Gefangen!
„Was bildest du dir ein, Cornelia?“ Seine Stimme war beängstigend leise und er sprach direkt in ihr
Ohr. Auf Connys Rücken breitete sich eine starke Gänsehaut aus.
„Was habe ich denn jetzt schon wieder gemacht?“, fragte sie so ruhig, wie es ihr möglich war. Wenn
er ihren vollen Vornamen nutzte, war er entweder auf hundertachtzig oder sexuell dermaßen erregt,
dass er nicht mehr Herr seiner Sinne war. Beides hatte sie schon mehrere Male erlebt.
Conny versuchte, sich nicht anmerken zu
lassen, wie sehr sie sich vor ihm ekelte. Vor ihm, vor
seinem heißen, nach Alkohol stinkenden Atem, überhaupt vor der Situation an sich. Sie wusste,
wenn sie ihn ihre Abneigung spüren ließ, würde es noch schlimmer werden.
„Was du dir einbildest!“, brüllte er plötzlich und ohne Vorwarnung los, ohne sich dabei sonderlich
weit von ihrem Ohr zu entfernen. Sie zuckte zusammen und drückte auf ihrem Ohr herum in der
Hoffnung, den Pfeifton loszuwerden, der sich durch die unerwartete Lautstärke eingestellt hatte.
„Ich bilde mir gar nichts ein, was ist
denn los, Mensch?“, fragte Conny.
Er ballte die Hand zur Faust und hieb damit auf die Wand ein. Einmal, zweimal, dann noch ein
drittes Mal, bevor er sich mit wutglühenden Augen zu ihr umdrehte. „Ich bin fertig mit dir,
Cornelia. Das war's. Pack deine scheiß Sachen und verpiss dich!“
„Aber...!“
„Widersprich mir nicht!!!“ Seine Stimme überschlug sich, sein Gesicht nahm einen ungesund
dunklen roten Farbton an und er wies mit zitterndem Finger auf sie. „Du dreckige, kleine Hure. Ich
will dich hier nie wieder sehen, Cornelia.
NIE WIEDER!“
Jetzt riss auch Conny der Geduldsfaden. „Ich habe doch nichts gemacht!“, schrie sie zurück. „Was
soll ich denn getan haben? Du reagierst ja über, als hätte ich jemanden umgebracht!“
„Ich bring dich gleich um“, murmelte er.
„Bitte?!“ Der war ja völlig übergeschnappt. Vermutlich war es wirklich das Beste, sie ginge zurück
zu ihren Eltern, deren Tür ihr immer offen stand.
„Nichts, nichts.“ Er atmete tief ein und stieß die Luft mit einem Pfeifton wieder aus. Conny biss die
Zähne zusammen. Nicht provozieren
lassen. Keine Angst machen lassen. Genau das möchte er doch
erreichen. Ganz ruhig... Sie atmete selbst tief durch.
Als hätte er gemerkt, dass er zu weit gegangen war, trat er einen Schritt auf sie zu und schloss sie in
die Arme. Aber es war keine normale Umarmung unter Freunden. Conny spürte seine Erregung
zwischen ihren Beinen, während seine Hände zwischen ihrem Rücken und dem Hintern hin und her
wanderten. Sie verspannte sich, wollte ihn loslassen, doch ein warnendes „Nein!“ hinderte
sie
daran.
„Es hat sich doch schon mal jemand in deinem Freundeskreis umgebracht, hast du mir erzählt,
richtig?“
„W...was hat das jetzt damit zu tun?“
„Weil du eine schrecklich herzlose Person bist. Weil du egoistisch warst und nur an dich gedacht
hast.“ Verdammt, genau das waren ihre Worte gewesen, als sie ihm das vor wenigen Wochen in
einem schwachen Moment erzählt hatte. Da hatte sie ja nicht ahnen können, dass er ihre
Selbstzweifel nun für eigene Zwecke
nutzen würde.
Tränen stiegen in ihr auf, als sie an Victor dachte. Ihr ehemaliger Schulfreund hatte sich vor vier
Jahren das Leben genommen und noch immer war sie fest davon überzeugt, dass sie daran schuld
war. Aus genau den Gründen, die dieser widerliche Mann, der sie immer noch fest in seinen Armen
hielt, gerade genannt hatte. Sie war zu wenig für ihn da gewesen.
