Biografien & Erinnerungen
Meine Bäckerlehre

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"Meine Bäckerlehre"
Veröffentlicht am 05. Februar 2009, 10 Seiten
Kategorie Biografien & Erinnerungen
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einer der auf dem Weg ist ...
Meine Bäckerlehre

Meine Bäckerlehre

Frisch Gesellen seid’ zur Hand... oder Hommage an eine Bäckerei 


„...Mit 50 Jahren hat jeder Mann das Gesicht, das er verdient hat...“Ich erschrecke vor dem Badezimmerspiegel nach dem Haare waschen und das Bild verschwimmt vor meinen Augen.Ich höre nicht mehr den Nieselregen auf das Wintergartendach prasseln.Versetzen wir uns vom Dezember 2000 in das Jahr 1963 oder 64.Wir befinden uns in meiner Heimatstadt Ilmenau und der Schnee fällt unablässig.Sicher, das hat es vor Jahren gegeben.Wir kommen in das Nachtjackenviertel, so nannte man die Gegend in der Oberstadt.Da, am Rasen 43, eine der Strassen eben, so wie der Hinterrasen tritt ein Jungen aus der Ladentür.Der Laden gehört zur Bäckerei Nottrodt und der Kleine mit der weiten Bäckerhose und dem eingestaubten Hemd bin ich.Wie viel Läden es damals in unsere Strasse gab, darüber habe ich sicher schon einmal erzählt.Bäckereien gab es neben Nottrodt noch den Kokogei und den Mielenz.Heute sind sie alle verschwunden.Bald kann sich keiner mehr an die sozialistische Wartegemeinschaft, die Schlange vor dem Bäckerladen erinnern, in der man solidarisch und ohne zu Murren stand.DA WAREN ALLE GLEICH.Warum ich vor die Tür getreten bin, dazu nun mehr.Im Schaufenster leuchtet ein originalgetreues Abbild des „Mönchshofes“ aus Holz, eines Ausflugslokals außerhalb der Stadt.Ich hatte es auf dem Boden gefunden und durfte es wieder auffrischen, fast schon restaurieren.Ohne Anleitung, ohne Gängelei, eben ganz allein.Nun war ich stolz, dass mein Werk auch noch von jedem Passanten bewundert werden konnte und stand dort voller Stolz im eigenen Applaus.Der Bäcker – nein nicht irgendein Bäck oder so was ähnliches – mein Bäcker war der Siegfried.Er war auch gar kein Nottrodt, so hieß nur die Lina. Ihr Mann Walter war im Krieg geblieben und nach dem Krieg hatte die Witwe Lina ihren Neffen Siegfried aus dem Vogtland geholt.Er sollte bestimmt nie Bäcker werden, aber diese Zeit brauchte Bäcker und Lehrer mehr als andere Berufe.So wurde Siegfried Bäckermeister.Mein Bruder hatte dort gejobbt.Heute würde das keiner mehr machen, es sei denn Ausländer – eben Putzen für wenig Geld.Jeden Samstag war nach Abschluss aller Backarbeiten die Backstube zu reinigen.Der Brotschragen ein Bretterrost musste geschrubbt  werden, denn die ganze Woche war er vom Kontakt mit den Broten kohlrabenschwarz.Die Bäckerei war mehlig, was auch sonst. Mit Eimer und Schrubber, mit Fit und Lappen rückten wir dem „Schmutz“ zu Leibe.Nasses Mehl stinkt und die lieben, kleinen Mehlkäfer – groß wie ein Groschen wurden aufgeschreckt und gemeuchelt.Siegfried war das, was mir fehlte – ein Kumpel.Sicher Leute zum Kutten gab’s wie Sand am Meer oder wie der Hund Flöhe im Pelz hat – aber Kumpels, echte Kumpels, die waren so rar wie Schnee ich Sommer.Mein Siegfried war ein Talent.Er war Boxer, er hatte ein Motorrad, er tolerierte die Freitagshitparade und mit ihm konnte man sicher auch Pferde stehlen.Außer Frauen, da war Fehlanzeige – wie sollte das auch gehen, er hat ja immer geschuftet.Früh der Erste und wann er sich Schlafen legte, wer weiß?Später – ganz spät hat er dann die Hanna heimgeholt, einmal im Jahr sind sie zum Camping gefahren.Anfangs war ich am Samstag dort, später gar freitags und dann immer öfter.Einerseits war es das Handwerk, der altdeutsche Backofen, der so faszinierte, andererseits war man immer zu was nütze und lernen – ja lernen konnte ich ohne Ende.Ob nun am der 250 er SIMSON die Ventile eingeschliffen wurden, ob wir Feuchtraumkabel in der Backstube verlegten oder einen Kohlenaufzug bauten, da war keine Langeweile und all’ dies ging ohne Stress oder Ungeduld, denn das Wort „Stress“ gab’s noch nicht.Brüllen oder Nölen – vollkommene Fehlanzeige, sicher gab es Dampf und Druck, besonders in der Weihnachtszeit.Siegfrieds Freunde waren der lange Mosch, der Wolfgang Griebel und der Werner Anschütz.Diese 4 machten sich manchmal am Samstag fein und gingen mit Hut ins Parkkaffee. Da war ich etwas neidisch auf die mit denen er ging, aber ich war noch zu lütt.Die Verzweigungen des Nottrodt’schen Geschlechtes waren auch nicht ohne. Die Familie hatte in Erfurt das erste Hochhaus gebaut und dazu 60000,00 Reichsmark Kredit aufgenommen. Dazu gehörte die Familie Brandt mit Friseursalons im Wiesenweg und sonstewo.Dann noch die „Tanne“ das größte Hotel der Stadt gehörte zur Familie und das „Bahnhofshotel“ einstmals die gute Adresse in Ilmenau gehörte der Familie Storch, die alte Storchen hatte das ganze Kapital versoffen