Die Turmuhr der Kirche von Oberstdorf schlug dumpf zur Mitternacht und verkündete damit den Beginn eines neuen Tages. Wiesen, Felder und Häuser waren mit einer dicken Schneeschicht versehen, und noch immer schneite es ohne Unterlaß, als sollte Oberstdorf im Allgäu unter der weißen Pracht verschwinden. Die Lichter in den Häusern waren schon fast alle erloschen und die Menschen zu Bett gegangen. Sie träumten von dem bevorstehenden Weihnachtsfest und
freuten sich, im Kreis ihrer Familien einige besinnliche und friedvolle Tage zu verbringen. Nur in einem nahe der Kirche gelegenen Haus brannten noch alle Lichter, und es hob sich mit seiner Helligkeit von der dunklen Umgebung deutlich ab. Es war das Haus, in dem der siebenjährige Jonathan mit seinen Eltern und Großeltern sowie seiner in der Silvesternacht des letzten Jahres geborenen Schwester Silvestra wohnte. Vater und Mutter, Großvater und Großmutter standen um das Bett seiner kleinen noch kein Jahr alten
Schwester. Ein großer, hagerer Mann mit Nickelbrille hatte sich über den Körper des kleinen Mädchens gebeugt und leuchtete mit einer Taschenlampe in ihre Augen. Jonathan war leise aus seinem Bett aufgestanden und stand im Flur, von wo aus er durch einen Türspalt das Geschehen in dem Zimmer seiner Schwester mitverfolgen konnte. „Sagen Sie Herr Doktor,“ hörte er die zitternde und verzweifelte Stimme seiner Mutter, „wird meine Tochter bald wieder gesund?“ „ Liebe Frau, ich muß Ihnen leider sagen, daß hier die ärztliche Kunst
ihre Grenzen findet,“ hörte Jonathan den Mann mit der Nickelbrille sagen. „Hier kann nur noch der Liebe Gott persönlich helfen.“ Dann sah er, wie seine Mutter sich weinend über Silvestra beugte, sie in die Arme nahm und an sich drückte. So jung Jonathan auch noch war, so konnte er sich dennoch gut vorstellen, was in seiner Mutter vor sich ging. Auch ihm selbst ging es nicht anders. Er spürte den Schmerz, der an ihm nagte, als er sich vorstellte, daß er bald seine kleine Schwester wieder verlieren würde. Was
hat der Arzt gesagt, ging es ihm durch den Kopf, „hier kann nur der Liebe Gott persönlich helfen.“ Dann muß man sich eben an den Lieben Gott wenden, um das Leben von Silvestra zu retten, sagte er sich und schlich sich ungehört und ungesehen von den anderen wieder in sein Bett. An Schlaf war jedoch nicht zu denken. Wie könnte man Kontakt mit dem Lieben Gott aufnehmen, fragte er sich immer wieder, ohne zu einem Ergebnis zu kommen. Am nächsten morgen wachte Jonathan erst um 10 Uhr auf, da er bis weit
in die Nacht hinein wach geblieben war, denn er konnte seine Gedanken nicht von seiner totkranken Schwester lösen und von der Frage, wie man mit dem Lieben Gott in Verbindung kommen könnte. Eltern und Großeltern hatten schon Kaffee getrunken, als Jonathan sich noch ein wenig verschlafen an den Frühstückstisch setzte und wie jeden morgen sein Honigbrötchen aß und seinen von der Mutter zubereiteten schon etwas kalt gewordenen Becher Kakao ausschlürfte. Niemand nahm von ihm Notiz. Alle
waren im Silvestras Zimmer versammelt, um ihr in den letzten Stunden ihres Lebens nahe zu sein. Der Arzt hatte gesagt, es könne sehr schnell gehen, aber es sei auch durchaus möglich, daß es noch einige Tage dauert, bis Silvestra sich aus dieser Welt verabschiede. Einer plötzlichen Idee folgend lief Jonathan zum Telefonschränkchen und entnahm der Schublade das dicke, gelbe Telefonverzeichnis. Vielleicht kann ich hier eine Verbindung zum Lieben Gott finden, dachte er, während er sich an den Küchentisch setzte und im Buch
