Die vergessene Kapelle
Fast schon Abend ist es,
als sie die kleine, uralte Kapelle betritt,
die auf einer seichten Anhöhe steht.
Spinnverwoben schon die Tür,
die, nur angelehnt, sich quietschend öffnet,
als sie vorsichtig und mit klopfendem Herzen dagegen drückt.
Ihr Blick schweift in das Innere des kleinen Raumes,
der lichtdurchflutet auf sie zu warten scheint,
der eine Wärme in seinen Händen hält,
ihr seine Hände entgegenstreckt,
sodass ein wohliger Mantel sie sogleich umhüllt.
Ein Gefühl durchläuft sie,
das sie schon lange nicht mehr gespürt hat,
so reicht sie ihre zittrigen Hände und tritt ein,
andächtig und ehrfürchtig.
Geführt von dem Licht, der Wärme und ihren Gefühlen,
lässt sie sich auf einer der drei kleinen Bänke nieder
und nimmt diese Ruhe, diese Stille in sich
auf.
Ganz in diesen Raum versunken
denkt sie an Menschen, die einst kamen,
um Zwiesprache mit ihrem Gott zu halten ~
ihr Herz und ihre Seele öffnen sich
und sie erspürt die unendlich vielen Gebete,
die hier gesprochen, geflüstert und gedacht wurden,
sie fühlt sich ganz in ihnen verloren.
Da sind Gebete, die noch immer in Unruhe kreisen,
die wohl nie einer erhört,
die wohl nie einer erfüllt hat.
Da sind Wünsche und heiße Sehnsüchte,
da ist Kummer und tiefes Leid,
da ist Trauer und auch Not.
Still und leise aber lächeln die Worte der Liebe sie an,
schleichen sich in ihr Herz,
Worte, vor einer Ewigkeit den Lippen entsprungen,
Schwüre und Versprechen ~
und zaghaft zarte Küsse.
Und sie sieht sich stehen in dieser vergessenen
Kapelle,
eingehüllt in die Arme ihres Liebsten,
vor nunmehr endlos vielen Jahren,
als sie sich ewige Liebe versprachen,
Liebe, die sie trug durch ihr ganzes Leben,
bis der Tod ihn von ihr trennte,
Liebe, die sie noch heute erfüllt.
Nun ist sie so unendlich müde
und ihr Herz ruft immer lauter nach ihrem Liebsten,
um für alle Zeiten an seiner Seite zu sein,
mit ihm gemeinsam in der Unendlichkeit zu weilen.
Und als sie in Gedanken schon bei ihm ist,
als sie seine Wärme spürt,
seine Lippen auf den ihren schmeckt ~
da schlägt ihr Herz für diese Welt nicht mehr.
(c) Eleonore Görges