Der Knoten
Ich blätterte mit Alois eine alte Chronik durch. Alois war beim bayerischen Alpenverein engagiert, während ich es mit den Bergen nicht so hatte. Ja, anschauen schon, aber…
Wir landeten blätternd im Jahr 1936, in dem sich in den Alpen ein entsetzliches Unglück ereignete.
Der Versuch die Eiger Nordwand zu bezwingen, kostete im Juli vier jungen Bergsteigern das Leben.
Alois erklärte:
„Zwei Naturburschen, bayerische Gebirgsjäger, 23 und 24 Jahre alt, wollten die Erstbesteigung angehen. Sie waren fröhlich, durchtrainiert und unbekümmert. Sie hießen
Toni Kurz und Andreas (Anderl) Hinterstoisser. Am 18. Juli 1936 stiegen sie Morgens bei schönstem Wetter in die Wand. An den Münzenschlitzfernrohren auf der kleinen Scheidegg konnten die Gaffer über die vorderen Baumwipfel hinweg das Großereignis beobachten. Schließlich war eine Sensation möglich, nämlich die Erstbesteigung über die Nordwand. Sie galt vom Schwierigkeitsgrad her als praktisch unbezwingbar. Nach dieser Zweierseilschaft, kurze Zeit später, vielleicht eine Stunde danach, stiegen auch die Österreicher Eduard (Edi) Rainer und Willy Angerer in die Wand. Sie waren in der braunen SA Legion aktiv und entsprechend bliesen sie markige Sprüche: „Wir rechnen drei Tage für die Wand; ein
Zurück gibt's nicht; nach uns braucht‘s keiner mehr versuchen, wenn die Wand zu machen ist, machen wir sie – oder bleiben drin!“
Alle waren exzellente Bergsteiger und sie kamen ungeheuer schnell voran, denn sie wählten eine direkte Route, die später die Heckmair-Route genannt wurde. Das erste Hindernis war ein Quergang, den es zu überwinden galt. Wie der führende Kletterer diesen Quergang bewältigen konnte, nannte man die Dülfer-Technik. Man stieg ein gutes Stück höher, meißelte einen Karabiner ein und pendelte dann weiter unten, solange bis man durch waagerechtes Anlaufen genug Schwung bekam, um auf der anderen Seite einen geeigneten Absatz zu erreichen und sich dort festkrallen konnte. Hinterstoisser war darin
absoluter Spezialist. Er schaffte es und ein Sicherungsseil wurde über den Quergang gezogen.
(Hinterstoisser - Quergang, Aufnahme 2007)
Diese Aktion hatte gedauert, sodass die Österreicher aufgeschlossen hatten. An sich waren sie aus demselben Holz geschnitzt, eben fanatische Bergsteiger, von der Idee des
Gipfelsturms beseelt. Und so gaben sie den Ehrgeiz auf sich gegenseitig Konkurrenz zu machen und beschlossen gemeinsam den Erfolg zu erzwingen.
Als sie den Quergang geschafft hatten, holten sie die Seile wieder ein.“
„Wieso denn das“, fragte ich kopfschüttelnd, „dieses so schwer erarbeitete Querseil konnte man doch später noch gut brauchen.“
Alois erklärte.
"Damals hatten die Bergsteiger in ihren Dörfern kaum Möglichkeiten aus dem kargen Leben heraus zu kommen. Es musste schon irgendwie eine Großtat sein. Der Eiger war daher nicht nur eine Schrulle, sondern eine Chance. In diesem Fall, vernarrt, wie sie waren, dachte wohl niemand an einen
Rückzug auf derselben, schwierigen Strecke. Man wollte nach der Ersteigung des Gipfels die einfache Route nach Hause schlendern. Außerdem war Seil kostbar und sie wollten bestimmt genügend für die restlichen Herausforderungen dabei haben.“
Ich legte die Stirn in Falten. „Warum haben sie nicht auf den Wetterbericht geachtet?“ „Die Eiger Nord, die scheint wegen ihrer konkaven Form das Unwetter geradezu anzuziehen. Sie ist unberechenbar“, meinte Alois schlicht. „Und Anfangs war das Wetter ja ideal.“ Dann fuhr er fort.
„Sie kamen dann nicht mehr so gut voran. Zu diesem Zeitpunkt musste Angerer von einem Steinschlag getroffen worden sein. Damals gab es noch keine Helme, allenfalls stopfte
man sich ein paar Taschentücher unter die Mütze. Willy Angerer war benommen und wahrscheinlich hatte er ein Blutgerinnsel. Jedenfalls biwakierten die Vier in der Wand.