und lungerte am Bahnhof herum.Im Obergeschoss wohnte noch der Meister Wilhelm N., von dem immer die Mähr erzählt wurde, wie er den neugierigen Kunden die Kellertreppe mit dem Schieber irrtümlicherweise hinabeförderte.Als der alte Wilhelm gestorben war, hat man seine Wohnung aufgeräumt. Eigentlich geplündert und schier große Kostbarkeiten landeten auf dem Müll.Damals erfuhr ich, wie es ist, wenn sich Erben streiten und ich nahm mir vor, so etwas passiert dir nie.Lina N. war der letzte Spross dieser, einst mächtiger Familie und wenn sie in die Stadt oder nur zum Arzt ging so sah man dies am Outfit und am Gang.Jede Jahreszeit hatte ihren Reiz in der Bäckerei, aber die Weihnachtszeit – die richtige Weihnachtszeit, die hatte ihren ganz besonderen.Da kamen die Zetsches und die Kleins, die Möllers und die sonst wieNachbarn, um ihren Stollenteig zu bringen.Jedermanns Teig war wie ein Baby – jeder war der beste.Wie auch nicht, war es doch mit den ausgewähltesten Ingredienzien gefüttert wurden. Illegale Westimporte oder getauschte Mangelware.Und alle dachten – viel hilft viel – und alle waren erschüttert und enttäuscht, wenn der Teig nicht zu einem Wunderwerk gelang.Die Stollenzeichen aus Glas, aus Porzellan oder schlicht aus Holz geschnitzt – heute könnte man das sammeln.Nebenbei sei erwähnt, dass der Bäcker die einzige Bezugsperson war, die mein Vertrauen hatte und bei der ich Schwimmen lernte.Die Bäckerinnung hatte einmal im Jahr ein Fest und einmal durfte ich dabei sein. Sicher war ich schon 14, in den Kreis der Erwachsenen aufgenommen oder so.Man hat mir irgend so ’ne Bäckertochter beigegeben, mit der ich tanzen musste – ich konnte es nur nicht.Aber an der Bar in Festhalle konnte ich schon stehen und Siegfried hat zwei wunderbare Cognacs ausgegeben, ich erinnere mich dunkel, dass die „Ratsherrenabzug“ hießen.Es war der Gipfel der Exklusivität.Ich könnte meine Erinnerungen beliebig erweiten, vielleicht ist der Aspekt des Geld Verdienens ein wichtiger.Am Anfang bekam ich fünf Mark für einen ganzen Tag.Später steigerte sich das Salär auf zwanzig.Nicht der Fakt allein war ungeheuer, nein die Unabhängigkeit von meinem Vater war weit wichtiger.Ich konnte tun und lassen, was ich wollte.Pustekuchen!Der „liebe Vater“ führte ein Kassenbuch ein und kontrollierte das minutiös. Von da ab stand ich jedes Wochenende stramm und wenn ein bestimmter Betrag angespart war, so kam er auf die Bank.Trotzdem hab ich mir gekauft, was ich wollte, ich fingierte Waren, denn ich kannte ja die Preise.Mit 16 Jahren konnte ich dann eine Hose und ein Sakko nach meinen Vorstellungen kaufen. Es hatte, wie vieles im Leben auch eine gute und eine schlechte Seite.Ordnung, Systematik in den Arbeitsabläufen, eigenes Schlussfolgern bestimmter Handgriffe und Tätigkeiten, es war viel ernste Arbeit aber auch Spaß.Außer mir gab es noch weitere Hilfskräfte, die Gitti W.und die Brigitte L.Zwischen schubsen und ärgern gab es auch Möglichkeiten, die Mädels zu greifen und unter den Kleidungsstücken konnte meine Fantasie so manches erahnen. Ausprobieren geht halt über studieren.So eine Bäckerei war vieles zugleich.Neben dem Broterwerb konnte man hier Informationen erhalten oder tauschen, man konnte politisieren, man hatte eine kleine Bühne und sie war so etwas wie ein Prisma des Quartiers – ein sozialer Brennpunkt.Am Wochenende schaute die Lina aus dem Fenster und unterhielt sich mit den Passanten. Leider hat sie das nie aufgeschrieben und mit ihrem Ableben ging viel Wissen verloren.Heute könnte die Hanna auch  einen Teil erzählen, nur sie ist nicht die Chefin.Innerhalb des real existierenden Sozialismus waren die Bäcker auch die letzte Bastion des privaten Gewerbes und da war schon was Besonderes, wenngleich nicht Jeder ein Erwin Strittmatter war.Ich habe hier mich ausprobiert, meine körperlichen und geistigen Potenzen getestet und eben das gefunden, worauf ich noch heute Stolz bin und ein klein wenig traurig, weil er mir fehlt, meinen Kumpel Siegfried.   Zum Fest 2000 geschrieben von Jürgen Weißleder, Benzstr.27, Korrektur zum Fest 2007 Nachtrag am 2008-12-11 Heute kam ein Anruf aus IlmenauGitti W. von nebenan.Siegfried ist gestorben!Nach langem Leiden in einem Pflegeheim in der Weimarer Straße.Das Haus steht leer und zum Verkauf.Sicher fallen heute wieder Schneeflocken.Nun ist das Schaufenster leer und schwarz, wie ein Ofenloch.Und man wird die Schritte nicht mehr hören, wenn ich dort vorbei gehe.Aber ich komme wieder.Jedes Jahr.So um die Weihnachtszeit.
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Boris
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Boris Re: Noch mit Herz und Hand - leider ist das private Stollenbacken eher in die private Küche zurückgedrängt - es sei auf dem Land - doch ein Bäckerofen (altdeutsch) ist durch nichts zu erstetzen...

