Mystic – Liebe – Fantasy
„Salwidizer – ein Volk so alt wie die Zeit. Ihre Heimat ist Adanwe, eine Anderwelt. Ihnen wurden unermessliche Gaben zuteil, doch zu welchem Preis … “
Auf der Reise mit ihrer Freundin Larissa durch Schottland verschwindet Anna spurlos.
Als am Holborn Head die Leiche ihres Verlobten gefunden wird, ist der Polizei schnell klar, die beiden sind bei einem nächtlichen Spaziergang in den Tod gestürzt und Annas Körper wurde von den Fluten des Ozeans fortgespült.
Einzig Larissa glaubt weder an einen Unfall noch an Annas Tod. Sie begibt sich auf die Suche nach der Wahrheit und gerät dabei an ihre Grenzen.
Zu allem (Un)glück tauchen auch noch angebliche Verwandte und Freunde von Anna auf. Damit nimmt das Leben, so wie Larissa es bisher kannte, eine atemberaubende
Wende.
Vorwort Irgendwann hatte er seine Augen geschlossen, um der ewigen Finsternis zu entfliehen. Die Schreie in seinem Kopf waren verstummt. Es waren seine Schreie. Seine Pein, die er nicht hinaus in die Welt schleudern konnte. Er war gefesselt und geknebelt … und sie hatten ihn zurückgelassen, damit ihn die Dunkelheit verschlingen konnte. Seither existierte er ohne Zeit und Raum. Wie lange mochte sein Martyrium andauern? Ein Leben lang? Er hätte laut auflachen können, wenn er dazu in der Lage gewesen wäre. Ein Leben lang. Er war unsterblich. Fast
unsterblich. Was war es nur, was ihn töten konnte? Nicht dieses Nichts. Aber was? Langsam begann sich sein Erinnerungsvermögen aufzulösen und zu entschwinden … im Nirgendwo. Sein Körper sehnte sich nach irgendetwas. Nach Schlaf, Speis' und Trank? Er wollte es nicht mehr wissen. Die Energiereserven waren aufgebraucht. Was von ihm übrig war, wurde durch eine silberne Perlenschnur, die ihn wie eine zweite Haut umschloss, zusammengehalten, nur um ironischerweise alles aus ihm herauszusaugen, was ihn einst ausgemacht hatte. Mit einem letzten Funken fühlte er, wie er von einem Strudel erfasst wurde, der ihn immer
schneller mit sich zog. War das der Tod? Seine Seele schien aus ihm herausgerissen zu werden und alle seine Sinne schwanden. So sah er nicht mehr, wie in weiter Ferne die Sonne durch die Finsternis brach und gleich darauf ihre feurigen Strahlen vom Mond in die Dunkelheit zurückgedrängt wurden. Er spürte auch nicht mehr, wie er auf der Erde aufschlug. *** Um einen tiefen Krater standen die Eingeborenen herum. Sowohl Neugier als auch Angst hatten Jung und Alt an den Schauplatz gelockt. Nicht alle Tage verschwand die Sonne am frühen Nachmittag
vom Himmel. Ein Omen. Kurz darauf fiel er aus der Dunkelheit. Ein Gott. Es konnte nur ein Gott sein. Er hatte die Sonne vom Himmel verschwinden lassen, damit keiner auf der Erde bemerkte, wie er vom Himmel herabgestiegen war. Es konnte nur ein Gott sein, wenn seine Haut wie pures Silber der Sterne glänzte. War er tot? Warum bewegte er sich nicht? Nein, ein Gott war unsterblich. Dennoch zuckte er nicht. Warum? Der Schamane würde es wissen. Aufgeregtes Gemurmel schwappte durch die Menge. Das Klappern von Klanghölzern und ein monotoner Singsang kündeten den Heiligen Mann des Stammes an.
Ein sehniger Mann, jenseits jeglichen Alters, bahnte sich einen Weg durch die Menge. Seine Haut war braun und von Sonne, Wind und Regen gegerbt. In sein weißes, langes Haar waren Federn, Knochen und verschiedene Pflanzen geflochten. Ein schmaler Kupferreif mit ausgestanzten mystischen Symbolen schmückte seine Stirn. Ebensolche Reifen schlängelten sich die dünnen Arme empor. Außer einem Lendenschurz aus Fell trug er nichts. Sein durch Fett glänzender Oberkörper bestach durch seine gepiercten Brustwarzen. Links ein Knochen. Rechts ein Federkiel. Nach und nach bildete sich eine Gasse durch die Zuschauer und gab dem Schamanen die Sicht in den Krater frei. Er stieg hinab und
umrundete in einer Art Tanz das daliegende Wesen. Dabei rief er die Hilfe der vier Elemente Luft, Wasser, Erde und Feuer an. Von einem auf den anderen Augenblick hielt er inne und betrachtete die Gestalt mit stahlhartem Blick. Er beugte sich hinab und berührte mit dem extrem langen Nagel seines kleinen Fingers der linken Hand den Knebel. Leise murmelte er magische Formeln und der Silberpfropfen löste sich in viele kleine Sterne auf, die zurück in den Himmel schwebten. Dann nickte der Heilige Mann wissend mit dem Kopf und winkte vier starke Jünglinge heran, die den Körper in eine nahegelegene Höhle bringen sollten. Sofort wurde für den Fremden ein Lager aus Fellen gerichtet, ein Feuer entzündet und die
Frauen brachten Speisen und Krüge mit Wasser herbei. Der Schamane löste auf die gleiche Weise, wie wenige Augenblicke zuvor den Knebel, die Silberkette um seinen Körper. Dieses Mal stiegen die Sterne zur Decke der Höhle empor und spendeten gedämpftes Licht. Die Alten setzten sich im Kreis an die Höhlenwand und begannen auf ihren Trommeln und Klanghölzern den Rhythmus des Pulsschlags von Mutter Erde zu verstärken, um das Blut des Fremden in Wallung zu bringen und damit sein Herz wieder stark schlagen zu lassen.