den Namen Gott suchte. Doch sein Bemühen war erfolglos. Zwar fand er Nummern von einem Clemens Gott und einem Karel Gott, doch die Verbindung zum Lieben Gott konnte er nicht finden. In diesem Augenblick kam Großvater in die Küche. „Mein Kind, was suchst Du denn in dem Telefonbuch,“ fragte er. „Ach, Großvater,“ antwortete Jonathan, „ich wollte nur einmal nachschauen, ob ich die Telefonnummer vom Lieben Gott hier finde, denn er ist der Einzige, der Silvestra wieder gesund machen kann.“
„Aber Jonathan,“ erwiderte Großvater, „der Liebe Gott wohnt doch dort droben im Himmel und bis dahin reicht kein Telefon. Doch wenn Du mit ihm sprechen willst, kannst Du das durch ein Gebet tun. Egal wo Du Dich auf der Erde befindest kannst Du den Lieben Gott mit einem Gebet erreichen.“ Jonathan nahm sich vor noch heute mit dem Lieben Gott zu sprechen und als der Abend gekommen war öffnete er zunächst leise die Tür zum Zimmer seiner Schwester. „Silvestra,“ flüsterte er, „ mach Dir keine Sorgen, ich
werde den lieben Gott bitten, daß er Dich wieder gesund macht.“ Doch Silvestra konnte ihn nicht hören, denn das hohe Fieber hatte ihr das Bewußtsein genommen. Nur ein schwaches und unregelmäßiges Atmen zeugte davon, daß sie noch am Leben war. So leise wie er gekommen war verließ Jonathan das Zimmer und begab sich zu Bett. Doch bevor er einschlief faltete er die Hände und betete laut: „Lieber Gott, unser Doktor hat gesagt, daß Du der Einzige bist, der meine Schwester wieder gesund machen kann. Ich
möchte Dich bitten, die Krankheit von Silvestra zu heilen, um meine Eltern, meine Großeltern und mich wieder glücklich zu machen. Sei doch bitte so gut und mach, daß in unserem Haus wieder Freude einkehrt.“ Es ist ja eigentlich gar nicht so schwer, mit dem Lieben Gott zu sprechen, dachte Jonathan nach seinem Gebet, doch da der Himmel so weit weg ist, weiß ich nicht genau, ob er mich auch wirklich hört. Am nächsten morgen war Jonathans erster Weg in Silvestras Schlafzimmer. Seine Mutter war schon da
und saß auf der Bettkante. Sie weinte und streichelte sanft über das Haar ihrer kleinen Tochter. „Ich glaube Jonathan, Du mußt Dich bald von Deiner Schwester verabschieden, sagte sie mit erstickter Stimme. Bei Jonathan machte sich eine Enttäuschung breit. Entweder hat der Liebe Gott ihn nicht gehört oder er will nicht helfen. Vielleicht müßte er in die Kirche gehen, um zu beten. Die Erwachsenen gehen sonntags immer in den Gottesdienst. Vielleicht kann Gott die Menschen von dort aus besser verstehen.
Dieser Gedanke ließ Jonathan nicht mehr los, und daher marschierte er nachmittags in die nahe gelegene Kirche und setzte sich auf die erste Bank. Es war kein anderer in der Kirche, deswegen wagte es Jonathan mit lauter Stimme zu beten: „Lieber Gott sei so gut und mache bitte meine kranke Schwester wieder gesund.“ Diesen Satz wiederholte er mehrmals und jedesmal lauter in der Hoffnung, daß er wenigstens einmal im Himmel gehört wird. Am nächsten morgen ging Jonathan gleich nach dem Aufwachen in
Silvestras Zimmer und sah, daß ihr Zustand immer noch unverändert war. Er war verzweifelt und fragte sich, ob er vielleicht etwas falsch gemacht haben könnte. Laut genug war sein Gebet ja gewesen, aber wahrscheinlich war die Entfernung doch zu groß. Jonathan entschloß sich, heute nachmittag nochmals in die Kirche zu gehen. Doch dann wollte er auf den Glockenturm klettern, um dadurch die Strecke zwischen Himmel und Erde etwas zu reduzieren. Seinem Plan folgend begab sich Jonathan am nachmittag wieder in die Kirche.
