Die Zugfahrt
Andersch Lesnic hatte eine bewegte Vergangenheit. Aus Jugoslawien 1991 heimlich entflohen, hatte er Zuflucht in Deutschland gefunden. Schon zu Beginn des 10 Tage Krieges in Slowenien, da hatte er geahnt, dass man die Düse machen sollte, quasi die Notbremse gezogen. So kam es ja auch, als dann im selben Jahr 1991 der Kroatienkrieg ausbrach. Jedenfalls hatte er sich gut eingelebt und sogar viele deutsche Freunde gefunden.
Heute, am 03. Juni, 1998, da war sein Glückstag. Er hatte am Nachmittag ein Vorstellungsgespräch in Hamburg. Er würde in
seiner Anstellung in Hannover zum Filialleiter aufsteigen können, wenn alles glatt ging. So stand er nun am Gleis und wartete auf den ICE. Es war genau 10:15 Uhr. "Für einen Hot Dog wäre noch Zeit", dachte er.
„Ich genehmige mir noch einen.“
Der Würstel Stand sah einladend aus und er bestellte einen Hot Dog mit extra viel Ketchup. Der Verkäufer war launig und pfiff während er das Brötchen durch stocherte und die Wiener aus dem dampfenden Bottich entnahm. „Nicht so richtig schönes Wetter heute, oder?“ Durch die Umbauten des Bahnhofs konnte man gen Himmel blicken. Es war bewölkt, sah nach Regen aus und war Anfang Juni mit 18 Grad nur leidlich warm.
„Wo soll es denn hingehen?“
„Nach Hamburg“, erwiderte Andersch.
„In Hamburg soll es schön sein“, wusste der Verkäufer und reichte den Snack mit einer dünnen Papierserviette. Andersch dankte, biss hinein und lief hurtig mit seiner Aktentasche zum Gleis. Gerade lief der ICE ein. Pünktlich war er, das musste man lassen. Er kam eigentlich von München und hielt hier in Hannover um genau 10:30 Uhr. Lesnic hatte Ehrfurcht vor der deutschen Zuverlässigkeit. Er sah auf die Uhr, verglich mit der Bahnhofsuhr. Klasse, keinerlei Verspätung! Der Zug öffnete die Türen und Andersch stieg ein. Er fädelte sich durch das offen gestaltete Abteil und nahm an einem Sitz Platz, die Tasche war auf den Oberschenkeln platziert. Es waren seine wichtigen Unterlagen.
Der bequeme Sitz gehörte zu einem Vierblock mit einem Tisch dazwischen. Der Aufenthalt des Zuges war nur kurz. Schon zwei Minuten später saugten sich die Türen wieder fest und um Punkt 10:33 Uhr setzte sich das Wunderwerk der Technik in Bewegung. Nachdem der Zug das Bahnhofs-Areal und die Vorortschaften hinter sich gelassen hatte, nahm er Fahrt auf. Man fühlte sich wie in einem Flugzeug. Es summte nur. Das Rattern früherer Züge gehörte der Vergangenheit an. Hier steckte ein ganz anderer Dampf dahinter! Die Geschwindigkeit war atemberaubend. Es blieb ihm nicht lange Zeit zum Träumen, denn ein Mann fragte höflich, ob er Platz nehmen dürfe. „Da", er verbesserte sich, "wollte sagen ja.“ Der Fremde hatte ein etwas
aufgedunsenes Gesicht, strahlte aber die Gemütlichkeit eines Übergewichtigen aus. Er lächelte. „Sie sehen so aus, als ob das heute ihr Glückstag wäre“, begann der Fremde. Andersch war irritiert. „Sieht man mir das an? Ich habe möglicherweise eine Beförderung vor mir, sie haben also wahrscheinlich recht.“ Andersch hatte sich in den sieben Jahren, seit er bei IT-Global angestellt war, ein hervorragendes Deutsch angeeignet. Das war auch der Grund, dass er für eine Beförderung in Frage kam. Der Gegenüber stellte sich vor. „Mein Name ist Elias Goldberg. Ich bin Jude.“ Lesnic lächelte. „Das vereint uns irgendwie. Mein Vater war bei der Osvobodilna Fronta, Widerstandskämpfer. Wurde genauso behandelt, wie Roma, Sinti und Juden:
Umgebracht!“ Goldberg nickte. „Schlimme Zeit. Ich bin Rabbi.“ Darauf wusste Andersch nicht viel zu sagen. „Glauben sie an Gott“, fuhr Elias fort. „Ich weiß nicht so recht. Ich bin Katholisch, aber..aber ja, ich glaube.“
„Das ist gut.“
Der Rabbi verbreitete eine sonnige Aura. „Und an Weissagungen, da glauben sie nicht?“ Andersch musste gutgelaunt lächeln.
„Nein, wirklich nicht. Ich bin nie auf die Roma herein gefallen. Vielleicht meinen sie es sogar gut, aber an ihren Hokuspokus glaube ich nicht.“ Der Rabbi lehnte sich zurück.
Postwendend kam ein junges Mädchen im Durchgang herbei geschlendert. Sie hatte einen schwarzen, sehr kurzen Lederrock an, oder war es nur ein Gürtel? Obenrum war sie
plüschig umhüllt. Die Bluse genauso, wie ein langer Glimmerschal. Belastet war ihre Erscheinung mit viel Gold. Goldkette war vorhanden, Goldarmbänder im Dutzend und großen Goldkreolen, die sich auf ihren Schultern ausruhen konnten. Sie schwang sich mit Effet neben den Rabbi in den Sitz. "Tomezswar, willst Du Zukunft?"
