Dahin, wo es still ist
Das erste, was mir in Deutschland auffiel, war das Fehlen von Stille. Ich hatte mit vielem gerechnet,was mich hier erwarten würde. Mit dem Geruch von Backwaren am Bahnhof, der Enge einer vollen S-Bahn, der grauen Tristesse von eigentlich allem und dem beklemmenden Gefühl, dass dies hier mein Zuhause war. Überwältigt wurde ich jetzt aber nicht von Gerüchen und visuellen Eindrücken - sondern schlichtweg von der völligen Abwesenheit von Stille. Noch am Flughafen hatte ich das Gefühl, mir stecke Watte in den Ohren. Das Geräusch der Klimaanlage im Flugzeug hatte sich
gemischt mit dem Turbinenlärm in meinen Ohren festgesetzt, die stundenlang nicht aufhörten zu rauschen. Als Ablösung des Rauschens diente die gewöhnliche Kulisse eines Terminals am Köln-Bonner Flughafen. Mit mehreren Dutzend Urlaubsreisenden wartete ich am Gepäckband auf meinen Koffer.Gemeinsam mit all diesen Menschen starrte ich in das gähnende schwarze Loch, vor dem ein Schild davor warnte, hier seine Kinder aus den Augen zu lassen. Mir fielen augenblicklich einige Kinder ins Auge, denen ich eine karusselähnliche Fahrt auf dem Fließband gegönnt hätte. Das Warten zermürbte sie und hätte ich es in den
letzten Monaten nicht bereits so intensiv mit mir selbst aushalten müssen, wäre es mir wohl ähnlich ergangen. Während die Kinder von offensichtlicher Langeweile geplagt durch die große Halle jagten,einander fingen, abklatschten oder schlicht mit ihren hochfrequenten Stimmen fragten, wann es denn nun endlich so weit sei und sie nach Hause dürfen, langweilten sich die Eltern weniger offensichtlich.Ein Paar stritt, ich hoffte sie kamen nicht gerade aus den Flitterwochen. Viele Leute telefonierten. Wir waren auf einem anderen Terminal angekommen, als geplant, weshalb viele ihre Abholdienste kontaktierten. Ich hatte keinen Abholdienst zu informieren
gehabt und hätte auch sonst nicht gewusst, wen ich anrufen sollte. Dann waren da noch die Leute, die endlich wieder das Roaming ihrer Handys einschalten und sich die Instagram- und Facebook-Posts der letzten Wochen anschauen konnten. Gebückt standen sie da, vor ihren kleinen Apparaten, die Schultern gesenkt, den Blick in die ganz eigene Welt gerichtet, die sich da vor ihren Augen abspielte. Ich erwischte mich dabei, wie ich sie kurz beneidete. Vor zwei Jahren hatte ich all meine Social-Media-Konten gelöscht und mein Netflix-Abo gekündigt.Damit hatte ich quasi den Großteil meiner gesellschaftlichen
Unterhaltungs-Kompetenz eingebüßt. Dann war ich in einen Flieger gestiegen, der mich sehr weit weg brachte. Ich hatte keinen Rückflug gebucht, wollte einen Retreat machen - raus aus dem Alltag, mich neu orientieren, das Glück finden. Den Topf mit Glück am Ende des Regenbogens hatte ich allerdings nicht gefunden, denn auch in fernen Ländern ist das Ende des Regenbogens nicht zu erreichen, egal wieweit der Flieger einen wegbringt.
Während das Band nach wie vor still stand, begann eine Mutter, die mir gegenüber auf einer Wartebank Platz genommen hatte, ihr Kind zu stillen. Die
beiden wirkten wie im Vakuum, wie unter einer Glocke, während alles um sie herum flimmerte. Es gab in diesem Warteraum nichts zu tun außer zuwarten - trotzdem schien die Zeit zu rasen, während die Leute unruhig umherliefen, sich laut unterhielten, stritten, diskutierten und auf ihre Bildschirme schauten. Die Mutter und ihr Kind schienen eins zu werden, während das Baby trank. Niemand pöbelte sie an,weil sie in der Öffentlichkeit ihre Brust entblößte - ob die Leute bewusst wegschauten realisierte ich nicht, denn ich starrte die beiden regelrecht an. So viel Harmonie und Frieden, wie dieses Bild für mich ausstrahlte, hatte ich bei
meiner Ankunft hier nicht erwartet und ich fragte mich, ob noch jemand das gleiche sah, wie ich.