Die Tür zum Glockenturm war unverschlossen. Mühsam kletterte er die enge Wendeltreppe empor und kam schließlich schwer atmend auf dem Podest direkt neben der schweren Glocke an. Hier ist wohl der richtige Ort, um mit Gott zu sprechen, dachte er sich. Die Glocke ruft jeden Sonntag die Gläubigen zur Heiligen Messe und ich kann von hier bestimmt mit meinem Gebet Kontakt zum Lieben Gott aufnehmen. Während ihm diese Gedanken durch den Kopf gingen, fing Jonathan an zu beten. Aber diesmal schrie er sein
Begehren hinaus, als wollte er der Glocke Konkurrenz machen. „Oh, Lieber Gott, so hör mich doch und mache bitte meine kleine Schwester wieder gesund.“ Diesmal wird es wohl geklappt haben, dachte er sich, während er die Treppen wieder hinunterstieg und sich auf den Heimweg machte. Doch am nächsten morgen war seine Enttäuschung um so größer, als er Silvestra in unverändertem Zustand in ihrem Bettchen liegen sah. Was sollte er nur noch machen, damit im Himmel sein Wunsch erhört wird? Doch da
kam ihm plötzlich ein Gedanke, der ihn nicht wieder losließ. In der Nähe ihres Hauses war die Talstation der Seilbahn zum Nebelhorn. Wenn er dort oben auf dem Berg für die Gesundheit seiner Schwester beten würde, käme sein Wunsch bestimmt bei dem Lieben Gott an. Er müßte heute noch zum Nebelhorn gelangen, denn morgen ist Heilig Abend, und da sollte die gesamte Familie wieder gesund und fröhlich zusammensein. Am Nachmittag zog sich Jonathan seine warme Felljacke an, denn er wußte, daß
es dort droben auf dem Berg eisig kalt war. Ohne jemanden von seinem Plan zu erzählen machte er sich auf den Weg zur Seilbahnstation. Die großen, geräumigen Gondeln fuhren jede halbe Stunde zum Gipfel und konnten fünfzig und mehr Menschen auf einmal befördern. Dennoch war es eine lange Schlange von Menschen in die sich Jonathan einordnen mußte. Als er nach etwa einer Stunde Schlange stehen vor der einstiegsbereiten Gondel stand, sah er, wie ein uniformierter Seilbahnbeschäftigter auf ihn
zukam. Jetzt mußt du schnell handeln, dachte Jonathan, denn er hatte weder eine Karte gelöst noch durfte er als siebenjähriger alleine mit der Seilbahn fahren. Er zupfte einer neben ihm stehenden älteren Frau an den Mantel, blickte an ihr hoch und sagte vernehmlich laut: „Nicht wahr, Mama, wir brauchen doch keine Angst in der Gondel haben.“ Der uniformierte Mann schien auf einmal das Interesse an Jonathan verloren zu haben, nicht jedoch die ältere Dame. „Aber mein Junge,“ sagte sie, „ich bin doch nicht Deine
Mama.“ Sie waren aber bereits in der Gondel und Jonathan hatte sein Ziel erreicht, darum entschuldigte er sich höflich und sagte, er habe sie nur mit seiner Mutter verwechselt. An der Bergstation angekommen verließ Jonathan die Gondel und begab sich direkt zum Gipfelkreuz des Nebelhorns. Es standen viele Menschen um ihn herum und es war ihm peinlich, hier mit lauter Stimme zu beten. Doch da er nun so hoch auf dem Berg war, glaubte er, daß ein geflüstertes Gebet auch ausreichen würde, um vom Lieben Gott gehört zu werden.
