Bruno schaute mich mit merkwürdigem Gesichtsausdruck an. Dann sagte er langsam, jedes Wort wählend, genau betonend
„Du hast Recht. Hier wurde geschlachtet. Hier haben die Hirten jedes Jahr ihre Schafe geschlachtet, etwas außer der Legalität, aber nicht mein Ressort, stimmt. Was aber ganz gewiss in mein Ressort fällt, ist die Tatsache, dass mit ganz großer Wahrscheinlichkeit dieser junge Bursche da, du erinnerst dich, nun kurz gesagt, vor genau zehn Jahren wurde dieser Bursche hier in diesem Raum ebenfalls geschlachtet, geschlachtet und teilweise zerlegt, bevor das Feuer ausbrach und die vier Frauen
ebenfalls umbrachte. Nicht nur einfach verstümmelt, wie die Zeitungen schrieben."
„Da schau dir die Fotos an, du hast einen stabilen Magen, das weiß ich." Damit gab er mir ein paar Schwarzweiß Aufnahmen im Großformat.
Beinahe hätte ich mich übergeben. Ich schluckte mehrfach, schloss für einen Moment meine Augen und atmete dann tief durch. Jetzt schaute ich wieder auf die Bilder. Noch nie hatte ich etwas so grausiges gesehen. Auf dem einen Bild konnte ich die Hälfte eines ziemlich verkohlten, aber eindeutig menschlichen Körpers sehen, ohne Beine, ohne Arme und ohne Kopf. Die anderen Bilder waren
nicht so deutlich, mehrere verbrannte Klumpen. Ich hätte es nicht näher erkennen können, aber an einem dieser Dinge konnte ich deutlich eine verkrampfte Hand sehen.
„Das da ist ein Oberschenkel, daneben meint der Doc, das muss der Rest einer Hinterbacke sein. Hier ein paar Rippen mit verbrannten Fleischfetzen. Appetitlich, nicht wahr?" Krächzte Bruno. „Mir wird auch immer wieder schlecht, wenn ich diese Bilder sehe." Setzte er dann fort.
„Wisst ihr wer er war, keine Vermisstenanzeige?"
„Doch, wir vermuten ziemlich sicher, dass es sich um einen jungen Studenten
handelt. Fingerabdrücke waren nicht mehr möglich, und den Kopf haben wir bis heute nicht gefunden. Wir wissen aber ziemlich sicher, warum er sterben musste. Kannst du noch etwas vertragen?"
Ich nickte müde, war auf manches gefasst. Brunos nächster Satz schockte mich aber doch noch einmal gewaltig.
„Wir haben natürlich auch die anderen Leichen obduziert. Du weißt ja, dass das bei gewaltsamen Todesursachen Vorschrift ist. Bei mindestens zwei der Frauen fanden wir Fleischreste im Magen, noch sehr gut erhalten, gebraten, die eindeutig vom Opfer stammten." murmelte Bruno.
Ich zuckte zusammen, nachdem ich begriffen hatte, was das bedeutete „Du meinst...?" brachte ich stockend hervor.
„Exakt, sie haben ihr Opfer geschlachtet, fachgerecht zerlegt, dann gegrillt oder gebraten und waren dabei ihn zu verspeisen."
Ich brauchte Minuten, um mich wieder zu fassen. Plötzlich tauchte eine Frage auf, die mir seit meinem Anruf bei Bruno im Kopf herumging. Was sollte ich dabei. War doch alles geklärt, oder?
Bruno hatte offensichtlich gespürt, was mich bewegte. Denn er stellte mir genau die gleiche Frage.
„Du fragst dich, was ich jetzt noch von
dir will. Sicher, diese Tat geschah vor genau zehn Jahren und etwas über einer Woche. Nicht nur, dass wir fünf weitere ungeklärte Fälle in unserer Vermisstenkartei haben, junge Burschen, wie er. Seit vorgestern gibt es eine weitere Anzeige. Ein junger Student ist seit zehn Tagen verschwunden. Seine Wirtin hat sich gemeldet. Ein gemeinsames Merkmal der Verschwundenen ist außerdem, das sie alle eher etwas übergewichtig waren. Nun wir haben daraufhin hier noch einmal alles auf den Kopf gestellt. Im Käfig fanden wir Hautfetzen, auf dem Tisch frische Blutspuren, höchstens ein paar Tage alt, und am Kessel Fettspuren,
eindeutig menschlich. Du siehst, da hat jemand die Tradition wieder aufgenommen. Irgendwo hier gibt es ein paar irre Kannibalen. Du könntest mir bei den Nachforschungen helfen. Es wird aber verdammt gefährlich."
Er holte zwei Dosen Bier aus seinem Kofferraum und warf mir eine zu. Wir kippten uns das kühle Nass hinter die Binde. Ich wischte mir den Schaum aus den Mundwinkeln und klopfte Bruno auf die Schulter.
„Was springt für mich heraus, weißt du, ich bin nämlich Freischaffender. Ich muss mir meine Brötchen mit harter Arbeit verdienen. Ich bin kein Beamter mit Pensionsberechtigung." frotzelte ich
ihn.
„Es ist eine Belohnung ausgesetzt, fünfzigtausend Mark."
„Das ist ein Argument. Hast du noch nähere Informationen?" hakte ich nach.