Ein anschwellendes Vibrieren unterbrach nahezu alle Aktivitäten im Raum. Das Fließband bewegte sich. Wir standen darum herum geschart wie um einen Propheten, der jetzt begann zu sprechen. Auf der Suche nach Verheißung traten wir alle einen Schritt näher an das Fließband heran. Es war noch kein Koffer in Sicht, trotzdem kam Bewegung in die Leute, Kinder jubelten, Telefonate wurden abgewürgt, weil es „jetzt endlich
losgeht".
In der Bahn, die mich vom Flughafen wegbrachte in Richtung Elternhaus, war es leer. Es war ein Mittwochmittag. Gewöhnliche Menschen arbeiteten um diese Zeit oder aßen zu Mittag mit ihrer Familie. Ich teilte mir einen Vierer mit meinem Koffer und einem älteren Herrn, der die BILD las. Das sanfte Klackern der Bahn beruhigte mich irgendwie und ich atmete zum ersten Mal seit Stunden wieder durch.
„Du musst in Bauch atmen, Kind."
„Meine Lungen sind aber hier oben,nicht im
Bauch".
Yuri schnalzt mit der Zunge, recktden Kopf in den Nacken, was die alte Frau größer erscheinen lässt,und schüttelt den Kopf. „Lung en groß, Lungen viel Platz",erwidert sie in belehrendem Tonfall. Also atme ich. Und atme.„Menschen schneiden sich ab von Gefühlen. Sie arbeiten nur hier oben", sagt Yuri und bedeutet mit ihren Händen den Umfang ihrer schmächtigen Brust. Während sie im Raum auf und ab geht atme ich weiter. Die Holzbretter knarzen ab und zu unter ihren Schritten,draußen heult der Wind und ich weiß nicht, welches Geräusch mich mehr beruhigt. Während ich das wahrnehme, atme ich.
Ich knie auf einem flachen Kissen auf den Holzbrettern, die Yuri immer wieder abschreitet. „Gefühl ist viel in Bauch. Hast du Stress, kriegst du Bauchschmerzen, willst du Vereinigung mit Mann, fühlst du Wärme in dein Bauch... Hast du Angst, wird Bauch ganz eng... Du kannst nicht abschneiden hier". Yuri redet sich in Rage, jetzt fuchtelt sie mit den Händen, als würde sie ihren Körper unterhalb der Brust abschneiden. „Du sollst Augen zu machen, habe ich gesagt!".
Als der Mann vor mir aufstand holte mich das aus meinen Gedanken. Unbewusst hatte ich auf die Rückseite
seiner Zeitung gestarrt, auf der sich eine nackte Frau räkelte. Ich blinzelte einmal - wir waren stehen geblieben. Eine Station noch.
Draußen wurde es ländlicher. Meine Eltern hatten sich noch vor meiner Geburt ein Grundstück im Grünen gekauft. Der Hausbau hatte ein paar Jahre gedauert. Es gibt Bilder von mir in Jeans-Latzhosen auf der Baustelle, auf denen ich ganz offensichtlich wichtigen Tätigkeiten mit einem Zollstock in der Hand nachgehe. Seit es fertig gestellt wurde, lebten sie dort draußen, wo Fuchs und Hase sich Gute Nacht sagen. Der Schulbus fuhr damals zwei Straßen
weiter ab und die meisten Kinder stiegen vor mir aus und nach mir ein. Ich war mit ein paar Jungs aus der Oberstufe immer beiden letzten Fahrgästen dabei. In meinen letzten Schuljahren fuhr ich die letzte Station ganz allein. Heute würde mich kein Bus nach Hause fahren, sondern mein Vater. Vor ein paar Wochen hatten wir telefoniert und eine Abholzeit ausgemacht. Er erklärte sich einverstanden und mehr gab es nicht zu tun. Als ich an der nächsten Haltestation die Bahn verließ, stand der alte SUV meines Vaters auf dem Pendlerparkplatz um mich und meinen Koffer voll gesammelter Erfahrung
abzuholen.