***
Er hörte das gleichmäßige Dröhnen und spürte sogleich, die Schwingungen durch seinen Körper pulsieren. Er fühlte sich frei. Seine Seele kam zurück. Sein Geist war der eines Neugeborenen. Ohne Wissen, nur durchdrungen von niedrigsten Instinkten. Atmen. Essen. Trinken. Sein Brustkorb hob und senkte sich. Tief atmete er mehrmals ein. Er genoss die saubere klare Luft, den Sauerstoff, der all seine Zellen zum Leben erweckte. Und dann roch er es. Köstlich. Süß. Warm. Er schlug die Augen auf und unvorbereitet überrollte ihn ein unbändiger Hunger. Nicht ahnend, dass er übernatürliche Kräfte besaß, stürzte er sich blitzschnell auf seine
Opfergaben und schlug seine Zähne in Arterien und Venen. Es war wie ein Festschmaus. Berauscht von all dem gehaltvollen Blut fragte er sich: War es das, was ich vermisst hatte? *** Dem Tod geweiht blieb ihm nur ein letztes Stöhnen. Doch dann explodierte das Leben spendende Elixier auf seiner Zunge. Er spürte, wie sich jede seiner Zellen verjüngte und er an Kraft zunahm. Endlich. Er war ein Gott. … Tenebrosus – Gott der Finsternis.
Der Auftrag Klick … Klick … Klick … Unaufhörlich rückte der Zeiger der großen Uhr an der Wand vorwärts. Michael wanderte ruhelos durch den Raum, blieb stehen, starrte auf das Ziffernblatt, setzte seine Wanderung fort. In wenigen Minuten würde sich sein Auftraggeber melden. Dann musste er sein Versagen eingestehen. Zum ersten Mal konnte er einen Kunden nicht zufrieden stellen. Diesen Auftrag hatte er vermasselt. Dabei schien er doch einer der leichtesten zu sein. Er fuhr sich durch sein kurzes, dichtes Haar und blickte in Richtung Monitor, auf dem sich jeden Moment ein
Fenster für den Live-Chat öffnen würde. Er hatte noch nie versagt. Wie konnte es nur so weit kommen? Bisher war alles so gut gelaufen. Genau wie er es geplant hatte. Sein kleines Unternehmen florierte fast von allein. Wie ein Lauffeuer hatte es sich in angesagten Kreisen herumgesprochen, dass er nicht nur jede Art von Computern individuell pimpen und personalisierte Programme sowie private Spiele schreiben und installieren konnte, sondern auch für jegliche Fehler- und Problembehebung rund um die Uhr ein kompetenter und vor allem vertrauenswürdiger Ansprechpartner war. Sein Hobby zum Beruf machen war schon immer sein größter Traum gewesen. Alles was mit Computern, Internet, Programmieren und
dem dazugehörigen Know-how zu tun hatte, war von Kindheit an sein Faible. Er ging darin auf. Probleme? Das Wort existierte bisher in seinem Wortschatz nicht. Jede harte Nuss konnte geknackt werden. Je anspruchsvoller, desto verlockender, ein besonderer Kick. Nebenbei eröffneten sich für ihn ganz neue Möglichkeiten, jede Menge Kohle zu verdienen. Was wollte er mehr? Solange die Summe stimmte, stellte Michael keine Fragen. Er besorgte und lieferte jedwede Information. Auch wenn es illegal war. Er persönlich richtete ja keinen Schaden an, installierte keine Trojaner, übertrug keine Viren, veränderte nichts an der Software. Er hackte. Kopierte sich lediglich dies und jenes, je nach Wunsch des Kunden. Was der dann mit dem
gelieferten Material machte, ging ihn nichts an. In dem Punkt fühlte er sich so wenig schuldig, wie Waffenhändler oder Drogendealer. Die Käufer waren reif genug, eigene Entscheidungen über den Gebrauch der Waren zu fällen. Eventuelle Schäden an Dritten gingen nicht auf seine Kappe. Das war seine Einstellung bis zu dem Tag, an dem ihm dieser Irre auf die Finger klopfte. Wie auch immer das dieser @Benet_Russo gemachte hatte, er wusste alles über ihn. Selbst Dinge, die keiner ahnte, geschweige denn wusste und die ihn unweigerlich an den Rand des Ruins und gleich darauf in den Knast bringen konnten. Im Gegenzug war über Russo nichts herauszubekommen. Allein der Name Benet … die Koseform von
Benedikt, vor allem im Mittelalter gebräuchlich …
Einfach lächerlich … Benet. Und dann noch in Verbindung mit Russo aus dem Italienischen. Wer bitte nannte sich so? Ich selbst bin nur als @amore.cavallo.bianco unter Hackern bekannt. Wie also ist Russo auf mich und meine wahre Identität aufmerksam geworden? Frustriert schlug Michael zum wiederholten Male mit der Faust auf den Schreibtisch. Die Tastatur machte einen Satz, Stifte rollten auf den Boden. Ohne sich jedoch darum zu scheren, ließ er sich mit einem Seufzer auf den Stuhl vor seinem Computer fallen und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Er fühlte sich so … ohnmächtig.
