass sie sogleich fragte, woher ich komme. Auf meine Antwort hin gab sie sich ebenfalls als Deutsche zu erkennen und erzählte, dass sie sich einst in diese herrliche, urwüchsige Landschaft und schließlich auch noch in einen Iren verliebt hatte, den sie bald heiratete. Da die abwechslungsreiche irische Westküste auch mich faszinierte, kamen wir schnell ins Gespräch, in dessen Verlauf sie mich schmunzelnd fragte: “Wissen Sie, warum ich Sie vorhin so vorwitzig angesprochen habe?“ Ich schüttelte den Kopf, worauf sie erklärte: „Als ich vom Ufer aus sah, wie Sie warm in Decken eingepackt bewegungslos aufs Meer blickten, riefen Sie mir eine berühmte Filmszene aus ‚Tod in Venedig’ in Erinnerung: Auch da setzte sich ja der sterbenskranke Komponist noch ein letztesmal an den Strand - ebenso warm im Liegestuhl eingemummt wie Sie - und schaute
entrückt dem Jungen hinterher, dem er verfallen war. Haben Sie den Film gesehen?“
„Ja, ich erinnere mich noch gut an diese Szene“, lachte ich „doch kann ich Ihnen versichern, dass ich mich noch immer quicklebendig fühle - und außerdem auf keine Jungs stehe!“ Meine letzte Aussage bekräftigte ich mit einem auffällig unauffälligen Blick auf ihre - trotz der angegrauten Haare - noch immer jugendlichen Figur, worauf sie lächelnd unser Gespräch fortsetzte. Es kreiste um Viscontis Film und Mahlers elegischer Musik, die unserer Meinung zufolge den Film erst zum unvergesslichen Kunstwerk erhob. „Diese Klänge würden ebenso gut hier in unsere herbe Landschaft passen, die ja oft in schwermütige Stimmungen getaucht ist“, sinnierte sie, und ich malte gleich aus, wie ein in den Dünen verstecktes Sinfonieorchester das Rauschen des Meeres mit Mahlers Musik bereichern würde, während wir beide wie die
Protagonisten einer Pilcher-Filmschnulze vor dem obligatorischen Happy-End-Kuss nochmals still und majestätisch übers Meer schauen. Sie lachte amüsiert und begann den Faden munter weiterzuspinnen, doch leider war’s ihren Hunden inzwischen zu langweilig geworden. In immer längeren Ausflügen schnüffelten sie den zahllosen Hasenfährten hinterher, die sich in den Dünen verloren. Schließlich wurde ihrer Herrin es leid, ständig die Streuner zurückzupfeifen, und sie verabschiedete sich mit einem bedauerndem Lächeln.
Mein Bedauern hielt sich in Grenzen, da mich zwischenzeitlich mein knurrender Magen daran erinnerte, dass ich noch nicht gefrühstückt hatte. Rasch packte ich Liege, Decken und Kissen zusammen und eilte - immer noch mit Mahlers Musik in den Ohren - zu unserem Wohnmobil, in dem meine Frau nach Beendigung ihres Schönheitsschlafs bereits mit
dem Frühstück wartete. Offenbar hatte sie zwischendurch auch mal zum Strand hinab gekiebitzt, denn neugierig lächelnd fragte sie: „Was hattest Du denn mit dieser schönen Fremden so lange zu bereden?“
Da es nichts zu verbergen gab, holte ich mit meiner Schilderung weit aus: Mit der irischen Landschaft fing ich schwärmerisch an und hörte mit dem „Tod in Venedig“ auf; wobei ich Mahlers ergreifende Musik als verbindendes Element interpretierte, das einen Bogen zwischen Kunst und Natur schlägt und beides harmonisch miteinander in Einklang bringt. Doch statt diesem poetischen Einklang nachzuspüren und meine immer noch anhaltende Ergriffenheit mit mir zu teilen, lachte meine holde Gattin hell auf und antwortete mit ihrer - zuweilen - recht spitzen Zunge: „Das hatte ja so kommen müssen!“
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„Was hat so kommen müssen?“ fragte ich etwas irritiert darüber, dass sie dieses feierliche Szenario ausgerechnet mit einem trivialen Lachanfall quittieren musste.
„Dass Dich die Leute nun schon für tot halten, wenn Du mal wieder Deine kostbare Zeit so regungslos sinnierend auf Deiner Liege verplemperst!“
Anmerkung 1:
Das Thema der Schreibparty 78 lautet „Sommerurlaub.“
Die Vorgabewörter sind weitgehend diesem Thema angepasst: Erholung, Strand, Freiheit, Gummitier, Sonnenmilch, U-Boot, Bürgermeister, Urlaub, Sonne, Meer.
Sie fanden in diesem Beitrag jedoch wenig Verwendung (die angewendeten Worte sind hier in fetter Schrift hervorgehoben): Einerseits, um die Handlung dieses Beitrags nicht zu überfrachten, und andererseits, weil sie bei den Außer-Konkurrenz mitlaufenden Jury-Beiträgen ohnehin nicht bewertet werden.
Anmerkung 2:
Aus demselben Grund - im Rahmen des SP-Themas „Sommerurlaub“ die Handlung nicht durch ein zusätzliches Thema zu überfrachten -
entfernte ich nach reiflicher Überlegung im viertletzten Abschnitt folgende (ebenfalls reale) Passage :
Mein Bedauern hielt sich in Grenzen, da ich mich inzwischen entschlossen hatte, den mittlerweile immer kräftigeren Wind zum Strandsurfen zu nutzen, bevor die Flut wieder einsetzt und den von der Ebbe durchnässten (und daher relativ festen und befahrbaren) Bereich des Sandstrandes überschwemmt. (Im trockenen, losen Sand dagegen sinken die Räder des Strandsurfers ein). Rasch packte ich Liege, Decken und Kissen zusammen und eilte ...
Anmerkung 3:
Nachdem meine Frau ihren Lachkrampf überwunden hatte, half sie mir aus Zeitgründen, den Strandsurfer (ein Eigenbau) und das Surfsegel zum befahrbaren Untergrund des
Strandes zu tragen. Anschließend betätigte sie sich auch noch als Kamerafrau und und filmte meine Ausritte mit. Einige davon sind auf YouTube als „BeachCarver“ zu sehen:
https://www.youtube.com/watch?v=XItOCqhcI-A
Die Bezeichnung „Carver“ wählte ich, weil sich hier wie beim Motorrad die Räder mit in die Kurve legen und ähnlich dem Carving-Ski eine höhere Querbeschleunigung ermöglichen. Der BeachCarver ist ein „Abfallprodukt“ eines (damals neuartigen) „Snowboards auf Rädern“, das ich zusammen mit einem Freund zusammenbastelte und das ebenfalls auf YouTube (als „HillCarver“) zu sehen ist:
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https://www.youtube.com/watch?v=jzY1Ypk2_g4