Nachdem er die anonyme Botschaft erhalten hatte, öffnete er sein Schreibpult, entnahm einen Bogen Pergament, Schreibgerät, Siegelwachs und Siegel, entzündete eine neue Kerze und setzte sein Testament auf. Wie sich später anhand der Datumsangabe feststellen ließ, geschah dies am Abend des 28. März 1254. Bevor er aus seiner sizilianischen Villa verschwand – auch dies ließ sich später mit Hilfe von Zeugen rekonstruieren – vergingen jedoch noch weitere fünf Tage, die er nutzte, um eine Reihe von
Täuschungsmanövern in Gang zu setzen. Methodisch verwischte er jede Spur, die über sein Ziel hätte Aufschluss geben können. Er durfte nicht riskieren, dass jemand von seinen Plänen erfuhr, und versuchte, ihn aufzuhalten. Trotz sorgfältiger Planung unterlief Gandar von Rodéna, Herzog von Rodi jedoch ein Fehler. Eine Unaufmerksamkeit, die das Misstrauen zweier Männer und einer Frau erregte und sie veranlasste, sich auf die Suche nach ihm zu machen. Was jedoch viel zu spät war, um die Ereignisse noch aufzuhalten. Man schrieb Mitte Juli, als Gandar zum ersten Mal das Gefühl hatte, verfolgt zu
werden. Er hatte gelernt, seinen Instinkten zu trauen, doch nachdem er beinahe vier Monate unbehelligt geblieben war, erschien es ihm unwahrscheinlich, so kurz vor dem Ziel noch Schwierigkeiten zu bekommen. Umso größer war sein Schock, als er erkannte, dass sein Freund Ahmad ibn Ascher Halewi ihn trotz aller Vorsicht ausfindig gemacht hatte. Die Anwesenheit des Sarazenen war wie etwas Dunkles, das sich zwischen ihn und das Licht am Ende seines Weges schob. Er wollte niemand in die Sache hineinziehen. Schon gar nicht den Mann, den er wie einen Bruder liebte. Und so versuchte er auf dem letzten Abschnitt
der Reise jede Finte, die ihm einfiel, doch Ahmad ließ sich nicht abschütteln. Wie kann er nur so anhänglich sein, dachte Gandar. Anhänglich? Zum Wächter ist er mir geworden. Seine Blicke – o Gott! Bei ihm könnte ich mir alles von der Seele reden. Ich möchte mir alles von der Seele reden. Es drängt mich, ihm meine Gründe zu erklären, damit er mir, dem treulosen Bruder, vielleicht eines Tages vergibt …
Gandar saß im Sattel seines Pferdes und schüttelte den dunklen Schopf. Vergebung zu erlangen war unmöglich, das wusste er. Ahmad in seine Pläne einzuweihen ebenso. Der Sarazene konnte ihm das, was er zu tun hatte, sehr
schwer machen. Deshalb musste er klug vorgehen, musste Ahmad in Sicherheit wiegen, bis… Ahmads braune Stute schnaubte und riss ihn jäh aus seinen Gedanken. Gandar warf seinem Freund einen schnellen Seitenblick zu, den der Sarazene mit fragender Miene erwiderte. Was für eine elende Zwickmühle, schoss es Gandar durch den Kopf und er biss sich nachdenklich auf die Unterlippe, während er überlegte, was er sagen sollte. »Ahmad--«, setzte er an. »Ja?«, fragte Ahmad. »Ja, Gandar?« Aber Gandar konnte nicht weitersprechen. Was er ausdrücken
wollte, ließ sich nicht so leicht in Worte fassen, wie er gedacht hatte. Alles, was er vorbringen konnte, klang irgendwie – falsch. Lächerlich. Nicht zum ersten Mal fragte er sich, ob es wirklich klug war, an seinem Entschluss festzuhalten. Vielleicht ritt er geradewegs in eine Falle. Vielleicht lockte man ihn hierher, nur um ihm zu sagen, dass sie tot war. Doch was immer die Gründe waren - er brauchte Gewissheit. Gandar griff seiner Stute in die Zügel, bis sie langsamer wurde. Seite an Seite lenkten die Männer ihre Rösser einen Hang hinab, bis sie sich nicht mehr als Silhouetten gegen den Himmel abzeichneten, und blieben dann stehen.
Vom Pferderücken aus hatten sie einen weiten Blick über die östliche Wetterau. Umgeben von brachliegenden Feldern schliefen zwei, drei einsame Weiler im Schutz schweigend zusammengesunkener Eichen. Es war die Zeit des Sonnenaufgangs; aber noch zeigte sich nichts, noch lagen Himmel und Erde nah aneinandergerückt in der Dämmerung. Ahmad stieß hörbar die Luft aus, drehte den Kopf hierhin und dahin und sah sich um. »Es ist an der Zeit. Wenn du erlaubst, möchte ich hier mein Morgengebet sprechen.« »Niemand folgt uns«, sagte Gandar.
»Demnach sollte es sicher sein, hier zu beten.« Ahmad glitt aus dem Sattel, breitete seine Decke aus, kniete nieder und sprach die vorgeschriebenen Worte des Morgengebetes. Gandar blieb im Sattel und ließ den Blick wachsam über die Landschaft schweifen. In seinem Kopf jagten sich die Gedanken: Ahmad redet wie immer. Ahnt er tatsächlich nicht, wohin wir reiten? Oder ahnt er es doch? Vielleicht weiß er es schon längst und dies hier stellt eine Probe, eine Prüfung dar?