Wut, Frustration, Ärger aber auch Angst stritten in seinem Inneren um die Vormachtstellung. In ihm tobte ein Krieg der Gefühle. Was habe ich nur falsch gemacht? … Vielleicht hätte ich doch die englische Version @white.horse.love nehmen sollen. Italienisch war anscheinend zu einfach. Zu einfach, wenn Benet Russo doch Italiener war. Hm … gut möglich. Benet … englische Form des deutschen Namens Benedikt. Und der wurde durch den Heiligen Benediktus von Nursia bekannt. Dieser war ein italienischer Mönch, der den Orden der Benediktiner gründete. … Scheiße aber auch, dass sich so gar nichts über den Kerl im Netz fand. Als ob er nicht
existierte. Nicht mal eine Rückverfolgung zu seinem Standort war möglich. Nun gut, ist auch irrelevant, weil er mich und Anna auf sein Anwesen auf Ventotene eingeladen hatte. Ich sollte dafür sorgen, das es zu dem Treffen mit ihm kam. … Sollte das schon der Auftrag gewesen sein? Dann war es keiner, wie ich ihn bisher erledigt habe. Hm … Was will er von uns, von Anna? Oder geht es ihm nur darum, seine Macht zu demonstrieren und ich bekomme den eigentlichen und wahrscheinlich gefährlichen Auftrag erst dort? … Egal. Es schwang auf jeden Fall unmissverständlich eine Drohung in seiner Bitte mit, das Wochenende gemeinsam zu verbringen. … Mist verdammt. … Ventotene
Lediglich an Russo zu denken … und alle Haare stellten sich Michael auf. Er strich sich unruhig über die Arme. Ihm war plötzlich eiskalt. Alles in ihm verkrampfte sich, um das bisschen Restwärme zu bewahren. Warum beschert der Gedanke an die Insel mir nur solch eine Gänsehaut? Sie ist eine der Ponza-Inseln, eine Inselgruppe gelegen im Tyrrhenischen Teil des Mittelmeeres und gehört zu Italien. … Italien. … Also doch Italiener? … Aber über das Anwesen … Null Informationen. Es gehört einer Gesellschaft, in der wiederum verschiedene Unternehmen weltweit ihre Finger haben. Keine Namen von Personen. Nichts. Und über die Insel? … Nur das allgemeine Blabla von Wikipedia und dem Tourismusverband. Gerade mal eine Fläche
n 153 Hektar und vulkanischen Ursprungs und eine arg blutige Geschichte, die alles andere als einladend ist. Selbst die benachbarte kleine unbewohnte Insel Santa Stefano mit Ruinen eines berüchtigten Staatsgefängnisses erinnern an den „Graf von Monte Christo“ und sein Château d’If. Wer will denn dort wohnen? Michael schüttelte die unangenehmen Empfindungen ab und schimpfte sich selbst einen Idioten. Er musste einräumen, dass Russo wahrscheinlich einfach die Einsamkeit, Ruhe, Meer und Natur liebte. Die Insel, die nicht weit entfernt vom Touristenmagneten Rom lag, war außerhalb Italiens fast unbekannt. Vielleicht doch nicht ganz so übel abseits jeglichen Trubels. So ein wenig
Schnorcheln und Tauchen und mit 'ner Jacht rumkurven … Musste Anna ausgerechnet jetzt eine Schottlandrundreise mit ihrer Freundin machen? … Ist doch Mist. Wenn sie wenigstens für das eine Wochenende ihre Tour unterbrochen hätte. Ist doch alles zum … Das ehemalige Limburger Glockenspiel „Fuchs du hast die Ganz gestohlen …“ signalisierte die Öffnung des Chatrooms. Michael fuhr herum und seine dunkelbraunen Augen hefteten sich auf den Text in dem Fenster, das soeben aufpoppte. Auch bei mir wird wohl bald diese Melodie Geschichte sein. Nicht weil ich ein Tierschützer bin, sondern weil mich der Jäger geholt hat. … Verdammt, was soll's! Tief durchatmen und los geht’s.
@Benet_Russo Ich bin verärgert. Sie hatten einen Auftrag. Liegt Ihnen Ihr Wohlergehen nicht am Herzen? Arsch. Wie wäre es mit einem Hallo oder Guten Morgen? Aber den kann ich mir eh abschminken. @amore.cavallo.bianco Tut mir aufrichtig leid. Doch dieser Auftrag lag nicht in meinem Ermessen. @Benet_Russo Was soll das heißen? Wo liegt das Problem, sich mit Ihrer Freundin in den Flieger zu setzen und auf meinem Anwesen ein paar
Tage mein Gast zu sein? Ich sitze hier und Sie sind nicht da! Ich schätze eine derartige Unzuverlässigkeit nicht. Bla bla bla. Der kennt eben Anna nicht. Wie konnte ich diesem Besuch zustimmen, ohne mich mit ihr abgesprochen zu haben. Selbst mein akribisch einstudierter Hundeblick konnte sie nicht dazu überreden. Stattdessen hatte sie die Hände in ihre schlanke Taille gestemmt und mich zornig aus ihren türkisfarbenen Augen angefunkelt. Ich wüsste doch schon seit einem Vierteljahr, dass sie mit Lara diese Tour entlang der schottischen Küste geplant hatte. Sie dächte, wir wären gleichberechtigte Partner in unserer Beziehung und würden alles miteinander
abstimmen. … Sie ist so heiß, wenn sie so drauf ist. Schon die Erinnerung daran lässt mich hart werden. Michael ruckelte nervös auf dem Stuhl herum und zerrte an seiner Hose, um es sich etwas bequemer zu machen. Okay … irgendwo hatte sie ja auch recht. Vor drei Monaten hatte ich keine Einwände betreffs ihrer Reise. Hatte mich sogar auf eine kleine Auszeit gefreut. … Hm … Ich konnte ja auch nicht wissen, dass dieser … dieser … Ach Scheiß'! @amore.cavallo.bianco Wie gesagt, es tut mir leid. Meine Freundin hatte bereits eine andere Reise in Sack und Tüten. Da konnte nichts mehr storniert werden.
@Benet_Russo Wann? Wohin? Wie lange? Mit wem? Bin ich ein Hund, dem man einfach Knochen hinwirft und dann Befehle brüllt? Außerdem geht es den Kerl einen Scheiß an, wann, wohin und so. Sie ist momentan nicht verfügbar und basta. @amore.cavallo.bianco Vor einer Woche … nach Schottland … ohne Zeitlimit … mit ihrer Freundin. Sag mal Sommer, geht’s noch? Was erzählst du denn dem Typen, was er wissen will? Michael zog die Stirn kraus. Er hatte ohne es verhindern zu können, die Antwort eingetippt
und abgeschickt. Hä? ... Warum hab ich das denn jetzt gemacht? Vielleicht liegt ja in Russos Worten ein unterschwelliger Befehl, der in mir einen Zwang auslöste? So schnell wie der Gedanke aufgetaucht war, war er auch wieder verschwunden. Michael blieb keine Zeit, über den Wirrwarr in seinem Kopf und sein irrationales Verhalten nachzudenken. Sofort erschienen neue Fragen. @Benet_Russo Reiseroute? Orte? Wann? Der ist ja echt besessen. Was kann denn so wichtig sein, dass der hier so eine Psychonummer abzieht. Auf keinen Fall
werde ich so mit Russo weiterchatten. Das grenzt definitiv an ein Verhör. Was?! Wie aus dem Nichts musste Michael plötzlich an das Gefängnis auf Santa Stefano denken. Szenen von Menschen, halb verhungert, in Käfigen oder an den Füßen von der Decke hängend, Schreie, Jammern und Unmengen an Blut zogen vor seinem inneren Auge vorbei. Was?! Er schüttelte entsetzt den Kopf, versuchte die Bilder abzuschütteln. Vergebens. Schweißperlen rannen ihm an den Schläfen herunter. Wie ferngesteuert antwortete er. @amore.cavallo.bianco Sie sollten morgen in Edinburgh ankommen.
