Kurzgeschichte
Die Obdachlose

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"Die anderen sahen sie von oben herab an, ich nahm sie an die Hand"
Veröffentlicht am 17. April 2019, 10 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Die anderen sahen sie von oben herab an, ich nahm sie an die Hand

Die Obdachlose

Titel

Nach der Spätschicht standen wir, wie immer, alle gemeinsam vor der Tür und warteten geduldig, dass die Schichtleitung die Tür scharf stellt. Es war keine Seltenheit, das die Tür, aus irgendeinem Grund, sich nicht scharf stellen ließ. Meist dann, wenn wir es geschafft hatten überpünktlich aus dem Laden zu kommen. Sie saß um die Ecke. War öfter in der Gegend zu sehen. Eine Kollegin machte sie nach; wie sie im Laden gewesen war. Ich fand es nicht lustig. Mir ging es auch gegen den Strich, wie sie auf manch andere herabschaute. Als ob sie was

besseres wäre. Dabei hatte sie bisher nur Glück gehabt, das sie immer noch ein Dach über den Kopf und einen Job hat. Ihr ist gar nicht bewusst, wie schnell es gehen kann, das man von jetzt auf nun nichts mehr hat. Keiner ist davor gefeit. Egal ob arm oder reich. Klug oder dumm. Weil meine Kollegin die Nase, ihretwegen, rümpfte, ging ich zu der heruntergekommenen Dame, setzte mich zu ihr und sprach sie an. Redete mit ihr im Plauderton, als würde ich sie schon ewig kennen. Der Gestank, der von ihr ausgedünstet wurde, lässt sich nicht beschreiben. Er wäre ein Grund gewesen zu gehen. Dennoch blieb ich. Erstens, wegen meinen Kollegen und zweitens,

weil ich mir vorgenommen hatte ein besserer Mensch zu werden. Das Leben auf der Straße war hart. Vor allem im Winter. Unter den Obdachlosen gibt es solche und solche. Die einen sind trotz allem höflich, andere gewalttätig. Eine ganze Weile war es eher ein Monolog, anstatt ein Dialog. Es dauerte, bis sie warm wurde. Ich konnte es nachvollziehen. Mir ging und geht es nicht anders. Seit dem ich im Einzelhandel arbeite, bin ich ein wenig offener geworden. Geh schon mal auf andere zu. Früher war es undenkbar für mich gewesen. Nur keine fremden ansprechen. Lieber noch zwei Stunden in die Irre

Laufen. „Na komm.“, sagte ich dann und stand auf. Behäbig folgte sie mir. Gentleman, der ich bin, nahm ich ihr die Tasche ab. Jene hatte es ganz schön in sich gehabt. Von außen sah man ihr nicht an, das sie so schwer ist. „Willst du die wirklich mit in deine Wohnung nehmen?“, fragte meine Kollegin und machte noch eindeutig nonverbale Bemerkung, das sie klaut. „Ich werde jetzt mit ihr zu mir gehen.“, setzte ich an, “Dort wird sie sich waschen und neu einkleiden. Währenddessen werde ich eine warme Mahlzeit zubereiten. Danach wird sie entweder wieder gehen, oder die Nacht

bei mir verbringen. Sie wird sich spontan entscheiden und ich werde jede ihrer Entscheidung akzeptieren. Wie ihr darüber denkt und wie ihr über sie denkt, weiß ich. Und es ist mir egal. Ich weiß, wie schnell es gehen kann, das man auf der Straße landet. Das kann uns auch passieren. Ihr wisst genau, wie geizig unser Chef ist und wie lang sich mancher Monat hinzieht. Fragt doch Manuela, wie viele Monate sie gesucht hatte, bis sie endlich eine bezahlbare Wohnung fand. Sie war kurz davor auf der Straße zu landen. Genau deshalb tue ich jetzt das, was ich jetzt tue. Wer weiß, ob ich nicht auch irgendwann ohne Obdach bin. Die Vermieter heutzutage tun gern

Luxussanieren, um mehr Miete zu kassieren...“ Mir lag noch mehr auf der Zunge. Aber ich hatte keine Lust mehr, weiter zu reden. Ich wollte nach Hause. Mir war klar, das mich diese Frau, die ich nicht kenne, mich in aller Ruhe beklauen könnte. Mit dem richtigen Riecher brauchte sie keine Zehn Minuten, um mein Geldversteck zu finden. Trotz Schloss, war es offen. Und selbst wenn ich es verschlossen hätte, bräuchte man nur drei Schrauben lösen und schon wäre das einfache Schloss ab und der Weg zu meinem Gel frei. Mir war es, ehrlich gesagt, egal, ob sie mich ausrauben würde. In den letzten

Tage hatte ich einige Reportagen über plötzlich Todesfälle gesehen. Die hatten mich nachdenklich gemacht. Im Moment bin ich noch quicklebendig und umgeben von jede Menge Kram. Was nutzte mir der Fernseher, wenn ich tot war. Ebenso meine Organe. Deswegen habe ich auch einen Organspendeausweis. Wenn ich tot bin, brauche ich keine Leber. Bis zu mir kamen wir nicht. Mitten auf dem Weg hatte sie die Biege gemacht. Mir war es ganz recht. So konnte ich gleich ins Bett gehen. Dennoch hätte es mich interessiert, wie es dazu kam, das sie kein zu Hause hat. Das sie psychisch einen weg hatte, bekam man schnell mit. Aber wie es wirklich um sie steht, hätte

mich schon interessiert. Kann ich nur hoffen, das sie mir noch einmal über den Weg läuft und sie mir bereitwillig davon erzählt. Meine Kollgen wollten gleich am nächsten Tag alles haargenau wissen. Zuerst wollte ich sie anlügen und ihnen sagen, wie wunderbar die Nacht mit ihr war. Doch dann beschloss ich bei der Wahrheit zu bleiben. Warum lügen?

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Superlehrling

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KaraList Schnörkellos, ohne Sentimentalität beschreibst Du nicht nur eine Situation, in die jeder geraten kann, sondern auch die nicht alltägliche Entscheidung Deines Protagonisten. Das gefällt mir!
LG
Kara
Vor langer Zeit - Antworten
Bleistift 
"Die Obdachlose..."
Irgendwie habe ich ganz persönlich das Gefühl,
dass dies deine bislang bestgeschriebene Geschichte ist,
die ich hier von Dir gelesen habe... ...smile*
LG
Louis :-)
Vor langer Zeit - Antworten
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