Ahmad ist klug. Bestimmt hat er diesen Ort wiedererkannt. Oder doch nicht? Immerhin waren wir seit beinahe zehn Jahren nicht mehr hier … Eine Ewigkeit
ohne Gwenfrewi. Ein halbes Leben ohne Nachrichten von ihr…
Ahmad beendete sein Gebet, verstaute seine Decke, bestieg wortlos sein Pferd und lenkte es auf eine Weggabelung zu, die vom nächsten Dorf wegführte.
»Wo willst du hin, Ahmad?«, fragte Gandar. »Ich kann mich nicht erinnern, erwähnt zu haben, dass ich diesen Weg nehmen möchte.«
»Oh weiser Gott! Warum muss ich ertragen, dass du mich behandelst wie ein unmündiges Kind, mein Bruder? Ich habe Augen im Kopf! Glaubst du, ich wüsste nicht, dass wir zu jener verfluchten Burg des Todes unterwegs
sind?« »Ahmad ...« »Schön. Du willst nicht darüber sprechen. Nur ändert das nichts an der Tatsache, dass du besser daran tätest, dich auf der Glouburg nicht sehen zu lassen.« Gandar schloss kurz die müden Augen. Er lebte seit Wochen in einem Zustand abgrundtiefer Verzweiflung, doch es gab auch noch kurze, jähe Momente des Aufbegehrens. Eben jetzt durchzuckte ihn wieder Hoffnung: und wenn ich zu schwarz sehe? Wenn dieser Brief, den ich erhalten habe, doch genau die wohlmeinende Warnung ist, die er vorgibt zu sein? Dann würde, dann
könnte es mir am Ende doch noch gelingen, das Unheil abzuwenden … »Was willst du auf der Glouburg?«, fragte Ahmad. »Auf diese Frage habe ich noch keine Antwort gefunden«, musste Gandar einräumen. »Du enttäuschst mich, Bruder. Du warst immer ein Mann, dessen Wort etwas galt. Doch jetzt bist du bereit, deinen heiligen Eid zu brechen, und kannst mir nicht einmal einen Grund dafür nennen. Das begreife ich nicht. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie ehrenhaft du bist.« »Das war nach außen hin.« »Nein, Gandar. Das kam von ganz tief innen.«
Mit einem leisen Seufzen schüttelte Gandar den Kopf. Ahmad ahnt nichts vom Inhalt des Briefes. Ahnt er wirklich nichts? »Du und ich waren immer eng miteinander verbunden«, sagte Ahmad. »Wie Brüder. Mehr noch. Enger als die meisten Brüder es je sind. Da weiß man solche Dinge.« Gandar öffnete den Mund zu einer Erwiderung, aber dann schloss er ihn wieder, ohne etwas zu sagen. »Auf einmal bist du so – fern«, fuhr Ahmad fort. »Unnahbar. Verschlossen wie eine Auster. Du tust Dinge, die mich mit Schrecken erfüllen. Du lügst und betrügst, du lässt dein Land und deine
Bauern im Stich, ohne ein Wort der Erklärung. Ich möchte den Grund begreifen – aber ich finde ihn nicht… Wofür bist du bereit, so tief zu sinken, Bruder Löwe?« Für Gwenfrewi, dachte Gandar. Er fühlte sein Herz klopfen im schnellen Rhythmus des Hoffens entgegen jeder Logik, jeder Tatsache. Vielleicht würde er sie wiedersehen. Nur einen Herzschlag lang in ihr geliebtes Antlitz blicken, wissen, dass es ihr gut ging. Das war alles, was er sich wünschte… »Antworte mir, Gandar.« »Jetzt nicht, Ahmad – bitte. Ich … will jetzt nicht denken.« Jählings war wieder die Verzweiflung da, die grauenvolle
Verzweiflung der letzten Zeit. Vorbei der wilde Herzschlag des Hoffens. Es ist zu spät, dachte Gandar. Am Ende meines Lebens werde ich auch diesen Freund belogen und getäuscht haben. Es gibt keinen Ausweg. Aber für ein paar Augenblicke wenigstens wollte er so tun, als hätte sich an dem bedingungslosen Vertrauen zwischen ihnen nichts geändert. »Ich muss es wissen, Bruder«, beharrte Ahmad. »Mein Herz will schier zerspringen vor Kummer, weil du keine Pläne für die Heimkehr machst.« Gandar antwortete nicht darauf. Sie führten diese Unterhaltung in der einen oder anderen Form seit Wochen, seit
Ahmad ihn in Bolzano aufgespürt hatte. Alle Argumente waren längst gesagt und unzählige Male wiederholt worden, ohne dadurch besser oder schlechter zu werden. Er zuckte mit den Achseln und wich Ahmads Blick aus. »Ich kann die Zukunft nicht voraussagen. Ich weiß nicht, was morgen oder übermorgen sein wird.« Ahmad starrte ihn an, und Gandar spürte nur zu deutlich, dass er ihm nicht glaubte. Er weiß es. Oh ja, dachte Gandar bitter, Ahmad weiß, warum es nicht nötig ist, Pläne für eine Rückkehr nach Sizilien zu machen. Darum wird er bis zum letzten Augenblick nicht von meiner Seite
weichen… Ahmad schnalzte und die Stuten fielen in einen flotten Trab. Der feuchte Atem der Tiere hinterließ weiße Wolken in der klaren Luft. Hohes, von Reif gebeugtes Gras wischte an den Beinen der Pferde entlang. Dort, wo die Bäume bis an den Rand der Wiese standen, hielt sich in ihrem Schatten noch der Schnee, Überbleibsel des ersten Wintersturmes dieses Jahres. Mit einer Bewegung seiner Handgelenke dirigierte Gandar sein Pferd auf den Waldrand zu. Hintereinander drangen sie zwischen die Bäume vor. Ein schwacher Geruch nach Erde und fauligen Blättern, nach Moos und Feuchtigkeit empfing Gandar. Die