@Benet_Russo Gut. Sie werden dahin fahren und sich mit Anna treffen. In der High Street gibt es ein Juweliergeschäft. Kaufen Sie ihr einen Ring. Opulent. Schwarz. Eine weiße Perle umgeben von dreizehn schwarzen Diamanten. Ein Geschenk von mir. Michael versuchte sich, von seiner sich steigernden Verwirrung zu befreien. Kaum dass er einen klaren Gedanken fassen konnte. Ring? Geschenk? Wofür? Diamant … Was erwartet Russo nur von mir als Gegenleistung? … Gott, was für ein Schei … Ein stechender Schmerz fuhr durch seine Stirn. Michael drückte die Hände an die Schläfen, als könnte er damit dem
zunehmenden Druck im Kopf Einhalt gebieten. Irgendetwas stimmt nicht mit ihm. Beweg deinen Arsch und hol dir 'ne Flasche Wasser. Trinken hilft immer. Los! Mach! Mühsam stemmte sich Michael hoch und kämpfte sich gegen eine unsichtbare Wand in Richtung Küche. Außer Reichweite seines Arbeitsplatzes ging es ihm auf einen Schlag besser. Und da waren sie wieder … seine Gefühle, die einen inneren Krieg ausfochten. Er hatte sie während des Chats nicht im Entferntesten vermisst. Es schien, als hätten sie etwas anderem Platz gemacht, nur um nun mit doppelter Härte zuzuschlagen. Was in Dreiteufelsnamen war denn bloß los? … Live-Chat … Russo … Aber was …? Michael versuchte sich zu erinnern, was im
Live-Chat besprochen wurde. Was hatte Russo von ihm gewollt? Er wusste nur eins, sie waren noch nicht fertig. Er musste wieder zurück. Jetzt. Sofort. Später würde er das Gespräch nochmals Revue passieren lassen und analysieren. Michael hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, alle seine Besprechungen via Internet aufzuzeichnen. Nicht direkt auf seinem Computer, sondern auf einer externen Festplatte über eine sogenannte sichere Leitung, verschlüsselt mit einem komplizierten Code. Wobei … war er wirklich so gut verschlüsselt? Das Gleiche hatte er bei seinem User-Name auch gedacht. Langsam fing Michael an, an seinen Fähigkeiten zu zweifeln. Später … später würde er sich
darum kümmern. Jetzt musste er zurück zu seinem Live-Chat. Russo war bestimmt schon stinksauer, weil er nicht sofort geantwortet hatte. Mitten im Schritt hielt er inne. Wasser. Ich wollte mir doch eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank holen. Echt jetzt …? Die Augen verdrehend schnappte er sich eine Flasche und machte sich wieder auf zu seinem Schreibtisch. Eine neue Nachricht stand bereits auf dem Bildschirm. In der Tat … Russo war sauer. @Benet_Russo Sommer! Was ist los! Ich habe Ihnen eine Anweisung gegeben und erwarte unverzüglich
ein Okay! Gott was für ein Arsch. … Welche Anweisung? … Ach ja. Ring. @amore.cavallo.bianco Wie soll ich ihr erklären, weshalb ich da bin und wofür der Ring sein soll? Das ist doch total unsinnig. Was mache ich, wenn sie den Ring nicht mag? Können wir nicht warten, bis sie zurück ist? Ich dachte, Sie hätten einen besonderen Auftrag für mich? @Benet_Russo Ich merke schon, ich habe Sie absolut überschätzt. Das, junger Mann, ist der Auftrag. Sie werden mir Anna persönlich
vorstellen. Sie sind doch nicht auf den Kopf gefallen. Lassen Sie sich was einfallen. Hauptsache, Sie stecken ihr diesen Ring an den Finger. Wenn nicht … Sie wissen, ich habe alle Möglichkeiten, Ihre illegalen Handlungen auffliegen zu lassen. Und glauben Sie mir, das ist keine leere Drohung. … Michael, ich wünsche Ihnen und Anna ein paar schöne Tage in Edinburgh. Der Chat war beendet, ohne dass Michael noch Fragen loswerden konnte, die ihm auf der Seele brannten. Er starrte auf den Monitor, auf dem der Cursor als kleine rote Bombe mit Teufelsfratze blinkte. Im nächsten Moment explodierte sie und erstrahlte in einem farbenfrohen Feuerwerk
auf dem schwarzen Bildschirm. Mit dem letzten verlöschenden Funken fiel ein Briefcouvert herab. Es öffnete sich und der Inhalt ließ Michael aufstöhnen. >Auch Ihr User-Name @white.horse.love hätte sie nicht vor mir gerettet. Ich liebe Rätsel um Namen … Michael Sommer … Schimmel amore … weißes.Pferd.Liebe … Ich wusste gar nicht, dass Sie ein Schimmelliebhaber sind. Sei's drum, ich werde es Ihnen sagen. Nicht Sie haben meine Aufmerksamkeit geweckt, sondern Ihre Freundin. Mein junger Freund, auch ein glückliches Händchen in Sachen Liebe kann einem am Ende das Genick brechen. Bringen Sie Anna Braun zu mir und Sie sind frei.<
Fassungslos hingen Michaels Augen auf dem Brief. Das war es also. Russo war gar nicht an Michaels Fähigkeiten interessiert. Er war nur auf Anna scharf. Warum? Woher kannte er sie? Was, wenn ich mich weiger, diesen Auftrag auszuführen? … Wenn ich ihm Anna nicht bringe, bricht es mir das Genick? Wollte Russo mir das zu verstehen geben? Liebe oder Leben? Scheiße! Gehe ich auf den Handel ein, bin ich frei. … Ja frei von was? Von Russo? Von Anna? Frei von Liebe? Was ist mit dem Leben? … So ein Arschloch! Mit einem Wisch fegte Michael wütend all den Kram, außer dem Monitor, von seinem Schreibtisch, bevor er von seinem Stuhl aufsprang und diesen mit voller Wucht gegen
ein Bücherregal rammte.