„Emma, mein Schatz!". Papa war ausgestiegen, als er mich kommen gesehen hatte und lief auf mich zu.In einem akrobatischen Kunststück versuchte er mich gleichzeitig in den Arm zu nehmen und mir meinen Rucksack abzunehmen. Am Ende nahm er mir nur den Rucksack ab, weil ich ihm nicht sonderlich entgegenkam mit einer Umarmung. Das ist eine dieser Sachen in meiner Familie: Wir sind nicht so die großen Umarmer. Wir können allerdings stundenlang Worte darüber verlieren, warum wir das nicht sind und warum wir uns so wohler fühlen. Früher hab ich mir
auf unsere Wortgewandtheit etwas eingebildet, aber in diesem Moment fühlte sich die gesamte Situation an wie eine Art Kulturschock. Ich war von meiner Reise Herzlichkeit gewöhnt und wusste in diesem Moment einfach nicht wohin mit mir. „Hey Paps", erwiderte ich nur und beeilte mich, meinen Koffer im Auto zu verstauen, um dann eilig auf den Beifahrersitz zuspringen. Das Auto roch noch genauso wie vor zwei Jahren. Vermutlich war es auch noch immer das gleiche orangefarbene Duftbäumchen, das am Rückspiegel baumelte und verantwortlich war für den Geruch muffigen Orangenaromas. „Und? Wie war's?", fragte Papa, währender den
Motor startete und sich anschnallte. Wie es war? Das war etwas, das man nach einer viertägigen Klassenfahrt fragen konnte.Aber wie es war wenn das Leben und alle Werte, die man gelernt hatte,plötzlich eine 180-Grad-Wende erfuhren und man zwei Jahre lang ein völlig anderes Leben lebte, das konnte ich unmöglich in einer Autofahrt zusammenfassen.
Nur kurz durch's Fenster
"Bin kurz auf Klo“.
Mit einem Klappern landete das Headset (Marke: Razor, echt teures Teil) auf dem Schreibtisch. Ein Fuß verfing sich im Kabel, das Headset fiel zu Boden, ein Scheppern, ein Fluchen, dann Stille. Etwas bedächtiger jetzt schob Christian den Schreibtischstuhl auf Seite, der immer an der Teppichkante hängen blieb. Mit schlurfenden Schritten ging er ins Bad. Er musste eigentlich nicht, aber er hatte mal aufstehen wollen. Die Jungs waren heute anstrengend. Und er war es auch, er strengte sich selbst an. Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, dass es kurz
vor zwei war. Eigentlich kein Grund für diese bleierne Müdigkeit, die ihn bedrückte, aber sein Biorhythmus war komplett „am Arsch“, wie er es zu sagen pflegte. Er war seit vier Uhr heute Nacht wieder auf, weil er nicht schlafen konnte, weil er davor die Nacht bis Sonnenaufgang gezockt hatte und naja, immer so weiter. Schlafen hätte er jetzt dennoch nicht können, weil ein Cocktail aus Kaffee und Monster (das ist ein Energy-Drink und der ist komplett anders als dieser RedBull-Mist) durch seine Adern rauschte. Hatte er heute schon etwas gegessen? Er konnte sich nicht erinnern.
Im Bad wusch er sich kurz das Gesicht
mit kaltem Wasser, dabei berührte er die Bartstoppeln von mindestens einer Woche, doch es war ihm gleich. In den Spiegel schaute er erst gar nicht, es interessierte sowieso niemanden wie er aussah. Unten im Hof knallten Autotüren, was er nur deshalb hörte, weil das Badezimmerfenster gekippt war. Der SUV des Nachbarn stand in der Einfahrt, offenbar hatte der Mann von dem Paar, das nebenan wohnte, heute frei, denn der stieg gerade aus. Und dann öffnete sich die Beifahrertür. Christian trat einen Schritt näher ans Fenster. Der Hof der Nachbarn lag direkt an ihrem Grundstück, deshalb konnte er sie gut sehen – wenn auch leider nur von hinten.
Diese kastanienbraune Mähne kam ihm nicht bekannt vor. Aufgrund ihrer Figur schätzte er irgendwie, dass sie recht jung war und er schloss auch spontan aus, dass es sich um die Affäre seines Nachbarn handelte. Warum ihm dieser Gedanke kam, wusste er auch nicht recht. Der Nachbar holte jetzt einen großen Koffer aus dem Kofferraum und trug auch einen Rucksack. Er sah aus wie der Rucksack von der jungen Frau, die da eben ausgestiegen war. Bestimmt gehörte auch der Koffer ihr. Beide gingen jetzt zur Haustür, ohne dass die Lockenmähne sich einmal umgedreht hatte. Erst als die Tür hinter den beiden ins Schloss gefallen war, wandte Christian den Blick
ab. So lange wie gerade hatte er der Außenwelt lange keine Beachtung mehr geschenkt, dachte er. Jetzt sah er instinktiv doch in den Spiegel und plötzlich ekelte er sich vor sich selbst. Seine Bartstoppeln waren allmählich keine Stoppeln mehr, sein Haar war fettig und seine Haut wirkte wächsern und unrein. War das Tomatensauce an seinem Kinn? Er verzog das Gesicht. Mit einem Seufzen öffnete er den Spiegelschrank und machte sich dann mit Rasierschaum und Rasierer bewaffnet ans Werk.