Luft kam ihm noch kälter vor, als draußen auf dem freien Feld. Er vergrub die Hände im dichten Fell seiner Stute, in dem Versuch sie zu wärmen, aber er wusste, dass es genauso wenig helfen würde, wie die pelzgefütterten Handschuhe, die er trug. Wie der Schmerz kam auch die Kälte tief aus seinem Inneren. Aus seiner Seele. Für einen kurzen, gramerfüllten Moment gestattete er sich, an Gwenfrewi zu denken. Mein Engel. Der einzig wahrhaft gute, unverdorbene, makellos reine Mensch, der mir je begegnet ist. Sie kennt keinen Hass. Sie hasst nicht einmal mich, der
ich… Abrupt zügelte Ahmad sein Pferd und hob warnend die Hand. Er lauschte. Irgendwo jenseits des Waldes ertönte das dünne Gebimmel einer Glocke. »Hörst du das?«, fragte der Sarazene überrascht. »Das muss die Kapelle der Glouburg sein.« »Unmöglich«, murmelte Gandar. »Die Entfernung stimmt nicht… die Glouburger Glocke müsste viel lauter zu hören sein.« »Du bist also tatsächlich fest entschlossen, zur Burg zu reiten? Was tun wir, wenn man uns nicht einlassen will?« »Es gibt - einen Geheimgang, durch den
ich ungesehen in die Burg gelangen kann. Allein.« »Ein Bruder verlässt seinen Bruder nicht.« Gandar seufzte. »Ich habe befürchtet, dass du das sagst. Aber dieses letzte Stück des Weges muss ich allein gehen. Es nutzt keinem, wenn du dich opferst.« Ahmad schüttelte nur schweigend den Kopf. »Glaub mir Freund, deine Worte bedeuten mir viel, andererseits … vermag ich sie kaum zu ertragen«, fuhr Gandar fort. »Ich würde mich wohler fühlen, wenn du nach Sizilien zurückkehrst und in Rodéna nach dem Rechten
siehst.«
»Bin ich denn so verächtlich geworden«, flüsterte der Sarazene, »dass du mich davonjagst wie einen Hund?«
»Bitte«, sagte Gandar. »Ich möchte, nein ich befehle dir, dass du ... «
»Genug«, unterbrach Ahmad. »Ich weiß, was du sagen willst. Aber ich will es nicht hören. Es schmerzt, dass du versuchst, mich fortzuschicken. Ich hoffe, du hast einen wirklich triftigen Grund überhaupt hier zu sein …«
»Den habe ich«, sagte Gandar.
Gandar griff in seine Gürteltasche und zog ein zerknittertes Stück Pergament hervor. Ahmad sah erschrocken, wie sich sein Gesicht dabei veränderte; sein Mund wurde hart, seine Augen eisig grün; die Knöchel am Handrücken zeichneten sich deutlich unter den Handschuhen ab. Mit einer abgehackten Bewegung streckte er ihm das Pergament entgegen. »Lies selbst …« Ahmad nahm das Pergament und entfaltete es. Wenn du Dame Gwenfrewi schlimmes
Ungemach ersparen willst, so komm an Simon Judae zur Glauburg. Ein Freund »Bismillah!«, murmelte er. »Wann ist das gekommen?« »Vor drei Monaten, zwei Wochen und nunmehr vier Tagen.« »Du weißt nicht, wer dir diesen Unsinn geschickt hat, oder?« Gandar warf dem Sarazenen einen kurzen Seitenblick zu. »Es ist kein Unsinn, sei versichert. Es gibt nur wenige Menschen, die von meiner Verbindung zu Madonna Gwenfrewi wissen. Keiner von ihnen würde sich einen derart geschmacklosen Scherz
erlauben.« Ahmad dachte einen Moment darüber nach und nickte schließlich. Auch wenn ihm Gandars Argumente nicht gefielen, waren sie doch schwer zu entkräften. Er faltete das Pergament wieder zusammen und gab es zurück. Dann nahm er die Zügel seiner Stute auf und trieb sie an. Langsam wich das Unterholz zurück und die Bäume standen weiter auseinander. Gandars Stute schlug mit dem Kopf und drängte vorwärts. Bald erreichten sie den Waldrand. Vor ihren Augen erstreckte sich ein sanft abfallendes Tal, welches wiederum in einen von Wallanlagen geschützten Hügel überging. Ahmad sah sich erstaunt um. Wenn ihn seine
Erinnerung nicht trog, hätte man von Osten her, über der Ebene, die Türme und Zinnen der Glouburg erkennen müssen. Nichts davon zeigte sich. Alles wirkte mit einem Mal milchig - es gab keine Wolken und keinen Himmel, auch keinen Nebel und keine Sicht. Und keine Geräusche. Nicht ein einziger Laut drang zu ihnen herüber, keine Hammerschläge von Zimmerleuten, kein Klimpern und Klingeln von Blechschmieden und kein Geschrei spielender Kinder. Sämtliche Kochfeuer schienen gelöscht zu sein, denn es hing auch kein Rauchgeruch in der Luft. Gandar an seiner Seite war erschreckend blass geworden. »Das gefällt mir nicht«,
sagte er und stieg aus dem Sattel. »Wir haben die Glocke gehört, aber plötzlich ist es totenstill? Da stimmt etwas nicht.« Er warf Ahmad die Zügel seines Pferdes zu. »Warte hier.« Geschickt jede Deckung nutzend eilte er davon. Ahmad blickte ihm unschlüssig nach, bis ein schmaler Gürtel aus Buschwerk ihn seinen Blicken entzog. Um sich zu beschäftigen, trat Ahmad zu den Pferden, prüfte die Hufe der Stuten, jede Schnalle, jeden Riemen des Zaumzeuges. Immer wieder hob er lauschend den Kopf, versuchte, die Geräusche von Gandars Schritten auszumachen. Schließlich bekam Ahmad es mit der