Scheiße! Scheiße! Scheiße! Er raufte sich die Haare, hockte sich an die Wand und schlug seinen Kopf immer wieder gegen diese. Er fuhr sich ratlos mit der Hand übers Gesicht. Was sollte er jetzt nur tun? Immerhin hatte ein Gefühl in ihm die Oberhand gewonnen. Verzweiflung. Michael wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war. Ihm taten die Knie weh und er brachte sich in eine aufrechte Stellung. Sein Blick fiel auf die externe Festplatte. Wozu er sich auch immer entscheiden mochte, zuerst musste er den Chatverlauf prüfen. Er konnte sich nur noch an einen Bruchteil des Gesprächs mit Russo erinnern. Normalerweise litt er ja nicht unter Gedächtnisschwund, aber bei diesem
Live-Chat … Nichts war so, wie es sein sollte. Der junge Mann strich sich sein braunes, kurzes Haar zurück, hob seinen Stuhl auf und setzte sich an den Schreibtisch. Er verschränkte die Hände ineinander, streckte die Arme durch und ließ die Fingerknöchel knacken. Im nächsten Moment tanzten seine Finger in einem flotten Rhythmus über die Tastatur. Das war Michaels Welt. Hier wusste er, was er tat. Er checkte den Chatverlauf, verstärkte die Sicherheit des Zugangscodes seiner externen Festplatte und buchte letztendlich einen Flug nach Edinburgh, einen Mietwagen direkt am Flughafen und ein Zimmer in dem Hotel, in welchem auch Anna und Larissa absteigen würden.
Die Maschine von Ryanair ging in weniger als vier Stunden von Berlin-Schönefeld. So blieb Michael nicht viel Zeit um großartig nachzudenken. Schnell stopfte er wahllos Boxershorts, Socken, T-Shirts und diverse Kosmetikartikel in eine Reisetasche. iPhone, Kreditkarten, Reisepass … alles dabei. Er verließ die Wohnung, ohne sich noch einmal umzudrehen. *** Der Verkehr quer durch Berlin forderte seine ganze Aufmerksamkeit und so blieb für andere Gedanken kein Platz. Anders sah es dann am Flughafen aus. Michael lag gut in der Zeit. Ein Anruf, der
Anna seine Ankunft in Edinburgh ankündigte, war auf jeden Fall noch drin. Sofort holten ihn wieder Fragen nach dem Wie und Warum ein. Das Piepen in seinem Mobiltelefon wurde von der Mailbox abgelöst. Genervt brummte Michael seinen Text aufs Band. Boah, wird die stinkig sein, wenn sie ihre Nachrichten abhört. Aber warum geht sie auch nie an ihr Handy. Ist doch Käse. Sie hat eins und sollte somit immer erreichbar sein. … Na ja, andererseits habe ich jetzt noch eine Schonfrist und kann mir auf dem Flug schon mal die eine oder andere Begründung meines Besuchs überlegen. Vor allem aber, wie ich sie in diesen verdammten Schmuckladen bekomme und ihr jenen Ring schmackhaft mache. … Opulent. Was heißt
denn opulent?… Mit großem Aufwand gestaltet. Aus dem Lateinischen … opulentus = reich, wohlhabend, vermögend, stark, mächtig. Wer redet denn so? Wahrscheinlich wieder so ein Wortspiel von ihm. Wer weiß, was der Ring bewirkt. Vielleicht wäre es besser, ihn nicht Anna an den Finger zu stecken. Ganz in seinen Überlegungen versunken, flog Michael seinem Ziel entgegen.
Der Verlobungsring Schweigend saßen sich die beiden jungen Frauen beim Frühstück im Speisesaal des Hotels gegenüber. Sie hatten extra einen Tisch am Fenster abseits des Trubels gewählt. Während Larissa ihren Tee umrührte und darauf wartete, dass ihre Freundin endlich mit ihr sprach, starrte Anna hinaus auf den Fluss. Lustlos hatte sie in ihrem Porridge gelöffelt und dann die Schüssel beiseite geschoben. Ohne den forschenden Blick von Larissa wahrzunehmen, ruhten ihre türkisfarbenen Augen auf der Wasseroberfläche des Flusses, in dem sich neben den Gebäuden
entlang des Ufers auch weiße Wolken spiegelten. Der Wind hatte aufgefrischt und die graue Regenfront der vergangenen Tage vertrieben. Es schien heute ein schöner Tag zu werden. Ein Tag mit Sonnenschein. Hm … Ein Tag um nach vorn zu schauen. „Er hat mir einen Heiratsantrag gemacht.“ Die Worte kamen emotionslos wie aus dem Nichts. Hatte Anna soeben etwas gesagt? Sie scheint mit ihren Gedanken noch immer irgendwo zu verweilen, nur nicht hier. „Was?“ Larissa hielt in der kreisenden Bewegung mit ihrem Löffel im Teeglas inne und legte den Kopf schief. Sie meinte, sich verhört zu haben. „Michael? Michael will dich heiraten?“ Anna seufzte leise und drehte sich endlich
ihrer Freundin zu. Sie strich sich eine Strähne der kürzeren Seite ihres asymmetrisch geschnittenen Bobs hinters Ohr und atmete tief durch. „Ja, wollte er. … Aber jetzt ist es aus. Wir haben uns getrennt. Oder … er hat sich von mir getrennt.“ Verwirrt zog Larissa eine Braue nach oben. „Was?“ Der Schein eines Lächelns huschte über Annas Gesicht. So sprachlos wie an diesem Morgen hatte sie Larissa selten erlebt. Aber eine andere Reaktion war auch kaum zu erwarten gewesen. Seit sie Edinburgh verlassen hatten, hüllten sich die Frauen in Schweigen. Nun ja, eigentlich hatte Anna das große Tuch des Schweigens über sie beide ausgebreitet.