Am zweiten Tag taten sie sich schwer und kamen nur etwa 200 Höhenmeter weiter nach oben. Willy Angerer ging es wahrscheinlich schon etwas schlechter. Die Wand war nun Großteils Nebel verhangen.
Sie erreichten das sogenannte „Bügeleisen“, einen Absatz, den sie für die zweite Übernachtung in der Wand nutzten. Am folgenden Tag, den 20. Juli, da kletterten sie noch an dem Todesbiwak vorbei, der Stelle, an der Mehringer und Sedlmayer ein Jahr zuvor ums Leben gekommen waren. Die beiden Münchner waren im August 1935
gescheitert. Ein Wettersturz war ihnen zum Verhängnis geworden. In den Memoiren und Aufzeichnungen, die später bei Kurz gefunden wurden, schrieb Toni, dass der Anblick des Biwaks furchtbar deprimierend gewesen sei. Und da hatten sie wohl auch beschlossen, dass der Traum vom Gipfelsturm aufgegeben werden musste. Jetzt galt es nur noch wieder lebend herunterzukommen. Das Wetter wurde schlechter, genauso wie der Gesundheitszustand von Angerer. Gegen 20:30 Uhr richteten sie sich ihr drittes Biwak ein, an dem oberen Rand des ersten Eisfeldes. In der Nacht schlug das Wetter nun endgültig um.
Am folgenden Tag, den 21. Juli, schneite und stürmte es ohne Unterlass. Neuschneerutsche
und Steinschlag gefährden die vier Bergsteiger beim Abstieg, doch sie erreichen glücklich den Quergang, der noch heute der Hinterstoisser Quergang genannt wird. Sie wähnten sich bereits in Sicherheit, da sie sich nun nicht mehr weit entfernt von einem Stollenloch der Jungfraubahn befanden. Diese Zahnradbahn gab es seit 1912. Sie führt von der Kleinen Scheidegg durch Eiger und Mönch bis auf das Jungfraujoch und verwirklichte damit die Utopie Touristen bequem auf den berühmtesten Gipfel der Schweiz zu bringen. Die Bahn führt acht Kilometer durch den Eiger. Von diesem Stollenloch wurden sie auch gesehen und der Streckenwärter bereitete sogar schon heißen Tee zu, um die Jungs zu empfangen.
Nun rächte es sich fürchterlich, dass sie die Seile beim Aufstieg eingeholt hatten. Bei diesem Wetter, die Wand war ein einziger, senkrechter Eispanzer, da waren die Bedingungen denkbar ungünstig. Hinterstoisser versuchte immer und immer wieder durch das Dülfer-Pendeln auf die andere Seite herüber zu schwingen, aber es gelang einfach nicht. Dieser ideale Rückweg war ihnen nunmehr abgeschnitten.
„Und wenn sie das Querseil gelassen hätten, wären sie dann gerettet worden?“
Alois rieb sich das Kinn. „Ziemlich sicher sogar. Für Willy Angerer wäre wahrscheinlich nichts mehr zu machen gewesen, er wäre so oder so an dem Hirnödem gestorben, aber die Anderen hätten bestimmt das Stollenloch
erreicht.“
Alois erzählte weiter.
"Es blieb ihnen nur noch sich über die Diretissima über 100 Meter abzuseilen, dem senkrechten Weg nach unten. Allerdings befanden sie sich dann ungeschützt n der Wand, dem Steinschlag und möglicher Lawinen ausgesetzt. Die vier waren aneinander gesichert.
Als von Allmen, der Streckenwärter, um zirka drei Uhr aus dem Stollenloch trat, um nachzusehen, da waren die Bergsteiger verschwunden.“
Alois sah mich an. „Ich schildere die gängigste Meinung, was passiert war.“
Ich nickte.
„Die Vier wurden beim Abstieg von einer
Lawine von Schnee und Geröll erfasst. Der von oben sichernde Edi Rainer wurde gegen einen Felsen geschmettert, dann wurde er durch den Seilzug stranguliert. Das Seil von Hinterstoißer riss ab und er stürzte in den Tod. So überlebte Toni Kurz in der Mitte auf einem kleinen Felsband. Dort war er praktisch gefangen, denn er war noch mit dem toten Österreicher Rainer oben und unter ihm mit dem schwer verletzten Angerer verbunden.
Von dem Streckenwärter alarmiert, machten sich um 17:00 Uhr drei Wengener Bergführer vom Ausstiegsloch der Jungfraubahn auf den Weg in den Sturm hinaus.