Angst zu tun. Schnell schlang er sich die Zügel der Pferde um den Arm und folgte dem Pfad, der sich am Waldrand entlang in dürrem Gestrüpp und spärlichem Gras dahin schlängelte. Vor seinen Schuhen rollten die trockenen Kotkügelchen von Kaninchen auseinander, deren Menge verriet, dass die Tiere hier schon seit längerer Zeit nicht mehr gejagt wurden. Und dann sah er Gandar. Sein Freund stand mitten auf der Wiese, die Augen auf einen Punkt in der Ferne gerichtet, und presste den Handrücken gegen die Lippen. So reglos verharrte er, als sei er das Werk eines Bildhauers, ein großer schlanker Mann, das dunkle Haar
verwirrt, das Gesicht von Sonne und Wind dunkel gegerbt. Er trug einen Mantel von dunkler Farbe, darunter ein Kettenhemd, dunkle Beinlinge, denen man die langen Wochen im Sattel ansah und fellverbrämte, wadenhohe Stiefel. So stand er, bis Ahmad ihm die Hand auf den Arm legte. »Bruder? Beim allmächtigen Gott, was ist geschehen?« Gandar versuchte zu sprechen. Seine Lippen bewegten sich, formten Worte. Doch kein Laut drang hervor. Ahmad starrte ihn einen Herzschlag lang an, bevor er erschrocken die Augen aufriss, Gandar grob an der Schulter packte und ihn schüttelte. Gandar schreckte auf, als erwache er aus
einem Traum. »Da ...«, flüsterte er, »schau hin… schau genau hin… siehst du es?« »Nein«, sagte Ahmad. »Ich sehe nichts.« »Das«, sagte Gandar mit ausdrucksloser Stimme, »ist es ja gerade. Du siehst nichts. Weil da nichts mehr ist. Aber es müsste etwas dort sein. Nämlich die Mauern der Glouburg. Man konnte sie immer von hier aus sehen ...« Und dann begriff auch Ahmad, was Gandar meinte. Auf der Kuppe des Hügels über ihnen erhob sich eine Ruine, ein Haufen geborstener Steine, aus dem noch die Reste des Wachturms, die schlanken Säulen halb eingestürzter Fensterarkaden, die Trümmer des
Wehrganges herausragten, als seien sie der Faust des Riesen, der hier gewütet hatte, entgangen. Der krächzende Schrei eines im blassen Himmel kreisenden Raben riss Ahmad aus der Betäubung, in die ihn der Anblick der zerstörten Burg versetzt hatte. Er sah Gandar wie einen Schlafwandler den Hügel hinauf eilen. Hastig bestieg er sein Pferd, nahm Gandars Stute am Zügel und galoppierte hinter ihm her. III Gandar lief sehr schnell. Er stolperte über Unebenheiten, riss sich die Hände
an wilden Brombeerranken blutig, kletterte über Mauerreste und Treppenstufen, die vom Raureif gefährlich glatt waren. All das bemerkte er nicht. Überall züngelten schwarze Rußspuren am Mauerwerk empor, ebenso Zeichen eines Brandes, wie die zum Himmel starrenden verkohlten Balken. Mit einem rauen Klagelaut sank Gandar schließlich zu Boden. Eine solche Vielzahl von Empfindungen stürzte auf ihn ein, dass es ihm im wahrsten Sinne des Wortes den Atem verschlug. Er versuchte, Luft zu holen, aber es vergingen ein paar Augenblicke, ehe es gelang. Seine Hände wurden feucht, seine Gesichtshaut schien sich
zusammenzuziehen, und seine Eingeweide verkrampften sich. Er wusste nicht, wie er all der Bilder und Erinnerungen Herr werden sollte, die auf ihn einstürzten: Richard, sein toter Zwillingsbruder. Gwenfrewi und verstohlene Berührungen im Mondschein… Fortuna war wankelmütig und voller Tücke, das wusste er. Hatte sie ihm die Aussicht auf ein Wiedersehen mit der geliebten Frau vielleicht nur beschert, damit sein Schmerz umso größer war, wenn sie ihm am Ende jede Hoffnung nahm? Bei dem Ausmaß der Zerstörung waren alle, die er einmal gekannt hatte, nicht
mehr am Leben. Nur ich bin übrig, dachte er - nur ich. Für eine kleine Weile. Als Gandar seine Umgebung wieder bewusst wahrzunehmen begann, sah er, dass er in der ehemaligen Kapelle vor dem Altar niedergesunken war. Schwerfällig hob er den Kopf und warf einen Blick nach oben. Das Dach war verschwunden und durch die leeren Fensteröffnungen drängte Gestrüpp herein. Er richtete sich auf, bis er kniete und versuchte ein Gebet zu sprechen. Aber er konnte es nicht. Dies alles hier ließ keinen Raum für Gebete. Ahmad räusperte sich leise und Gandar
schreckte auf. Erstaunt blinzelnd sah er sich um. Nur wenige Herzschläge waren vergangen, seit er die Kapelle betreten hatte. Nur wenige Minuten hatte er sich der Vergangenheit erinnert, während er sich umsah und doch nichts sah, weil seine Gedanken und Blicke gewandert waren, durch das unendliche Meer der Zeit, die hinter ihm lag. »Gandar, hört mir zu. Du musst eine Entscheidung treffen.« Gandar erhob sich abrupt. Seine Knie fühlten sich butterweich an und er wankte beinah, als er an eines der halben Fenster trat. Er stützte die Hände auf die eiskalten Steine und starrte blicklos auf das reifverkrustete
Gestrüpp.