Noch vor zwei Tagen war sie die wahrscheinlich glücklichste Frau gewesen. Michael hatte sie in Edinburgh überrascht und um ihre Hand angehalten. Doch dann kam alles anders. Er hatte sie in diesem entzückenden Schmuckladen in der High Street einfach stehen lassen und war wutentbrannt davongestürmt. Seitdem hatte Anna nichts mehr von ihm gehört. Kein Anruf. Keine SMS. Nichts. Die gesamte Fahrt von Edinburgh über Aberdeen, Fraserbrugh und Buckie entlang der Küste Schottlands nach Inverness war Anna in Gedanken gewesen und hatte nach Gründen für Michaels Verhalten gesucht. Die raue Schönheit des Landes war an ihr
vorbeigeflogen, ohne dass sie ein Auge dafür gehabt oder sich daran erfreut hätte. Noch weniger war sie in der Lage gewesen, ihr Publikum daran teilhaben zu lassen. Deshalb war sie dankbar, dass sich Larissa den geplanten Reisebeschreibungen und Fotos für ihren gemeinsamen Blog angenommen hatte. Und diese hatte wirklich hervorragende Arbeit geleistet. Auch am gestrigen Nachmittag war sie allein durch Inverness gewandert und hatte die schönsten und bekanntesten Sehenswürdigkeiten erkundet. Heute morgen, noch vor dem Frühstück, waren erste Empfehlungen für eine Sightseeing-Tour durch die City der Stadt aufbereitet und online gestellt.
Aber Anna verspürte ihrer Freundin gegenüber nicht nur Dankbarkeit. Das schlechte Gewissen nagte an ihr. Was hatte sie ihr in den letzten Tagen nur zugemutet? Welche Freundin tat so etwas? Hatte sie denn kein Vertrauen? Respekt? Es wurde Zeit, dass sie sich Larissa öffnete. „Ja. Ich glaube, ich habe es vermasselt. Michael ist wieder weg.“ „Aber …“ Erst ein Heiratsantrag und dann plötzlich Schluss? Wie groß kann ein Fehler sein, der eine so langjährige Beziehung kaputt macht? Larissa verstand gar nichts mehr. „Was hast du denn angestellt?“ Sie stützte die Ellenbogen auf dem Tisch ab und legte den Kopf in ihre Hände. So lauerte sie
auf Annas Bericht. Anna lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und ließ ihren Blick durch das Restaurant schweifen. Sie holte tief Luft und … Resigniert schaute sie auf ihre Hände, die in ihrem Schoß lagen, und auf den nackten Ringfinger, an dem eigentlich ein Verlobungsring zu sehen sein sollte. „Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Du erinnerst dich, als Michael plötzlich im Hotel erschienen war? … Nun ja, er hatte solche Sehnsucht nach mir, dass er es nicht mehr aushalten konnte. Das hat mich schon verwundert, denn so kenne ich ihn gar nicht. Auf jeden Fall meinte er, er müsse unbedingt Nägel mit Köpfen machen, wenn er meiner ganz sicher sein wollte. Dann ist er auf
dieKnie gefallen und hat mich gebeten, seine Frau zu werden. Ich schluckte meine aufsteigenden Tränen der Rührung hinunter und habe … Ja … gesagt. Danach war uns ein Kuss nicht genug. Wie von Sinnen rissen wir uns die Klamotten vom Leib und … na ja, du weißt schon. Der Wiedersehens- und Verlobungssex war … hach … einfach nur fantastisch. Der beste Sex der Welt.“ Allein bei der Erinnerung bekam Anna ganz glasige Augen. Das Türkis begann zu leuchten und ein sehnsüchtiges Lächeln umspielte ihre Lippen. „Oooh! Wow! Wie romantisch! … Und dann? Der Ring?“ Larissa sah Anna verträumt an. Ihre allerbeste Freundin würde heiraten. Eine Hochzeit. Hoooochzeit. Wie schöööön. …
Ach nee, da war doch noch was. „Und dann? Was ist dann passiert?“ „Michael wollte das Ereignis mit einem Candle Light Dinner besiegeln. Auf dem Weg dahin hatte er jedoch noch eine Überraschung für mich. Als er auf dieses kleine Schmuckgeschäft zusteuerte, pochte mein Herz bis zum Hals. Der Verlobungsring. Er sollte etwas ganz Besonderes sein und so fiel Michaels Auswahl auf einen schwarzen Ring mit einer weißen Perle, umgeben von dreizehn Diamanten. … Du wirst es nicht glauben. … Schwarze Diamanten. … Mir blieb die Luft weg. Es war nicht, weil der Ring so … so … ich weiß nicht. Er war wunderschön, aber viel zu pompös, zu prunkvoll, zu prächtig. Ein Ring für eine Königin. Nicht für mich. …
Ich sah den Ring und es hat mich kalt erwischt. Bilder schossen mir durch den Kopf. Bilder von einer Frau in Schwarz auf einem Thron aus Knochen. Ein grauhaariger Mann mit aristokratischen Gesichtszügen, doch Augen so kalt und ohne Erbarmen. Macht, Speichelleckerei und Unterwürfigkeit. Aber auch Leid, Schmerz und Tod.“ Anna hörte Larissa erschrocken keuchen. Sie fasste über den Tisch und streichelte ihr beruhigend über den Arm. „Ich weiß nicht, wie lange ich den Ring angestarrt habe. Als Michael ihn mir anstecken wollte, habe ich intuitiv meine Hand zurückgerissen und ihm zu verstehen gegeben, dass dieser Ring zwar einmalig schön sei, ich ihn aber nicht wollte. …
Plötzlich wurde Michael weiß wie die Wand. Mit seinen braunen Augen starrte er mich ungläubig an, als könnte er es nicht verstehen. … Ich wollte seinen Verlobungsring nicht haben. … Ohne ein Wort zu sagen, warf er den Ring auf die Ablage, drehte sich um und rannte aus dem Laden. Er ließ mich einfach da stehen. Ich wollte ihm hinterherlaufen, doch in dem Moment sah ich aus den Augenwinkeln diesen Kettenanhänger.“ Anna zog unter ihrer Bluse eine Kette hervor und legte sie mitten auf den Tisch. Wieder keuchte Larissa. Langsam griff sie in den Ausschnitt ihres Pullovers. Zum Vorschein kam eine ebensolche Kette. Die Anhänger waren absolut identisch. Ein