„Ich gebe dir Kopien von den Unterlagen über die toten Frauen. Außerdem existiert da noch eine ältere Frau, die damals zum Freundeskreis gehört hat. Wir konnten ihr aber keine Verbindung nachweisen, außerdem erscheint sie mir ein bisschen verwirrt. Aber das wirst du ja selbst sehen. Da hast du die Adresse." drückte er mir einen Zettel in die Hand.
„Grüß mein Schwesterchen, sie ist heute wieder aus Paris zurück. Schade irgendwie, dass ihr nicht mehr zusammen
seid." verabschiedete er sich und marschierte zu seinem Auto. Nach wenigen Augenblicken hörte ich den Motor aufröhren und Bruno verschwand.
Ich ging wieder in die Küche, die ja eigentlich eher ein Schlachthaus war und lehnte mich gegen den Steintisch. Wo sollte ich anfangen, was waren das für Menschen, die so eine entsetzliche Tat ausbrüteten und durchführten? Was mochte das für ein Gefühl für das Opfer gewesen sein, eingesperrt im Käfig, das grausige Schicksal vor Augen?
„Manchmal schlachten die Hirten hier ein paar Schafe", ertönte plötzlich eine weiche Frauenstimme. Ich drehte mich langsam um und blieb mit offenem Mund
stehen. Vor mir stand eine zierliche junge Frau. In ihrem lila Seidenkleid, mit ihrer wilden dunkelroten Mähne sah sie sehr attraktiv aus. Sie hatte braune große Augen, eine leicht gebogene Nase und einen vollen sinnlichen Mund. Sie lehnte sich zurück, und die Rundung ihrer Hüfte zeichnete sich deutlich unter ihrem eng anliegenden fliederfarbenen Kleid ab.
Ich musste wie ein Geist geschaut haben, den sie lächelte und meinte
„Ich bin kein Geist. Ich heiße Amanda. Ich komme jedes Jahr hierher und lege ein paar Blumen her. Meine Tante, die Schwester meiner Mutter ist hier vor zehn Jahren ums Leben gekommen."
„Und sie, was machen sie hier" fragte sie dann mit ihrer einschmeichelnden Stimme, während sie mich interessiert musterte.
Ich erzählte ihr, dass ich Privatdetektiv sei und der Fall mich interessiere.
„Hätten sie nicht Lust, mit mir essen zu gehen", ging ich ganz forsch vor.
„Vielleicht können sie mir etwas über ihre Tante und deren Freundinnen erzählen" tastete ich mich voran.
„Aber gern, wenn ich ihnen helfen kann. Das war ja ein tragischer Unglücksfall. Ich weiß eigentlich nicht, was ich ihnen sagen soll. Aber sie interessieren mich, sie sind ein faszinierender Mann",
lächelte sie mich schmachtend an, während sie mich unverschämt direkt musterte.
Mir war etwas unheimlich unter ihren Blicken, aber ich setzte mein strahlendstes Lächeln auf, wir verabredeten uns für Freitagabend, und dann verabschiedete ich mich von ihr. Während des ganzen Wegs über den Hof spürte ich ihren Blick in meinem Rücken.
Hatte ich ein Ende des Fadens gefunden, würde das Gespräch mich weiter bringen? Jedenfalls war sie eine außergewöhnlich attraktive junge Frau.
Ich kam im Büro an und fand auf meinem Schreibtisch eine Notiz von Eva und eine Mappe mit Kopien von
Zeitungsausschnitten. Fünf kurze Artikel über verschwundene junge Männer. Ich überflog die Notizen. Mir fiel gleich auf, dass diese Vermisstenfälle gleichmäßig über die Jahre verteilt waren. Genau gesagt, jedes Jahr beinahe exakt zur gleichen Zeit, war ein junger Bursche spurlos verschwunden. Dazu der Vermisste von vorletzter Woche. Jedenfalls beschloss ich, Eva zu der älteren Dame zu einem Gespräch zu schicken, jedenfalls vorerst, und mich auf meine Zufallsbekanntschaft zu konzentrieren. Ich legte Eva die Adresse auf ihren Tisch mit ein paar Bemerkungen dazu, etlichen Ermahnungen und Vorsichtsmaßregeln
und fuhr nach Hause. Unterwegs machte ich noch einen Abstecher ins Graffiti, meiner Stammkneipe, und es wurde spät, um genau zu sein, ich war gegen eins in meinem Bett, allein.
Am nächsten früh hatte ich einen leichten Brummschädel, frühstückte zwei ASS+C, spülte mit einer Kanne starkem Kaffee nach, duschte dann ausgiebig, zwängte mich in meine weiße Jeans, streifte ein dunkles T Shirt über und fuhr ins Büro. Eva schaute nur kurz hoch, erkannte was mit mir los war, sagte kein Wort und servierte nach ein paar Minuten einen Becher Kaffee und einen Schwenker Cognac. Ich döste etwa eine Stunde so vor mich hin, dann fühlte ich
mich wieder leidlich wohl. Ich stemmte mich hoch, schlenderte nach nebenan, strich Eva übers Haar und fragte „Was gibts Neues, hast du die Alte erreicht und was ausgemacht?"
Eva schaute hoch, grinste bis über beide Ohren und flachste los „Na Mäxchen, du kommst wohl in die Jahre, früher war mehr mit dir los." Dann wurde sie wieder ernst, kramte in ihren Notizen und meinte „Ich habe mich für heute Nachmittag zum Kaffee mit ihr verabredet. Ich habe ihr gesagt, dass ich ein Semester bei der toten Dozentin studiert hatte und jetzt plötzlich die Nachricht in der Zeitung gelesen habe."