Sie hatten Rufkontakt, kamen aber nur bis auf 100 Meter unterhalb von Kurz heran. Ein Weiterkommen war bei diesem Wetter
unmöglich, zumal es schon fast Nacht geworden war. Sie sprachen dem in der Luft hängenden Toni Mut zu und mussten umkehren, die jammernden Hilferufe im Rücken.
Kurz harrte die ganze Nacht in der Wand aus und am nächsten Morgen starteten die Helfer erneut, diesmal unterstützt von dem legendären Bergführer Arnold Glatthard. Man mochte es kaum glauben, Toni Kurz lebte noch. Spätestens in dieser Nacht starb Angerer. Bis auf 40 Meter kämpften sich die Schweizer Bergführer heran. Weiter ging es nicht, der „schwierige Riss“ war zu vereist, um ihn zu überwinden.
Toni hatte kein Seil mehr, keine Karabiner, eine Hand war erfroren, weil er bei dem
Lawinenabgang einen Handschuh verloren hatte. Er brauchte Seil, damit ihn die Bergführer retten konnten. Die Lösung war eine Reepschnur, die Kurz herunterlassen sollte. An ihr konnten die Retter dann ein neues Seil anbinden. Das konnte dann Toni hochziehen. Toni sollte zu Angerer hinuntersteigen, dann zu Rainer hoch, um Seil zu gewinnen. „Ich kann nicht“, rief Kurz, der schwer angeschlagen war. Der Bergführer Adolf Rubi hielt es für unmöglich, dass Kurz solch eine Anstrengung noch fertig brachte, aber er schaffte es dann doch. Einem überirdischen, narkotisierenden Trauma gleich, schlug Kurz unter ihm Angerer ab. Willy stürzte in die Tiefe und verfehlte die Retter um Haaresbreite. Toni schaffte es
tatsächlich zu dem toten Rainer hoch und gewann von ihm ebenfalls Seil. Damals waren die Hanfseile aus drei Litzen gedreht Stundenlang dröselte Toni die Litzen mit den Zähnen und der einen Hand auf. Dann ließ er die Schnur hinunter. An ihr befestigten die Bergführer zwei 30 Meter Seile, die sie miteinander verknoteten, denn dreißig Meter alleine reichten nicht. Dazu befestigten sie einen Pickel, einige Haken und Karabiner.“
Alois unterbrach.
„Sie hätten sich auch hochprusiken können, aber das war wegen der Lawinengefahr zu gefährlich. Außerdem, konnte das Seil, an dem Kurz schon die ganze, kalte Nacht hing, das zusätzliche Gewicht noch aushalten?“
„Wenn es gelungen wäre zu ihm herauf zu
kommen, dann..“ „Dann hätte man ihn vielleicht retten können.
(Dülfersitz zum Abseilen)
Kurz richtete sich eine Sitzschlinge ein und hängte das Seil in den Karabiner. Der Dülfer-Sitz war nicht möglich, weil Tonis Bremshand erfroren war. Mit dem anderen Arm hielt er
sich am Seil fest, um nicht nach hinten überzukippen Durch Straffen und Lockern des Seiles konnten die Bergführer zudem seine Abfahrt steuern. Toni Kurz glitt langsam nach unten, doch ungefähr 5 Meter über den Helfern, da kam es zum Verhängnis. Der Knoten des Seils passte nicht durch den Karabiner. Kurt kämpfte verzweifelt den Totenkampf, um den festsitzenden Knoten durchzuschieben, vergeblich. Glatthard rief ihm schließlich zu sich abzuschneiden, sich herunter fallen zu lassen, aber Toni war erledigt. „Ich ka nicht mehr“, waren seine letzten Worte, kippte nach hinten und starb.
Wir sahen uns stumm an.
„Wenn seine Hand nicht erfroren wäre,..“ „Dann“, ergänzte Alois, „wäre es mit dem
Dülfer-Sitz problemlos gegangen, dann hätte der Knoten nicht gestört."
Ich musste atmen.
Alois klopfte mir auf die Schulter, als er aufstand und einen klaren Schnaps holte. „Wenn sie überlebt hätten, dann wären die Burschen in den grausamen Kämpfen in den Alpen umgekommen, in irgendeiner Spezialeinheit. Und wahrscheinlich durch eine Heldentat.“ Alois tat einen Schluck.
„Auch in diesem Fall wäre ihnen nach dem Krieg Deutschland als Scheiterhaufen erspart geblieben."
Die Eiger Nordwand
(Heckmair-Route)