walnussgroßer Feueropal in einer filigran gearbeiteten Fassung. „Es war seltsam. Ich fühlte mich magisch angezogen. Also musste ich den Stein einfach in die Hand nehmen. … Und dann fing er an zu pulsieren. Seine Leuchtkraft intensivierte sich um ein Vielfaches. Die Verkäuferin sah mich an. Dann den Feueropal. Sie schüttelte verwundert den Kopf, als habe sie diese Kette noch niemals zuvor gesehen. … Ich weiß zwar nicht, was das alles zu bedeuten hat, was hier vor sich geht und was es mit diesen Steinen auf sich hat. Aber eines weiß ich mit voller Sicherheit, so wie deine Kette zu dir gehört, gehört diese hier zu mir.“ Anna nahm ihre Kette und hielt sie gegen das Licht. Die Sonnenstrahlen bündelten sich im
Zentrum des Steines zu einem lodernden Feuer. Bilder stiegen daraus hervor. Ein Château. Ein Mann mit goldblondem Haar, welches ihm in Locken über seinen muskulösen Rücken fiel, und moosgrünen Augen, in denen man sich verlieren konnte. Eine Höhle, deren Höhe als auch Tiefe man nur erahnen konnte und die durch Bergkristalle in ein gleißend weißes Licht getaucht war. In ihrem Zentrum schwebte ein Hologramm der Erdkugel … Plötzlich waren die Flammen weg. Die Bilder verschwanden. Anna schnappte nach Luft und zwinkerte verstört. Larissa hatte den starren Blick ihrer Freundin auf den Anhänger bemerkt. Das Türkis ihrer Augen war einem dunklen Blaugrün
gewichen. Oh, nein! Nicht schon wieder. Schnell hatte die junge Frau nach dem Stein gegriffen und ihn in ihrer Faust verborgen. „Anna, du hattest schon wieder eine Vision?“ Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. Besorgt betrachtete sie ihre Freundin und legte ihr die Kette in die Hände. Meinte sie nicht, erst vor zwei Tagen eine Vision gehabt zu haben. Und nun schon wieder eine. Ob das am Land liegt? Oder vielleicht … Larissa schielte zu Annas Feueropal. Konnte er? Aber ich habe ja auch einen solchen Stein und das schon so lange ich denken kann. Also, ich bezeichne mich als durchaus normal. Sie schüttelte kaum merklich den Kopf. Eigenartig. Sehr eigenartig.
„Hm. Ja ich glaube schon.“ Anna runzelte nachdenklich die Stirn. „Ich hoffe nur, das wird jetzt nicht zur Gewohnheit. Das macht einen ganz kirre im Kopf“, meinte sie mehr zu sich selbst, legte die Kette wieder an und verbarg sie unter ihrer Bluse. „Komm, lass uns gehen. Wir machen noch einige Aufnahmen von den Sehenswürdigkeiten der Umgebung und brechen dann nach Scrabster auf. Je nachdem, wann wir dort ankommen, lässt sich vielleicht noch das eine oder andere Foto von der wilden Küste und den spektakulären Klippen machen. Die Gegend soll ja eine der umwerfendsten und schönsten Perspektiven ganz Schottlands bieten.“ Beide Frauen standen gleichzeitig auf und schlängelten sich durch die leeren
Tischreihen des Speisesaals. Sie hatten so lange in ihrer Ecke gesessen, dass sie die letzten Gäste waren. Anna drehte sich kurz zu Larissa um. „Ach, was ich noch sagen wollte … Danke. Du hast in den vergangenen zwei Tagen klasse Arbeit geleistet. Tolle Seiten im Blog. … Brauchst du mich dann überhaupt noch?“ Leise in sich hineinkichernd ging sie weiter. Ein leichter Schlag auf ihren Hinterkopf und ein abfälliges Schnauben beantworteten ihre Bemerkung. „Mach dich nicht lächerlich. Ohne dich wäre ich doch gar nicht hier. … Ähm … Und was ist nun mit Michael?“ Plötzlich hielt Larissa inne. Ein komisches Gefühl jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Sie spürte stechende Augen auf sich
ruhen. Vorsichtig schaute sie sich um und … Larissa blinzelte einmal … zweimal … Was? Ist ja eigenartig. Saß da nicht eben in der Nische neben dem Ausgang ein älterer Herr mit schlohweißem, schulterlangem Haar und grinste sie bösartig an. Hm … Ich muss mich wohl geirrt haben. Larissa zog die Stirn kraus, als ob sie angestrengt überlegte, schüttelte dann den Kopf und beeilte sich, ihrer Freundin zu folgen. „Warte! Also, was ist nun mit Michael?“ Ja. Was war nun mit Michael? Ich weiß es nicht. Er hat mich ohne Erklärung stehen lassen. Und wenn er glauben sollte, ich laufe ihm nach, dann hat er sich geirrt. Anna hob hilflos die Arme, gab aber keine Antwort auf die Frage.
Und Larissa wusste, das Thema war für den Moment abgehakt. *** Wenige Stunden später fuhren sie in ihrem metallic blauen Bentley in Richtung Scrabster, von wo aus sie die Fähre auf die Orkneyinseln nehmen wollten. Zuvor jedoch brachte ihnen ein kurzer Abstecher in die Umgebung Inverness' neben fantastischen Impressionen von Loch Ness, dem Inverness Botanic Gardens und dem Merkinch Local Nature Reserve eine Tasche voll Prospekte ein. Mit den Angeboten von Ausflügen, Tages-, Boots- und Besichtigungstouren ließ sich hervorragend arbeiten.