Unerwartet fiel ein eisiger Wind über die Burg her, heulte angriffslustig durch die Ruine, hob Laub und Zweige vom Boden auf und jagte sie in einem wilden Tanz vor sich her. Die Bö zerrte an seinen Haaren, doch Gandar merkte es kaum. Tiefer und tiefer versinke ich in Erinnerungen, dachte er. Ein heißer Sommertag fiel ihm wieder ein - der Johannistag des Jahres 1246...
Von dort, wo die drei Ritter mit ihren Pferden hielten, hatten sie einen guten Blick auf die Burg. Die Sonne stand schräg über dem Bergfried und ließ die Steine des Turmes graugelb aufleuchten. Kernburg und Mauern dagegen waren in tiefe Schatten gehüllt, als gelte es, die Burg vor allzu neugierigen Augen zu verbergen. Gandar von Rodéna ließ seinen Blick rundum wandern, während er versuchte, so viele Einzelheiten wie möglich in sich aufzunehmen.
»Das ist sie also«, sagte er nüchtern. »Die Burg des Verräters.« »Ich hoffe, du hast recht und wir finden endlich die Beweise, die wir suchen.« Gareth von Cashel hob sein rotes Haar an und tupfte sich umständlich den Schweiß von Gesicht und Hals. »Ich möchte Konrad von Staufen ungern mit leeren Händen gegenübertreten.« Gandar hob eine Braue. »Du Gareth? Und dabei dachte ich, ich sei derjenige, der im Falle eines Misserfolgs die Schelte kassiert.« Er
hätte es gern mit einem unbekümmerten Grinsen gesagt, aber er brachte keines zustande. In seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. »Tja, besser du als ich«, gab Gareth zurück. »Du bist kein Kronvasall. Dir kann es gleichgültig sein, ob du Konrads Missfallen erregst oder nicht. Du hast nichts zu befürchten.« »Das mag sein«, warf der dritte Reiter, der Sarazene Ahmad ibn Ascher Halewi ein. »Aber du kennst den König. An Misserfolgen sind immer die Fremden schuld. Ganz
besonders, da er glaubt, wir seien von seinem Vater gesandt, um ihn zu bespitzeln.« »Er kann uns nichts anhaben«, sagte Gareth. »Wir stehen unter dem Schutz Kaiser Federicos.« »Das ist wahr«, erwiderte Ahmad. »Aber er kann uns mehr Steine in den Weg legen, als gut für uns wäre. Hast du daran gedacht?« Gareth setzte zu einer Antwort an, aber Gandar schüttelte in wortloser Ablehnung den Kopf und wandte seinen Blick erneut der Burg zu, die wie verlassen in der Mittagshitze lag.
Über den Weinbergen flimmerte die Luft. Das an- und abschwellende Summen der Fliegen und das Zischen der Luft, wenn der Schlag eines Pferdeschweifes sie teilte, waren die einzigen Laute im Schweigen dieser Mittagsstunde. Unterhalb der Burg schnitt der Rhein wie ein glitzerndes in willkürlichen Schleifen und Kehren hingeworfenes Band durch die smaragdgrünen Weinberge. »Reiten wir zum Fluss hinunter«, sagte Gandar. »Den Pferden wird ein Schluck Wasser guttun.« Er griff nach den Zügeln, wendete seinen
Hengst und lenkte ihn auf den staubigen Pfad zurück. Gareth und Ahmad folgten. Der Graf von Rodéna war ein großer Mann von schlanker, geschmeidiger Gestalt mit festen Muskeln. Er saß ganz entspannt auf dem Pferd, doch hinter der lässigen Haltung lag gespannte Wachsamkeit. Die Haube seines Panzerhemdes war zurückgeschlagen; zerzaustes, graues Haar fiel auf seine breiten Schultern und bildete einen auffälligen Kontrast zu dem dunklen Bart, der sein Kinn
bedeckte. Stunden in der Sonne hatten Falten in seine bronzefarbene Haut gegraben, die von den Augen ausstrahlten. Staub überzog als feine braunrote Schicht seine Sporen und die sorgfältig verarbeiteten Stiefel. Das Metall der Schienen, die seine muskulösen Beine schützten, war im Laufe der Zeit stumpf geworden. Schmutz und Staub langer Tage im Sattel bedeckte auch die Beinlinge und den verblichenen Wappenrock mit dem Hengstkopf von Rodéna. Das bis zu seinen Knien reichende
Kettenhemd dagegen glänzte und zeigte nicht den geringsten Anflug von Rost, ein Umstand, der die Schäbigkeit seiner Bewaffnung umso deutlicher hervorhob. Die Schwertscheide an seiner Seite wirkte schmutzig und brüchig, wie nach zu langem Gebrauch. Parierstange und Griff seiner Waffe waren mit schweißfleckigem Band umwickelt. Nur wenige Menschen wussten, was sich unter der unansehnlichen Hülle verbarg: Eine Damaszener Klinge der kostbaren Art, wie sie nur als Geschenk oder