Andersch war erstarrt ob ihrer Erscheinung. "Nein", brachte er gerade noch hervor.
"Du, Hand", befahl sie. Lesnic suchte Hilfe bei dem Rabbi. Flehentlich blickte er ihn an, doch der Jude saß da, wie ein bequemer Buddha und grinste vor sich hin. Ohne seinen schwarzen Oberteil hätte man ihm gerne den Bauchnabel gekrault. Er fand an der merkwürdigen Erscheinung der jungen Frau
offensichtlich nichts Anstößiges. Die Hand von Andersch schob sich fast automatisch zur Begutachtung entgegen. Die junge Zigeunerin warf ihr langes Haar zur Seite und neigte sich intensiv über die Hand. Sie zuckte zurück. "Hei,Jeijei", rief sie, sprang auf und stürzte dannen. "Was war denn das", fragte Andersch perplex. "Die sah ja bleich aus, als hätte sie ein Ungeheuer gesehen."
"Alles wird gut", salbaderte der Rabbi. "Die Menschen gleichen den Gräsern auf den Feldern: die einen glänzen, die anderen welken."
Dann wurde der Buddha plötzlich agil. „Wir müssen nun aussteigen! Wir sind da.“ Tatsächlich, der Zug wurde immer langsamer, bahnte sich durch unzählige Geleise über die
Weichen seinen Weg.
Der Rabbi Elias Goldberg drängelte. „Wir sind in Hamburg! Schnell, aussteigen!“ Er wartete, bis sich Lesnic heraus gefädelt hatte und ließ ihm den Vortritt zum Ende des Wagons. Der Zug hielt und der Rabbi schob Andersch zur Tür hinaus. Mit einem Zischen schlossen sich die Türen und Andersch fand sich am Bahnsteig wieder.
Von Elias Goldmann keine Spur. Er war nicht hinter der Tür des abfahrenden Zuges zu sehen und am Bahnsteig schon gleich gar nicht. Der Jude war im Zug geblieben und hatte sich praktisch in Luft aufgelöst. Zum Glück hatte Lesnic seine Aktentasche dabei, die er nicht bei dem schnellen Aufbruch vergessen hatte. Er ging den langen
Bahnsteig zurück und kam an einem Hot Dog Stand vorbei.
„Was ist nun mit ihrem Hot Dog“, warf ihm der Händler zu. „So geht es nicht! Selbst, wenn sie ihn nicht nehmen, müssen sie ihn bezahlen.“ Lesnic verstand nichts mehr. Was war hier los? Es war derselbe Verkäufer, wie bei der Abfahrt! Er nahm erst jetzt die Umgebung so richtig wahr. Das war nicht Hamburg! Das war Hannover! Er war am selben Ort angekommen.
„Was ist nun?“ Er nahm den Hot Dog wie in Trance entgegen und entdeckte einen Ketschup Fleck auf seinem Jackett. Er hatte doch bei der Abfahrt schon reingebissen.
Er schüttelte sich, um sich aus der Befangenheit zu befreien.
„Dies ist doch Hannover, oder nicht?“
Der Verkäufer schaute besorgt. „Geht es ihnen nicht gut? Natürlich ist dies Hannover. Sie haben doch den Hot Dog gerade bestellt. Ich habe nur kurz die Wiener aufgefüllt. Jetzt haben sie ihren Hot Dog. War das ihnen vielleicht nicht schnell genug?“
Lesnic bemächtigte sich eine einzige Verwirrung. „Was ist mit dem ICE nach Hamburg?“ „Tja, der ist doch schon längst weg, schon vor vier Stunden!“ Lesnic sah auf seine Armbanduhr. Um genau 10:57 Uhr war seine Armbanduhr stehen geblieben. Hier ist einfach alles irre. Vier Stunden! So lange war er doch gar nicht unterwegs gewesen!
„Mein Vorstellungsgespräch“, fasste sich Andersch an die Stirn. "Wann geht denn der
nächste?" "Da ist was passiert", meinte der Verkäufer. "Schauen sie doch auf die Anzeigetafel! Ich glaub', da geht vorerst nix mehr."
„Ich muss anrufen, mich entschuldigen", hetzte Andersch.
„Wo ist denn hier ein Telefon?“
Der Verkäufer zeigte den Steig entlang, der in das Bahnhofsgebäude führte. Lesnic eilte, warf den blöden Hot Dog in den Papierkorb und erreichte ein Wandtelefon.
„Ja, hier Lesnic, Frau Schönborn, ich weiß nicht wie, aber ich..“ Er kam nicht weiter.
„Herr Lesnic“, rief es kreischend durch den Äther, „was für ein Glück! Wir dachten schon sie könnten im Zug nach Hamburg gewesen sein. Was für eine Freude!“ „Wie, was?“
„Ja haben sie nicht von dem grauenhaften Unglück bei Eschede gehört? Den ganzen Zug hat es zerrissen. Über hundert Tote! Ach Gott, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll, so froh bin ich.“
Andretsch Lesnic ließ stumm den Hörer fallen und war verstört. Die Bahnhofsuhr zeigte: 14:57.
NACHTRAG
Das schlimmste Eisenbahnunglück Europas ereignete sich um 10:57 Uhr in der Nähe von Eschede. Der ICE 884, "Wilhelm Conrad Röntgen", befand sich auf der Strecke München - Hamburg. Sein letzter Halt war in Hannover um 10:30.
Von einem Wagonrad hatte sich die Ummantelung abgezogen und das Rad blockiert. Es fraß sich durch den Boden und der Wagen entgleiste. Schließlich prallte der Zug mit 200 Stundenkilometern an die Pfeiler einer Unterführung.
Die Katastrophe kostete 101 Menschenleben.