BRAUTGEFLÜSTER
Lieselotte und ihr Joel Luka
The Day before …
Der kleine Tag vor dem großen Tag.
Dem großen Tag auf den sich alle vorzubereiten scheinen.
Und das schon seit über einem Jahr.
Alles fing an, als sie sich ihr Versprechen gaben.
Vorher war alles so einfach.
Leicht wie der Atem.
Ein und aus und wieder ein und aus.
Wie die Wellen des Meeres.
Grenzenlos und uferlos war ihre Liebe.
Lieselottes Liebe zu ihrem Joel Luka.
Eigentlich spricht sie ihn in einem Fluss.
Joeluka.
Wie Wasser rauscht dieser Name über ihre Lippen.
Wie Samt zärteln ihrer beider Lippen.
Miteinander.
Ineinander.
Baden in Liebe mit Joeluka.
Immerzu.
Das hat sie bewogen.
Bewogen zuzustimmen.
Ihm ihr Versprechen zu geben.
Und seit diesem Moment.
Seit diesem kleinen Nicken ihrerseits.
Und dem sinnlich schmelzenden Kuss seinerseits.
Hat sich so viel gedreht.
Sie verabschiedete sich von ihrem burschikosen Kurzhaarschnitt.
Ihr braunes Haar ist ihm entwachsen.
Die Spitzen leicht blondiert.
Lieselotte betrachtet ihr Spiegelbild.
Gebräunte Haut.
Nicht zu viel und nicht zu wenig.
Zart gepflegt.
Perfekt.
Der Friseur hat ihr zu dieser leichten Dauerwelle geraten.
Dann ließen sich die, noch relativ kurzen Haare, besser hochstecken, seien griffiger, so sagte er.
Das war vor zwei Tagen.
Es ist schwierig, sich an diese omahaften
Wellen zu gewöhnen.
Egal, wie sie daran herumzieht, sie springen immer wieder zurück.
Als ihre Mutter sie sah, war sie völlig aus dem Häuschen!
Diese flotten Wellen!
Lieselotte schielt in den Spiegel.
Zieht ihren Mund schief.
Streckt diesem Gegenüber die Zunge heraus.
Joeluka hat heute keine Zeit für sie.
Joeluka will sich heute richtig besaufen.
Viel Spaß, mein Freund, denkt sie sich.
Sauf auf das Ende der Junggesellenschaft.
Sauf den Frust runter.
Das Leben endet hier und morgen.
Auch ihre Freundinnen wollten sie abschleppen.
Doch Lieselotte hat dankend abgelehnt.
Die Peinlichkeiten für Facebooks Augen kann sie sich sparen.
Nur um irgendwann zurückzudenken, wie verrückt sie alle doch waren …
Nö.
Werden Rückzieher gestattet?
Zu diesem Zeitpunkt?
Sie denkt an Sektpyramiden und Riesentortenanschnitt.
Eine Wahnsinnsshow ist geplant.
Alle beteiligten Eltern haben ihr Bestes gegeben.
Nur irgendwie.
Irgendwie hat niemand Lieselotte nach ihrer Meinung gefragt.
Ihren Wünschen.
Ihren Vorstellungen.
Und nun?
Ihr Herz wiegt schwer.
Sie sieht sich im Raum um.
Eine halbe Million Herzluftballons.
Und zwei große Gasflaschen voll mit Helium.
Sie werden zum Himmel aufsteigen.
Dieses Bild hat sich Lieselotte immer für ihre Beerdigung gewünscht.
Es erschreckt sie ein wenig, dass dieser Wunsch nun für ihre Hochzeit verplant wurde.
Für den Tag der Tage.
Den schönsten Tag in ihrem Leben!
Lieselotte rauft sich durch ihre seltsamen Locken.
Kommt sich vor wie eine kauzige Schrulle.
Ihr Blick streicht weiter durch den Raum.
Prächtig prangt das Kleid an der Schrankwand.
Sehr schlank mit unfassbar viel Rock unten dran.
So viele Tüllschichten!
Das Kleid von Aschenputtel war Kinderkack daneben.
Und während sich ganz vorsichtig eine Idee in ihrem sehr hübschen Kopf manifestiert, schleicht sich endlich ein zartes Lächeln in ihr Gesicht.
Seit über einem Jahr wurde sie gedängelt und bevormundet.
Wurden Regeln aufgestellt, die sie sich vorher gar nicht ausmalen konnte.
Inzwischen ist es fast Nacht und die Sommersonne verabschiedet sich.
Ist es nur Utopie?
Oder wird man sie für diese Tat auf dem Scheiterhaufen verbrennen?
Das alles ist Lieselotte gerade sowas von egal!
Soll Joeluka saufen.
Sie geht ihren eigenen Weg.
Endlich.
Endlich fühlt sie sich wieder an wie die Lieselotte, die sie immer war.
Bis vor einem guten Jahr …
Ihre Memoiren werden nun umgeschrieben!
Das Spiel beginnt mit diesen fremden Locken!
Das Rasiermesser ist schnell zur Hand.
Mit jedem Schabschab fühlt sie sich freier.