Erbstück den Besitzer wechselt. Der Weg führte jetzt steil bergab. Stampfende Pferdehufe ließen Wolken von Staub aufwirbeln. Vor den Sätteln wippten die Wasserschläuche, an den Gürteln der Männer gluckerten verstöpselte Kürbisse. Immer weiter schlängelte sich die Straße ins Tal hinab, vorbei an Wiesen und Hecken, über eine Brücke und unter einer römischen Wasserleitung hindurch. Nach einer Wegbiegung glitzerte ihnen die breite Wasserfläche des Rheins entgegen und Gandar lenkte
sein Pferd auf das Ufer zu. Bedächtig stieg er aus dem Sattel, warf seinem Rappen die Zügel über den Kopf hinweg zu Boden, was das Tier als Zeichen kannte, am Ort zu bleiben, nahm den Schild von der Schulter und lehnte ihn an den Stamm eines Baumes. Während Gareth ihre Kürbisflaschen ausspülte, führte Ahmad die Pferde nacheinander in den Fluss, um sie vor dem Aufstieg zur Burg trinken zu lassen. Gareth warf einen abschätzenden Seitenblick in Gandars Richtung. »Wieso habe ich das Gefühl, dass du
uns seit Längerem etwas verschweigst, Gandar?«, fragte er plötzlich. Gandar drehte sich mit einer abrupten Bewegung herum und schaute Gareth an, der ihn mit jenem nachdenklichen, halb besorgten Ausdruck musterte, den er in den letzten Tagen oft an ihm beobachtet hatte. »Du bist so verdammt schweigsam, dass es schon an Unhöflichkeit grenzt. Warum erzählst du uns nicht, was dir Sorgen macht? Es hilft.« Gandar erwiderte nichts. Er wusste
nicht, worauf Gareth hinaus wollte, aber er hatte das Gefühl, dass es mehr war als ein belangloses Gespräch, das nur geführt wurde, um die Eintönigkeit zu vertreiben. »Ich wollte dich schon lange fragen«, fuhr Gareth fort. »Aber ich habe noch keine Gelegenheit gefunden.« »Wir haben nicht die Zeit für lange Gespräche.« »Ich weiß, dass es der schlechteste Moment ist, um darüber zu reden, aber ...« »Warum tust du es dann?« »Weil es vielleicht der letzte
mögliche Moment ist, Gandar. Ich fürchte, wir reiten hier geradewegs in eine Falle. Du weißt, dass ich dir folge, wohin auch immer du uns führst. Aber ich wüsste schon gerne, warum man gerade uns ausgewählt hat, um ... nach dem Verräter zu suchen.« Gandar warf seinem Freund einen schnellen Blick zu. »Das wolltest du zuerst nicht sagen.« »Ich… ach, schon gut.« »Was für eine erbärmliche Antwort.« Gareth stieß hörbar die Luft aus und wandte den Kopf
ab. »Sei so gut und beantworte meine Frage, Gareth.« »Na gut, meinetwegen«, willigte Gareth ein. »Weißt du, ich habe mich gefragt, was dich bewogen hat, dieses undankbare Kommando anzunehmen. Der König braucht dich. Wenn Vertrauen heißt, dass man dem anderen glaubt, was er sagt, dann traut er dir sogar. Du hättest ablehnen können. Ich bin sicher, Konrad hätte deinem Wunsch entsprochen.« »Mein Verhältnis zum König ist
außerordentlich kompliziert, Gareth. In erster Linie bin ich ihm unbequem.« Gareth ballte die Faust, wie um sich damit auf den Schenkel zu schlagen, und ließ die Hand dann mit einem Kopfschütteln wieder sinken. »Himmel Gandar, wir ziehen seit Wochen durch dieses barbarische Land- auf der Suche nach einem Verräter, von dem wir nicht einmal wissen, ob er tatsächlich existiert.« »Er existiert, glaub mir.« »Mag sein. Doch was nützt es uns, ihn zu finden? Wir haben in diesem
Land keinerlei Befugnisse und der König hat es versäumt, uns damit auszustatten. Warum hast du nicht auf Geleitbriefen bestanden?« Sein Blick haftete bei diesen Worten unverwandt auf Gandars Gesicht. Gandar zog die Brauen in die Höhe. »Warum sollte ich?« Gareth lachte grimmig. »Wir sind die Fremden. Wir sind entbehrlich.« »Stellst du meine Entscheidung infrage, Gareth?«, fragte Gandar. »Du kannst gehen, wenn du willst. Ich halte dich nicht zurück.« »Nicht streiten, Brüder«, warf Ahmad
auf Arabisch ein. »Das ist eurer nicht würdig.« Gareth schaute erst zu Gandar, dann zu Ahmad. »Ich hasse es, wenn ihr das tut«, sagte er missfällig. Ahmad runzelte in gespieltem Nichtverstehen die Stirn. »Wovon sprichst du?« »Stell dich nicht absichtlich dumm, Ahmad. Diese stummen Blicke, die ihr hinter meinem Rücken tauscht. Wie zwei verschworene Brüder, die ihre Geheimnisse nicht mit mir teilen wollen.« Ahmad wischte seine Beschwerde mit
einer ungeduldigen Geste beiseite. »Ich weiß, was du jetzt denkst – aber du irrst dich.« Er reichte Gandar die Zügel seines Pferdes und der Graf schwang sich in den Sattel. Anstatt sich jedoch wieder an die Spitze der kleinen Gruppe zu setzen, lenkte er seinen Hengst an Gareths Seite. »Du fragst dich, mein lieber Gareth, warum ich uns diese scheinbar aussichtslose Suche aufgebürdet habe – gut, ich will es dir sagen. Unsere eigentliche Aufgabe ist es, nach dem geheimnisvollen Dokument zu