Mit dem Regenwetter war auch die trübe Stimmung der vergangenen Tage verschwunden und endlich waren sie wieder ein Team. Heute war alles erlaubt, solange es nur Spaß bereitete. Und so grüßten die Mädchen einen Campingbus, der sie mit Lichthupe überholte, in der gleichen Art und Weise, obwohl das mitnichten ihren Gewohnheiten entsprach. Sie winkten den Insassen des Fahrzeuges lachend hinterher. Das Verdeck ihres Cabrios war offen. Sie hießen den pfeifenden Fahrtwind willkommen und genossen den Sonnenschein und die endlose Freiheit. Die Lautsprecher vibrierten unter den Klängen schottischer Drums, Dudelsäcke und Rockattituden der Red Hot
Chilli Pipers. Zufrieden lenkte Anna das Cabriolet über die Küstenstraße und Larissa fing mit der Kamera die atemberaubende Landschaft Schottlands ein, bis sie in John o' Groats ankamen. „Wir sind spät dran“, meinte Anna auf ihre Uhr schauend. „Aber das macht nichts. Uns jagt ja keiner. … Komm, lass uns im Heritage Great Britain einen Imbiss nehmen, ein paar Fotos von der Gegend hier schießen und dann weiterfahren.“ Weiterfahren? Okay, wir sind spät dran, aber was ist mit dem Duncansby Head Lighthouse? Liegt zwar in der anderen Richtung und es sind nur steile Klippen und ein Leuchtturm. Und doch … Es ist der nordöstlichste Ort Schottlands und allemal ein Besuch
wert.Larissa schaute Anna erstaunt an und forschte in deren Gesicht, ob sie das wirklich ernst meinte. Es schien so, denn sie war bereits einmal ums Auto herum und stand nun vor der Beifahrertür. „Komm schon!“ Lachend angelte sie sich die Kameratasche vom Rücksitz und wartete darauf, dass auch ihre Freundin aussteigen würde. „Okay. Wenn du meinst. Dann eben Tee und Gebäck im Café am Fährhafen.“ Nun gut. Anna ist die Chefin. Sie hat das Sagen. Larissa zuckte mit den Schultern und folgt ihr, bis sie plötzlich wieder diese Gänsehaut und ein mulmiges Gefühl im Magen bekam. Was ist denn heute nur los mit mir? Vorhin im Hotel und jetzt … Anna hatte die Tür zum Gastraum
geöffnet und da saß er wieder. Der ältere Herr mit den schlohweißen, schulterlangen Haaren, seinen schwarzen, unergründlichen Augen und diesem teuflischen Grinsen im Gesicht. Was? Wie kann das sein? Wie kommt der bloß hier … „Was ist los? Warum starrst du auf die Sitzecke hier an der Tür? Ich habe dort hinten schon einen gemütlichen Tisch am Fenster mit einer fantastischen Aussicht auf den Hafen und das Meer gefunden.“ Anna war munter schwatzend zielstrebig auf einen freien Tisch zugesteuert, ohne zu bemerken, dass Larissa gar nicht hinter ihr war. Erst nachdem sie sich hingesetzt hatte und ihr niemand folgte, schaute sie sich um und da stand ihre Freundin, wie zur
Salzsäuleerstarrt. Erschrocken war Anna aufgesprungen und zurückgeeilt. Nun wedelte sie mit der Hand vor ihren Augen herum und schüttelte sie leicht durch. „Hallo! … Erde an Larissa! Jemand zu Hause?“ Larissa zuckte zusammen. Verwirrt schaute sie sich im Raum um. Am Ende blieb ihr Blick an Anna hängen. „Saß da nicht eben noch ein alter, weißhaariger Mann?“ Als sie den fragenden Gesichtsausdruck der anderen sah, fügte sie hinzu: „Halluziniere ich schon? Ich dachte dort einen Mann gesehen zu haben, der mir im Hotel in Inverness schon begegnet war. Du weißt, ich bin nicht schnell aus der Ruhe zu bringen, aber der machte mir echt Angst. Er war … gruselig.“ Sie zuckte entschuldigend mit den Schultern, hakte sich
bei Anna unter und begleitete sie zu ihrem Tisch. „Es ist schon merkwürdig. Seit Michael da war, ist irgendwie alles so … hm … seltsam. Mysteriös. Oder liegt es doch an diesem Land? Holen uns hier an diesem Fleckchen Erde die Geister vieler geschichtsträchtiger und literarischer Figuren ein? Sind wir empfänglicher für alles Übersinnliche und Geheimnisvolle? Du mit deinen Visionen und ich mit meinen Halluzinationen.“ Dabei lächelte Larissa und vermittelte den Eindruck, dass alles wieder in Ordnung sei. Zurück blieb jedoch ein Gefühl der Kälte, was sie Anna nicht wissen lassen wollte und welches an einem so sonnigen Tag bald wieder verschwunden sein sollte.
Bei anregenden Gesprächen mit den Einheimischen über die Geschichte des Ortes, dessen Name auf den Holländer Jan de Groot zurückzuführen sei, war schnell dieser skurrile Vorfall vergessen. Sie beobachteten noch das Auslaufen der Fähre und machten sich, um einige Anekdoten und wundervolle Naturaufnahmen der Gegend um John o' Groats reicher, wieder auf ihren Weg. Obwohl es schon spät am Nachmittag war, wollten sie sich dennoch nicht die Chance auf einen Abstecher zum Castle of Mey nehmen lassen. Das Schloss war im 16. Jahrhundert von George Sinclair, 4. Earl of Caithness, erbaut und 1952 von der Königin Elizabeth gekauft und saniert worden. Seither wurde es
regelmäßig von der königlichen Familie genutzt. Es wäre ein Fauxpas, bei einer Reisebeschreibung nicht auf eine solche Sehenswürdigkeit hingewiesen zu haben. Leider mussten sich Anna und Larissa mit ein paar Außenaufnahmen und Prospekten zufriedengeben, denn es gab leider keine Führung mehr. Sichtlich enttäuscht schlenderten beide zu ihrem Auto zurück. „Dann lass uns jetzt nach Scrabster fahren. Ich denke, wir werden noch etwas Romantik einfangen können, wenn wir auf den Klippen den Sonnenuntergang aufnehmen. Und dann schlagen wir uns die Bäuche voll und machen uns zusammen einen gemütlichen Abend. Nach dem ganzen Tohuwabohu der letzten
Tage haben wir das verdammt nochmal verdient. Gib mir ein High five“, forderte Anna feixend Larissa auf und hielt ihr die Hand entgegen.
Die Mädchen klatschten ab und bestiegen kichernd ihr Auto. Und wieder waren die Klänge schottischer Drums, Dudelsäcke und Rockattitüden der Red Hot Chilli Pipers aus den Lautsprechern eines metallic blauen Bentley-Cabriolets weithin zu hören.
Ausgelassen und glücklich kamen die beiden Freundinnen ihrem Ziel näher, ohne den hasserfüllten Blick aus stechenden schwarzen Augen, die ihnen nachschauten, bis sie außer Sichtweite waren, zu bemerken.
abschuetze Hallo Leute, einige von euch kennen das Buch schon unter dem Arbeitstitel"Herrscher der Finsternis" :-) Nun ist es endlich für den Handel fertig. Es erscheint am 05.05.2019 :-) Wer sich für meine Salwidizer interessiert, hier gibt es mehr https://www.facebook.com/Salwidizer/ LG von Antje |