Was ist der Mensch?
Dem Wesenskern des Menschseins nähert man sich vermutlich am vielversprechendsten dadurch an, indem man auf seine frühesten Anfänge zurückblickt.
Was waren das für Wesen, die den entscheidenden Schritt vom Tiersein zum ersten primitiven Urmenschen geschafft hatten? Was unterschied sie von ihren animalischen Vorfahren?
Rein äußerlich sicherlich nichts.
Was war es dann?
War es Quäntchen mehr an Hirnmasse?
War es ein von außen auf ihn einstürzendes Erlebnis, das in ihm einen ersten menschlichen Gedanken, ein erstes menschliches Selbstempfinden aufscheinen ließ?
Irgendetwas musste passiert sein, das ihn aus dem bisherigen Dasein seiner Spezies herausriss und für immer von allen anderen Wesen unterscheiden sollte.
Glaubt man den Paläontologen - und es gibt keinen Grund dies nicht zu tun -, dann hatte die Menschwerdung zunächst
kaum Auswirkungen auf das Verhalten der ersten Menschen.
Ebenso wie ihre noch im Tiersein gefangenen Vorfahren lebten sie weiterhin in Gruppen zusammen und ernährten sich von Wurzeln, Beeren und wenig Fleisch.
Die Schranke die den Menschen vom Tier trennt, muss also irgendwo anders liegen.
Vielleicht ist sie die Einsicht der persönlichen Endlichkeit.
Keinem Tier ist dies bewusst, nur der Mensch muss mit dieser Erkenntnis leben.
Genauso wie heute hat vermutlich auch
der Mensch in grauer Vorzeit bereits versucht diese wenig erbauliche Einsicht zu verdrängen. Dennoch könnte genau dies der Impuls gewesen sein, der für seine Abspaltung vom Tierreich verantwortlich war.
Obwohl sich sein Körper anfangs gar nicht und auch später nur sehr wenig von seinen Tierverwandten unterschied, brachen sich in seinem Innern zunehmend Gedanken ihre Bahn, die noch kein Wesen vor ihm verspürt hatte und es begannen ihn Fragen zu peinigen, die nur für ihn von Belang waren.
Es ist gut vorstellbar, dass sich manch
einer in die wohlige Unwissenheit früherer Tage zurück gesehnt haben mag, aber der getane Schritt war unumkehrbar.
Mit der sich kontinuierlich vergrößernden inneren Gedanken- und Gefühlswelt entwickelte sich für ihn zunehmend eine bis dahin unbekannte Art von hybriden Dasein als Zwitterwesen.
Mit Unverständnis starrte er auf seine haarigen Hände und Beine und schaffte es nicht, diese mit dem in Einklang zu bringen, was in seinem Kopf vor sich ging.
Auch wenn sich unser Aussehen inzwischen deutlich von dem unserer steinzeitlichen Vorfahren unterscheiden mag, so peinigt uns dieses Dilemma bis heute.
Möglicherweise ist es sogar so, dass die Kluft in uns ständig weiter aufreißt.
Auch im 21. Jahrhundert sind wir in einem Körper gefangen, der funktionell aus der Vorzeit stammt.
Die Evolution hatte keine Chance, mit der Entwicklung des Geistes mitzuhalten.
Manche unserer Verhaltensweisen rühren daher noch immer von tierischen Reflexen her, die in der heutigen Welt weitgehend sinnlos sind.
Viele instinktive Grundprägungen haben sich auch im Lauf der Jahrhunderttausende nicht ablegen lassen.
Durch diese Divergenz ist die fatale Situation entstanden, dass wir Menschen uns mit einer Welt konfrontiert sehen, für die wir von der Natur nur sehr unzureichend ausgestattet wurden.
Wie soll sich jemand, in dessen Genpool sich nachweislich noch Neandertalerspuren befinden, in einer digitalisierten Welt zurechtfinden?
Wie soll er einer sich rasant entwickelnden künstlichen Intelligenz Paroli bieten?
Was fängt er mit einem Körper, der für die Jagd in der Savanne gebaut ist, in einer global vernetzten Umwelt an?
Die von manchen Science-Fiction-Autoren bemühte Idee der Entwicklung des Menschen hin zu einem rein geistigen, körperlosen Wesen hat sicherlich einigen Charme, dürfte jedoch allenfalls in sehr weiter Zukunft
realisierbar sein und einige schwer zu lösende, ethische Fragen aufwerfen.
Eine davon wäre, inwieweit man dann überhaupt noch von einer menschlichen Daseinsform sprechen darf.
Ich denke zum Kern des Menschseins gehört zwingend sein physisch-biologischer Körper.
Legt er diesen ab, wäre er im Falle der erwähnten Science-Fiction-Vision eine Art Halbgott oder im Falle der religiös begründeten Vermutung eines geistigen Weiterlebens nach dem Tod eine wie auch immer zu definierende göttliche Seele.
In beiden Fällen wäre er unsterblich und damit kein menschliches Wesen mehr.
Seine geistige Teilexistenz grenzt den Menschen von sämtlichen tierischen Erscheinungsformen der Schöpfung ab und seine Vergänglichkeit und seine Fehlbarkeit von Gott oder gottähnlichen Vorstellungen.
Mensch sein erfordert daher die Bewältigung eines gewaltigen Spagats.
Mit Händen, die eigentlich für das Ausgraben von Wurzeln und allenfalls für das Aneinanderschlagen von Feuersteinen geplant waren, muss er sich durch eine zunehmend abstrakter werdende digitale Welt hangeln.
Zwar ist er in der Lage unvergängliche Gedanken zu gebären oder der Zeit enthobene Kunst zu schaffen, muss jedoch gleichzeitig seine eigene Sterblichkeit akzeptieren.
Dieser Balanceakt ist die Herausforderung, der sich jeder von uns tagtäglich stellen muss.
Inwieweit wir Menschen mit dieser steppenwölfischen Zwitternatur in der Zukunft längerfristig werden bestehen können wird sich zeigen.
Vielleicht ist der Mensch ja tatsächlich nur ein Zwischenschritt hin zu einer anderen, höheren Daseinsform.