forschen, das Kaiser Federico unbedingt in seinen Besitz bringen möchte.«
Gareth pfiff leise durch die Zähne. »So ist das also ...«
»Ja«, sagte Gandar. »Unser Auftrag erfordert strengste Geheimhaltung, wie du sehr wohl weißt. Folglich musste ich mir einen Plan einfallen lassen, der es uns ermöglicht umherzureisen, ohne dass es verdächtig wirkt. Aber da ist noch etwas.« »Und das wäre?« »Man hat Kardinal Valo zum neuen päpstlichen Legaten für das Deutsche Reich berufen«, erwiderte Gandar. »Ich fürchte, dass er ebenfalls hinter dem Dokument her ist. Dieses
Schriftstück im Besitz des Kaisers könnte die Kirche in ihren Grundfesten erschüttern. Das kann der Papst nicht riskieren. Valo ist skrupellos und verschwiegen und damit genau der richtige Mann für heikle Angelegenheiten. Unter dem Deckmantel des Legaten reist er im Land umher und sammelt Informationen. Er darf uns auf keinen Fall zuvorkommen. Genauso wenig wie er erfahren darf, dass Richard von Glouburg mein Zwillingsbruder ist.« Gareth riss die Augen auf. »Dein
Zwillingsbruder? Grundgütiger! Inzwischen sollte ich wirklich wissen, dass bei dir nichts so einfach ist, wie es oberflächlich betrachtet scheint«, bemerkte er, während sie ihre Rösser auf den schmalen Weg lenkten, der den einzigen Zugang zur Burg gewährte. »Jetzt begreife ich, warum du darauf bestehst in Verkleidung zu reisen. Nicht auszudenken, welch abergläubischen Schrecken es unter der Landbevölkerung hervorrufen würde, käme dieses Geheimnis ans Licht.« »So ist es«, bestätigte Gandar.
»Obendrein ist mir Kardinal Valo nicht freundlich gesonnen. Er hätte keine Skrupel, Richard als Druckmittel zu benutzen, käme es zu einem Wettlauf um den Besitz des Dokumentes.« »Weiß der König, dass der angebliche Verräter in seinen Reihen nur eine Erfindung von dir ist?« »Oh, aber das ist er nicht. Der Verräter existiert. Leider.« Gareth seufzte leise. »Nun, dann lasst uns zusehen, dass wir die Burg erreichen.« Das Bild, das sich den Männern bot,
hatte kaum mehr etwas mit dem verschlafenen Eindruck gemein, den die Burg aus der Ferne gemacht hatte. Das Fallgatter vor dem Eingang war heruntergelassen und teilte den Blick auf das Burgtor in Dutzende holz- und nietengesäumter Quadrate. Wachen gingen auf der Befestigungsmauer in Stellung. Helme glitzerten in der Sonne. Gandar hob die Hand. Ahmad und Gareth zügelten ihre Pferde. Von oben herab ertönte die knappe Frage nach dem Begehr. Gandar nickte unmerklich und Gareth trieb sein
Pferd an und ritt vor das Tor. »Bote der kaiserlichen Majestät Fridericus, an den Herrn von Brenneberg!« Der Wachtmeister verbeugte sich und verschwand. Die Männer warteten. Gareth sah immer wieder ungeduldig zum Wehrturm hinauf, und gestikulierte auffordernd mit der Hand, doch die Wachen mit ihren Helmen starrten lediglich auf sie herunter, unbeweglich wie Statuen. Gandar wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der
Stirn. Sein Pferd, das seine Ungeduld spürte, scharrte mit den Hufen. Hinter sich konnte er Ahmad im Sattel herumrutschen hören. Endlich begann über ihren Köpfen ein Rumpeln und Quietschen; das Fallgatter erbebte und ruckelte nach oben. Von einem der mächtigen Torflügel wurde die untere Hälfte geöffnet und gab den Blick in ein düsteres, nur von einer rußenden Fackel erhelltes Torhaus frei. Gandar wartete, bis das Fallgatter knapp die Oberkante des offenen Torflügels erreicht hatte, dann beugte
er sich tief über den Hals seines Pferdes und ritt unter Eisendornen hindurch, ohne die verdutzen Gesichter der Torwachen zu beachten. Er kam jedoch nicht sehr weit, denn die versperrten Torflügel des Eingangsportals wurden von zwei weiteren Wachposten flankiert, die drohend ihre Spieße kreuzten. Gandars Herz schien einen schmerzhaften Sprung zu machen. Für den Bruchteil eines Augenblicks stieg Panik in ihm auf, eine unbezwingbare Furcht, die jeden
