Schreibparty 76
Thema:
Zugfahrt
Vorgabewörter:
heimlich
träumen
rattern
Notbremse
Dampf
Weiche
Verspätung
unterwegs
Ungeheuer
Meine kürzeste Bahnfahrt
Neulich las ich mal wieder, dass der Lokomotivführer auch bei den heutigen Jugendlichen noch immer zu den Traumberufen zählt. Was mich stets aufs Neue verwundert, da er seit der Elektrifizierung der Eisenbahn ja nur noch einem gehobenem Straßenbahnchauffeur gleichkommt. Zu meiner Jugendzeit, als die Züge noch von Dampflokomotiven gezogen wurden, war der Lokführer noch der schneidige Bändiger einer Höllenmaschine und damit auch mein Traumberuf; zumal er mir geradezu in die Wiege gelegt wurde. Mein Elternhaus lag in unserem kleinen Dorf nämlich keine 100m von einer vielbefahrenen Eisenbahnlinie entfernt, auf der damals noch der Orientexpress vorbei donnerte.
Nicht genug damit: Zwischen der Bahnlinie und unserem Garten befand sich auch noch ein
kleiner zweigleisiger Güterbahnhof, der lediglich zwei- oder dreimal pro Woche von Güterzügen aufgesucht wurde und daher uns Kindern oft als Fußballplatz diente. Hier konnten wir die Lokomotiven aus nächster Nähe bewundern, wenn sie sich auf dem Zugangsgleis langsam und schweratmend wie schwarze Ungeheuer näherten und aus dem Schornstein dicke Dampfwolken ausstießen. Zudem drang zwischen den riesigen Rädern noch weißer Wasserdampf mit zischenden Geräuschen hervor, die schließlich vom Kreischen und Rattern der Bremse übertönt wurden. Meist unterbrachen wir Jungs dann das Fußballspiel und trabten bis zum Stillstand neben der Lokomotive her, wobei wir unterwegs „Wasser, Wasser ...“ riefen. Schlimmstenfalls streckte der Lokführer darauf seinen meist rußgeschwärzten Kopf zum Seitenfenster heraus und verjagte uns fluchend, doch wenn wir Glück hatten, war es einer, der auf unser Spiel einging und uns mit
einem Wasserschlauch nass spritzte. Die meisten rannten dann johlend aus dem Spritzbereich heraus, doch die Tapfersten blieben standhaft und hielten - sofern das Wasser nicht zu heiß war - unerschrocken ihr Gesicht hin. Ich gehörte oft mit dazu, insbesondere wenn ich vorher als Torwart im „rußigen Tor“ stand und danach selber ein rußgeschwärztes Gesicht hatte. Das Tor befand sich nämlich in dem Bereich des Spielplatzes, an dem Kohle abgeladen wurde und der Boden voller Kohlestaub war. Bei Flugparaden machte sich der Torwart zwar von oben bis unten schmutzig, doch im Gegensatz zum gegenüberliegenden „steinigen Tor“ stieß man sich weder Knie noch Ellbogen blutig. Wenn mich dann die Freunde frotzelten, ich sähe wie ein Eisenbahner aus, war ich insgeheim stolz darauf und tagträumte, dass mir zu meinem Traumberuf nur noch eine Lokomotive fehlte, mit der ich in der Welt herum fahren und all die
Kinder nass spritzen würde, die sich dies wünschten
Nach der Wasserschlacht winkten wir dem grinsenden Lokführer und dem Heizer hinterher, als sie nach Abkopplung der Güterwaggons davon dampften. Sie fuhren bis hinter die Weiche, stellten sie mit der Hand um und kehrten auf dem anderen Gleis rückwärts zum Bahnhof zurück. Sobald sie außer Sicht waren, inspizierten wir heimlich die Waggons und kletterten neugierig auf ihnen herum. Am liebsten waren uns die Wagen mit einem Bremserhäuschen, in denen wir Verstecken oder Lokführer spielen konnten. Doch leider gab es mit dem Bahnwärter einen lästigen Spielverderber, der uns keinen Spaß gönnte und stets aus dem Bahnhof herbei rannte, wenn er uns auf den Waggons spielen sah. Gottseidank lief er jedoch nicht schnell genug, da er stets mit einer Hand seine Schirmmütze auf dem
Kopf halten und mit der anderen seinen mitschwingenden Spaten an der Koppel festhalten musste. Daher waren wir meist bereits in allen Richtungen verschwunden, wenn er mit Verspätung am Güterwagen ankam,
Einmal jedoch wurde es äußerst knapp, und er hätte uns fast erwischt. Damals hatten der Bahnwärter und seine Gehilfen die schwere, etwa zwei bis drei Meter lange Eisenstange liegen lassen, mit der sie - allerdings unter hohem Kraftaufwand - einen Güterwagen zu Rangierzwecke in Bewegung versetzen konnten. Die Stange war wie ein riesiger Meißel geformt, der mit der Spitze fest zwischen die Schiene und einem Rad geschoben und am anderen Ende mit viel Körpergewicht nach unten gezogen wurde. Dank des langen Hebelarms bewegte sich die Meißelspitzen dann etwas nach oben und versetzte das Rad in Drehung. Als wir zufällig diese Stange im hohen Gras zwischen
den Schienen liegen sahen, wollten wir Knirpse es nachmachen, konnten aber alle zusammen nicht einmal die Stange in Position hoch heben. Doch zu unserem Glück kamen zufällig zwei ältere, kräftige Brüder eines unserer Freunde vorbei, die früher schon den Bahnwärter foppten und die für jeden Streich zu haben waren. Daher halfen sie uns feixend, nachdem einer von ihnen ins Bremserhäuschen gestiegen war und die Bremse gelöst hatte.
Ich war natürlich begeistert mit dabei, als die Stange hochgehoben wurde, doch als Jüngster und Kleinster unserer Bande störte ich mehr als ich helfen konnte. Ich wurde deshalb hoch ins Bremserhäuschen geschickt, um dort nach dem leidigen Bahnwärter Ausschau zu halten. Als ich dort aber keinen sah, richtete ich mein Augenmerk auf meine Kumpels, denen es nach mehreren vergeblichen Versuchen endlich gelang, den leeren Wagen langsam in Bewegung
zu setzen. Nachdem mit lautem Freudengeschrei ungefähr ein oder zwei Meter zurückgelegt waren, blickte ich wieder mal aus dem Fensterchen und sah zu meinem Schrecken den Bahnwärter schon in bedrohlicher Nähe heran hetzen. Ich schrie sofort „Alarm!“, und die ganze Bande stob davon. Der Bahnwärter rannte hinterher und ich duckte mich und war erleichtert, dass er mich oben im Häuschen übersah. Da mir zuvor einer Brüder noch zugerufen hatte, ich solle die Notbremse ziehen, drehte ich mit aller Kraft an der Bremskurbel, brachte aber nur eine geringe Bremswirkung zuwege. Da mir dies reichte, sprang ich auf der anderen Seite - unbemerkt vom Bahnwärter - aus dem Bremserhäuschen und beendete somit die kürzeste Bahnfahrt meines Lebens.