„Alter, ich dachte du wärst nur kurz weg man. Wir sind aus'm Turnier geflogen
wegen dir!“. Christian hatte das Headset wieder aufgesetzt. Seine Haare waren noch nass. Der Stuhl hing wieder an der verdammten Teppichkante fest. „Sorry man, musste meiner Mutter helfen“, entgegnete er. An einem anderen Tag wäre er derjenige gewesen, der sich maßlos darüber aufgeregt hätte, dass jemand mitten im PvP-Turnier (Online Turnier gegen andere Spieler) einfach abhaute, aber heute war irgendwie nicht sein Tag. In vier Wochen Semesterferien hatte er jeden Tag hier gesessen und mit Jan und Eric gezockt. Jan war (angeblich) Medizinstudent im sechsten Semester und hatte einfach viel Zeit. Eric war arbeitslos und an die vierzig,
schätzte Christian. Über solche Dinge sprachen sie nicht viel und das mit dem Medizinstudium wusste er auch nur, weil Jan so gerne mit seinem Medizinwissen prahlte. Christian behielt davon eigentlich nichts, außer dass Ohrenschmalz „Cerumen“ genannt wurde und dass es noch ein anderes Wort für Brustwarzen gab, das ihm gerade nicht einfallen wollte. „Bist du jetzt wieder dabei?“, fragte Jan, der ihn gerade angemeckert hatte. Er war einer von der ehrgeizigen Sorte. Hatte vor Christians Semesterferien schon einen Plan aufgestellt, wann sie trainieren sollten und wann sie Pausen machten, und so weiter. An den Plan hielt sich keiner,
aber das war auch letzten Endes nicht so wichtig. Eigentlich war nur wichtig, dass sie möglichst viel Zeit ingame (im Spiel) verbrachten und dabei möglichst viele Gegner schnetzelten, damit sie nachher auf der Rangliste so weit oben wie möglich waren. „Glaub ich mach mal ne Pause“, sagte Christian und gleich darauf verabschiedete er sich, verließ den Sprachchat und setzte das Headset ab. Er hasste das, wenn es so still war. Unten im Haus hörte er seine Mutter mit Töpfen klappern, aber ansonsten war es echt still. Mit einem Ächzen ließ er sich aufs Bett fallen und überlegte, was er tun sollte. Auf Masturbieren hatte er nicht richtig Bock, irgendwie war ihm das
gerade zu anstrengend. Mit einem Arm angelte er nach der Fernbedienung und schaltete irgendein Programm ein, in der Hoffnung, die Langeweile würde vergehen. Statt auf die Mattscheibe glitt sein Blick jedoch durch den kleinen Raum, den er seit beinahe zwei Jahren sein Zuhause nannte. Vor seinem Kleiderschrank stapelten sich mehrere Umzugskartons, die er noch nicht ausgepackt hatte. Dadurch konnte man nur eine Tür des Schranks öffnen, aber das störte ihn nicht besonders. Auf seinem Schreibtisch stapelten sich ein paar Teller, Tassen und Energy-Dosen, die er dringend wegräumen sollte. Einmal hatte er nämlich Fruchtfliegen
deshalb im Zimmer gehabt, die er nur schwer wieder losgeworden war.
Sein Bett nahm den Großteil des Raumes ein. Es war ein Zwei-mal-zwei-Meter-Ungetüm, das er aus Berlin mitgebracht hatte, als sie hierher gezogen waren. Probeweise zog er die Decke zu sich ran und hielt sie sich unter die Nase. Wie oft musste man Bettwäsche eigentlich wechseln? Träge öffnete er einen Knopf an dem Bezug. Dann noch einen und dann noch einen. Immerhin konnte man liegen bleiben, während man diese Arbeit verrichtete. Er war so unglaublich müde. Bald hatte er die Decke aus dem Bezug befreit und kurz darauf auch das Kissen, das er sich ohne Bezug wieder unter den
Kopf schob. Kurz darauf schlief er beim im Hintergrund laufenden Fernseher ein.