„Möchtest du, dass sich das wiederholt?“
„Nein“, das wollte sie natürlich nicht.
„Dann würde ich an deiner Stelle ein bisschen lieber zu mir sein.“
„Ich bin doch nicht für dein
Seelenheil...!“
Seine Hand in ihrem Nacken, die unerwartet hart zupackte, brachte sie zum schweigen. „So, und
nun wollen wir doch mal sehen, ob der lieben Cornelia nicht vielleicht selbst auffällt, was mir
missfallen könnte“, mit diesen Worten ließ er sie los und stieß sie ins Schlafzimmer. Zitternd sah sie
sich um. „Nichts“, murmelte sie.
„Meine Anlage. Guck dir das an. Und dann sag noch mal, du hast damit nichts zu tun. Ich werde
jetzt testen, ob sie noch geht, und wenn nicht – dann gnade dir Gott, Mädchen.“
Conny starrte die beiden Musikboxen an,
die auf dem Regal standen. Sie hatte den Boxen, seit sie
hier war, nie sonderlich große Beachtung geschenkt. Er nutzte normalerweise immer die große
Anlage im Wohnzimmer zum Musik hören oder den CD-Player, der im Bad stand. Die Delle in den
Lautsprechern, die aussah als hätte jemand kräftig hinein geboxt, ließ sich tatsächlich nicht leugnen.
Aber...
„Ich habe daran nichts gemacht“, beteuerte sie, auch wenn ihr klar war, wie sinnlos das war.
„Ach, halt doch die Schnauze.“
Conny schickte ein Stoßgebet zum
Himmel, dass die Musikboxen einwandfrei funktionierten, aber
das taten sie nicht. Von sauberem Sound waren sie weit entfernt. Es kratzte wie ein uralter
Schallplattenspieler.
„Und genau das meinte ich“, er betonte jedes Wort und bevor sie auch nur ein Wort der
Verteidigung sprechen konnte, nahm er sie in den Schwitzkasten. Unter wüsten Beschimpfungen
würgte er sie, bis sie Sterne sah und seine Stimme langsam zu einem Hintergrundrauschen
verschwamm... und dann wurde alles
schwarz.
Als Conny wieder zu sich kam, lag sie am Boden. Alles um sie herum drehte sich, ihr Hals
schmerzte und in ihren Ohren rauschte der Puls. Vorsichtig setzte sie sich auf und atmete ein paar
mal tief durch, bis der Schwindel nachließ.
Dann ging sie ins Bad und starrte ihr Spiegelbild an. Ihre Haare hatten sich aus dem Zopf gelöst und
auf ihrem Dekolleté befand sich eine weißliche Flüssigkeit. Sperma? Hatte er allen Ernstes auf ihr
masturbiert?
Zitternd ging sie zum Fenster und öffnete
es. Die Wohnung lag im Dachgeschoss und ihre
Höhenangst verhinderte, dass Conny lange hinausgucken konnte, aber um kurz durchzuatmen,
reichte es.
Dann ging sie ins Wohnzimmer, wo sie ihn vermutete, doch da war er nicht. Auch die anderen
Räume schienen verlassen. Selbst in der Besenkammer suchte sie ihn, vergeblich. Erleichterung
durchflutete sie. Selbst wenn er nur kurz einkaufen war, konnte sie es in der Zeit locker schaffen,
drei Stockwerke hinunter in die Freiheit zu
rennen.
Sie zog sich die Schuhe an, drückte die Klinke herunter und – prallte gegen die Tür. Panisch rüttelte
sie daran, zog und drückte, doch vergeblich. Die Tür war abgeschlossen, und den Schlüsselbund
hatte er natürlich mitgenommen.
Schreiend schlug und trat sie dagegen, bis sie schließlich weinend zusammenbrach. Sie war
gefangen. Bei einem Mann, der mehr als doppelt so alt war wie sie. Bei einem Mann, der sich als
schwul ausgegeben hatte, um ihr Vertrauen zu gewinnen. Bei einem Mann, der verdammt noch
mal
unberechenbar war.
Sie würde hier sterben.