Ansatz klaren Denkens hinwegspülte. Seine Hände schlossen sich um die Zügel, ballten sich zu harten Fäusten. Er hatte geglaubt, endlich über seine Schwierigkeiten mit engen Räumen hinweg zu sein. Aber hier war er nun, und die bloße Nähe von Mauern reichte aus, die gefürchteten Erinnerungen heraufzubeschwören. Das alles verdanke ich Valo, dachte er bitter. Diesem Ungeheuer an Grausamkeit – diesem wahren Sohn des Übels, an dem Satan, sein Vater, nichts als Wohlgefallen hat. Eines nicht zu fernen Tages werde
ich… Eine Bewegung am Ende des Tunnels ließ ihn aufblicken. Der Wachtmeister war in Begleitung des Burgkaplans zurückgekehrt. »Herr Gunther bittet darum, Euer Beglaubigungsschreiben sehen zu dürfen«, sagte der Geistliche. Gandar bewahrte bei aller Anspannung die Ruhe und zog ein gefaltetes Pergament aus seinem Wappenrock. Laut las er das kaiserliche Beglaubigungsschreiben vor und ließ den Kaplan einen Blick auf das anhängende Siegel
werfen. Der Kaplan neigte den Kopf. »Wenn die Herren mir folgen wollen.« Der Wachtmeister gab den Befehl, das Tor zu öffnen und der Kaplan führte sie in den inneren Burghof, wo Gunther von Brenneberg sie inmitten seiner Männer erwartete. Gandar sah den Mann, aber es war die junge Frau an seiner Seite, die seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Sie wirkte groß und langbeinig, obwohl sie ein paar Zentimeter kleiner war als der Mann, neben dem sie stand. Sie trug ein mit
Ornamenten verziertes Schappel als Kopfputz. Ihr offenes Haar hatte die Farbe von poliertem Kupfer, vermischt mit den dunkleren Tönen von Kastanien und Erde. Sie war ein faszinierendes Geschöpf - jung, und doch mit einem Ausdruck von Reife. Sein Blut pulsierte plötzlich schneller durch seine Adern. Hastig wandte er seine Aufmerksamkeit wieder dem Burgherrn zu und glitt aus dem Sattel. »Willkommen, Herr. Womit kann das Haus Brenneberg einem Abgesandten der kaiserlichen Majestät zu Diensten
sein?« »Wie Ihr unschwer erkennen könnt, sind wir weit gereist«, erwiderte Gandar. »Eine Mahlzeit und eine Schlafstatt kämen uns sehr gelegen.« »Mein Haus steht zur Verfügung«, antwortete Brenneberg. Seine Männer jedoch benahmen sich, als hätten sie den Teufel persönlich unter ihrem Dach. Vermutlich hatten sie zu viele Schauergeschichten über die Sarazenen gehört und erwarteten nun, dass Ahmad sie sofort abschlachten würde. Gandar warf ihnen einen grimmigen Blick
zu. »Bezähme dein Herz, mein Bruder«, murmelte Ahmad auf Arabisch. »Mein aufbrausendes Blut duldet nicht, dass du meinetwegen beleidigt wirst. Ich werde im Stall übernachten.« Pferdeknechte kamen gelaufen, um die Tiere wegzubringen. Ahmad ergriff die Zügel und bedeutete den Knechten mit einer stummen Geste, ihm den Weg zu den Stallungen zu zeigen. Gunther von Brenneberg lächelte. »Es wäre mir ein Vergnügen, wenn
Ihr mir die Ehre geben würdet, mit mir die Abendmahlzeit einzunehmen«, sagte er. Gandar nahm dankend an. Sie folgten dem Burgherrn durch ein Stiegenhaus in den ersten Stock. Im Saal war es dämmrig und kühl. Diener waren damit beschäftigt, neue Fackeln in die Halterungen an der Wand zu stecken. Als die Männer hereinkamen, verschwanden sie durch eine unauffällige Tür an der Rückseite des Saales. Der Burgherr führte seine Gäste zu einer Gruppe von Stühlen vor dem
Kamin und lud sie ein, sich zu setzen. Gandar sah sich verstohlen um. Sein Blick fiel auf ein Schachspiel und er trat an den Tisch, um es sich anzusehen. Aufmerksam betrachtete er die Stellung der Figuren auf dem Brett und erwog in Gedanken die Möglichkeiten der Spieler für den nächsten Zug. »Spielt Ihr ebenfalls, Herr …?«, fragte Brenneberg, während er Gandars Schild mit dem Hengstkopf zu den anderen an einen Steinpfeiler des Saales hängte. »So oft es meine Zeit erlaubt«,
erwiderte Gandar und überging dabei die unausgesprochene Frage nach seinem Namen. »Wie ich sehe, verfolgt Ihr eine interessante Strategie, Herr Gunther. Eurem Gegner dürfte es schwerfallen, seinen König zu retten.« Brenneberg lachte gutmütig. »Ich muss gestehen, dass ich es bin, der in der Falle sitzt«, erklärte er. »Meine Tochter Gwenfrewi führt die roten Figuren.« Gandar sah überrascht auf. Brennebergs Tochter, dachte er. Eine schöne Frau, die das Denken in
komplizierten Windungen beherrscht. Konnte die Lösung so einfach sein? Waren sie zu verblendet gewesen, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass eine Frau die Verräterin war?
In seinem Kopf begann sich das Bild zu einem Ganzen zu formen, aber das Muster war noch zu unvollständig, um es zu erkennen. Noch.