Wie ein Schmetterling, der aus seinem Kokon schlüpft.
Dieses Gefühl der Erlösung ist absolut narkotisierend.
Ein Blick in den Spiegel.
Lieselotte lacht schrill auf.
Wie phantastisch ist das denn!
Sie ist wieder sie.
Und wer wie Lieselotte aussieht, darf sich auch so benehmen!
Sie streift sich das hellblaue Stumpfband über ihren Oberschenkel.
Sie grinst schief.
So knochige Knie!
Das macht nun nichts mehr.
Sie darf das.
Darf das alles!
Sie malt sich schwarze Kriegerstreifen auf ihre Wangen.
Und sehr roten Lippenstift auf die Lippen.
Sie darf das!
Ohne diese blöden Haare sind ihre Augen viel größer.
Bestimmen ihr Gesicht.
Voller Freude klimpert sie sich vor dem Spiegel zu.
Und nun nimmt sie ihr Brautkleid.
Steigt ein.
Das ist nicht so einfach, weil sich der Reißverschluss natürlich hinten befindet.
Doch Lieselotte ist nicht nur schlaksig dünn, sondern auch sehr beweglich.
Als nächstes rafft sie die vielen Tüllschichten zusammen und bindet sie gekonnt mit der stabilen Packschnur an ihren Beinen fest.
Das Bild, das sich im Spiegel zeigt, gefällt ihr
von Minute zu Minute besser.
Der ellenlange Schleier.
Mit einem lauten Ratsch löst sie ihn von dem Haarreif.
Faltet ihn insgesamt fünfmal und bindet ihn sich nach Rambomanier um den Kopf.
Und dann kommt der Moment der Wahrheit.
Kann es funktionieren?
Sie bedient sich am roten Schlauch der ersten Gasflasche.
Steckt ihn mit etwas Mühe in die Korsage.
Also von oben zwischen ihren minimalistischen Brüsten hindurch und hinein.
Zwängt sie den Schlauch bis in den Hohlraum des abgebundenen Rockes.
Und dann
…
Dreht sie auf!
Die Gasflasche zischelt leise.
Der Rock wölbt sich.
Und ganz sachte wird Lieselotte immer leichter.
Schon nach der ersten Flasche kann sie kaum ihre Füße auf dem Boden halten.
Aber nach der zweiten Flasche!
Nachdem sie auch die zweite Flasche in ihren Brautrock entleert hat, schwebt sie federleicht zum Fenster hinaus.
Ein flauer Sommernachtswind empfängt Lieselotte auf ganz wunderbare Weise und hebt sie hoch in die Wolken.
Frei und schwerelos.
So einen klaren Kopf hatte sie schon lange
nicht mehr.
Wer nun denkt, das sei alles nur ein Traum, der irrt.
Und so schwebt Lieselotte ganz real über die Wipfel des Dorfes.
Der Mond strahlt zu ihr herab.
Und ganz sonderbar erhaben strahlt sie zu ihm hinauf.
Bei dem Blick in Richtung Erde, sieht sie Joeluka, wie er besoffen am Dorfbrunnen liegt.
Sie lächelt und winkt ihm zu.
Doch Joeluka schnarcht ganz leise.
Lieselotte schwebt weiter ihren Weg.
Beseelt lächelnd.
Sanfter Wind streicht über ihre Glatze.
Ganz langsam erhebt sich die Sonne aus ihrem Schlaf.
Die Glocken läuten einladend.
Locken die gesamte Dorfgemeinschaft an diesem großen Tag in die Kirche.
Dem Tag der Tage.
Verkatert öffnet Joeluka seine Augen.
Er liegt noch auf dem Dorfplatz.
Mühevoll erhebt er sich und streicht seinen Anzug glatt.
Der Weg zur Kirche ist von hier aus nicht weit.
Ganz langsam verduftet das Helium aus dem Rock von Lieselottes Brautkleid.
Immer tiefer schwebt sie.
Der Windhauch bestimmt die Richtung.
Richtung Kirchplatz.
Sie sieht schon von weitem ihren Joeluka.
Verlottert und verkatert.
Und von weitem sieht er seine Lieselotte.
Wie im Traum.
Sie schwebt auf ihn zu.
Er reibt sich die Augen.
Ist das wahr oder ist sein Hirn immer noch benebelt.
Doch so hinreißend hat er sie schon lange
nicht gesehen.
Völlig verrückt! So wie früher …
Vor einem guten Jahr.
Als sie sich ihr Versprechen gaben.
Und in die Klauen der Gesellschaft gerieten.
Vom Himmel herab winkt sie ihm zu.
Mit Kriegerstreifen und ohne diese komischen Locken, die sie so verändert hatten.
Nachdenklich reibt er sich sein Stoppelkinn.
Grinst schelmisch.
Wie sehen wir nur aus? Denkt er sich.
Nun erreicht Lieselotte mit den Fußspitzen den Boden.
Luftig leicht hüpft sie auf ihn zu.
Landet in seinen Armen.
Sie sehen sich tief in die
Augen.
Ja.
Es soll sein.
Heute.
Und für immer.
Der Tag der Tage.
Der schönste Tag im Leben.