So flüsterte er sein Anliegen und hoffte, daß man ihn im Himmel hörte. Es war schon dunkel als Jonathan wieder an der Seilbahn stand, um ins Tal zurückzufahren. Als der Gondelführer ihn mit erstaunten Augen anschaute sagte Jonathan schnell:“ Ich habe meine Mutter verloren und ich glaube, sie ist schon mit der vorigen Bahn zu Tal gefahren.“ Außer Jonathan war nur noch ein alter Mann in der Gondel, der ihn eindringlich musterte. „Was machst Du denn hier auf dem Berg so ganz allein,“ fragte er nach einiger Zeit und
Jonathan hatte das Gefühl, daß er dem alten Mann alles von seiner kranken Schwester und seinem Versuch ihr durch ein Gebet zu helfen, erzählen konnte. Als die Seilbahn wieder in der Talstation ankam, hatte er sich all seinen Kummer von der Seele geredet und fühlte sich sichtbar erleichtert. „Ich werde Dich nach Hause begleiten,“ sagte der alte Mann, es ist schon dunkel und Deine Eltern werden sich sicher Sorgen machen. So führte der alte Mann Jonathan nach Hause, und dieser wunderte sich, daß er keinmal nach dem Weg fragte. So
standen sie nach wenigen Minuten vor der Haustür und Jonathan klingelte. Eilige Schritte näherten sich und die Tür wurde aufgerissen. „Gott sei Dank, Junge, wo bist Du nur gewesen. Wir haben uns ja solche Sorgen gemacht.“ Es war Jonathans Mutter, die erleichtert und froh im Türrahmen stand. Dann fiel ihr Blick auf den alten Mann. „Ich habe Ihren Sohn unterwegs getroffen und ihn wegen der Dunkelheit nach Hause gebracht. Ihr Sohn hat mir auf dem Weg von Ihrer kranken Tochter erzählt. Erlauben Sie mir, daß ich sie mir
mal ansehe.“ „Selbstverständlich, lieber Mann, haben Sie Dank dafür, daß Sie mir meinen Sohn wiedergebracht haben, und kommen Sie rein, ich werde Sie zu meinem kranken Kind führen.“ Sie gingen alle in Silvestras Zimmer und auch Jonathans Vater und die Großeltern gesellten sich dazu. Der alte Mann beugte sich über Silvestra und legte ihr eine Hand auf die Stirn. Dann wendete er sich wieder, um zu gehen. „So bleiben Sie doch bitte noch zum Essen,“ bot Jonathans Mutter an, doch der alte Mann sagte: „Ich kann
leider nicht länger bleiben. Ich habe noch einen weiten Weg und morgen will ich mit meiner Familie meinen Geburtstag feiern.“ So verabschiedete sich der alte Mann und verschwand in der Dunkelheit. Am nächsten morgen war Jonathan als erster auf. Er ging in Silvestras Zimmer und konnte seinen Augen nicht trauen. Silvestra saß aufrecht im Bett und hatte ihre Puppe in den Armen. Sie war munter und fidel und quietschte vergnügt vor sich hin. „Mami, Papi, Omi, Opi,“ schrie Jonathan vor Begeisterung. Jonathans Mutter war die erste, die das Zimmer erreichte. Sie
konnte das nicht glauben, was sie sah. Sie eilte auf das Bett zu, nahm Silvestra in ihre Arme und brachte vor lauter Glück keinen Ton heraus. Auch die anderen lagen sich in den Armen und sprachen von einem Wunder. Jonathans Großvater erinnerte noch an die Worte des alten Mannes -ich hab noch einen weiten Weg, und will morgen mit meiner Familie meinen Geburtstag feiern-. „Wißt ihr wer das war,“ sagte er, „es war der Sohn Gottes, der gestern in unserem Hause war. Er hat dieses
Wunder
vollbracht.“
Jonathan aber wußte, daß seine Gebete es waren, die der Liebe Gott erhört und ihm dadurch das
schönste Weihnachtsfest seines Lebens beschert hatte.