Zum obigen Punkt - meine Heimat ist weit...

Danke Dir

LG JFW

Zitat: (Original von Abendschoen am 05.02.2009 - 17:13 Uhr) Der Text ist wie so oft bei dir auf der einen Seite recht privat - und da frage ich mich: Nehmen ihn einige von den hier Angesprochenen, soweit sie noch leben, zur Kenntnis? Wäre doch wünschenswert. Auf der anderen Seite stoße ich doch auch auf mich interessierende Details, hier z.B. die Tatsache, dass offenbar private Stollen beim Bäcker gebacken wurden. Oder habe ich das falsch verstanden? Und falls nein: Wird das heute auch noch so praktiziert? - Arno -
Vor langer Zeit - Antworten
Abendschoen Noch mit Herz und Hand - Der Text ist wie so oft bei dir auf der einen Seite recht privat - und da frage ich mich: Nehmen ihn einige von den hier Angesprochenen, soweit sie noch leben, zur Kenntnis? Wäre doch wünschenswert. Auf der anderen Seite stoße ich doch auch auf mich interessierende Details, hier z.B. die Tatsache, dass offenbar private Stollen beim Bäcker gebacken wurden. Oder habe ich das falsch verstanden? Und falls nein: Wird das heute auch noch so praktiziert? - Arno -
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