Dramatis personae Joran Gianfranco Ferroni Der Erbe des alteingesessenen Handelshauses Ferroni hat die Erfahrung gemacht, dass die größte Dunkelheit immer in der eigenen Seele ist Leocadia Ferroni Jorans kleine Schwester muss sich ihrer Vergangenheit stellen Helena Contarini Die Tochter von Viviana und Florimond Contarini glaubt an den Wert der Frau
und verzweifelt an der Haltung ihrer Familie Marliana Ferroni Die Witwe des Kaufherrn Ordelaf Ferroni fürchtet sich zu Tode - vor wem weiß sie selbst nicht so genau Jacopo Jorans Diener, der richtige Mann am richtigen Platz. Doch er kann nicht überall sein. Renaud d’Airelle Der strenge Templer hat Verbindungen bis ganz nach oben - und eine Rechnung zu
begleichen Laura Tatarou Die Herrin der Casa della beatitudine hat ihr Herz an Joran verschenkt, doch gegen ein Heer von Dämonen kommt sie nicht an Die Familie Contarini Ordelaf Contarini, das Familienoberhaupt, Viviana Contarini, seine Gemahlin, Gabriele, ihr zweitgeborener Sohn - sie alle wollen nur das Beste für Helena und sind bereit das auch durchzusetzen Renier
Contarini Helenas Lieblingsbruder und engster Verbündeter, doch bei der wichtigsten Entscheidung ihres Lebens ist er ganz und gar nicht ihrer Meinung Rafael von Rodéna Jorans Halbbruder, Freund und Geheimnisträger. Für einen Moment hat er die Schatten der Vergangenheit zu groß werden lassen Nike und Darius Ein Geschenk, auf das Joran nur zu gerne verzichtet hätte Zoe Contarini, Roana von Morra,
Ravena von Rocca d´Aquila
Ehefrauen der wohl halsstarrigsten Männer, die Venedig je gesehen hat
Vanna
Helenas Zofe. Das Mädchen hat den lästigen Hang immer zur Unzeit irgendwo aufzutauchen
Akkon, 13. Mai 1256 Messèr Joran, Eure Mutter lebt. Wo immer Ihr auch seid, wenn Euch diese Nachricht erreicht, kehrt nach Venedig zurück, so schnell es Euch möglich ist. Monna Marliana braucht Euch jetzt nötiger denn je. Euer untertänigster Diener Jacopo Joran Gianfranco Ferroni knüllte den Pergamentstreifen zusammen und wünschte, der Brief seines Dieners hätte
ihn nie erreicht. Seine Mutter - am Leben! Diese Nachricht war unglaublich. Ein Wunder, wie es ihm noch nie zuteilgeworden war. Doch eine beharrliche Stimme in seinem Inneren flüsterte ihm zu, dass dieses Wunder eher einem Sturz in den tiefsten Abgrund der Hölle gleichkam. Seine Kehle zog sich zusammen. Mit dem Schmerz des Verlustes war er zurechtgekommen. Er hatte ihn in blanke Mordgelüste umgewandelt und seine Peiniger gejagt, einen nach dem anderen. Er hatte sich keine Ruhe gegönnt, keinen Moment des Innehaltens, denn seine geschundene Seele hatte sich schlicht geweigert, sich dieser Qual auszuliefern. Seine Mutter
wiederzusehen würde die alten Wunden wieder aufbrechen lassen. Er stopfte das Pergament in seine Gürteltasche zurück und stützte die Unterarme auf die Mauerbrüstung. In einer nur schwer zu ertragenden Mischung aus Melancholie und Zorn starrte er auf das glitzernde Mittelmeer hinaus. Unter ihm brandeten schaumgekrönte Wellen gegen die Seemauern von Akkon. Nebenan, im Fischerhafen dümpelte seine Helena einträchtig neben den Booten der Einheimischen am Kai. Möwen kreisten um die Masten und stritten sich mit heiseren Schreien um die Reste des morgendlichen Fangs. In Jorans Ohren
klang es wie Spott und Gelächter über seine missliche Lage. Zu spät, zu spät, zu spät ... Joran stieß einen Seufzer aus. Er musste unverzüglich nach Venedig zurückkehren, daran gab es keinen Zweifel. Doch zuvor hatte er in Akkon einen Auftrag zu erledigen. Und dazu blieb ihm nur noch eine Nacht. Verdammt!
Er hasste es, sich beeilen zu müssen. Hast verursachte mehr Fehler als Dummheit oder Nachlässigkeit. Und Fehler durfte er sich keine erlauben. Ohnehin schien sein Vorhaben nahezu wahnwitzig, bedachte man den Umstand, dass die Reliquie, die er zu stehlen
beabsichtigte, in einem versiegelten Schrein auf einem Seitenaltar der Basilika St. Andreas aufbewahrt wurde. Er hätte sich mehr Zeit gewünscht, um sich besser abzusichern, doch nun musste es eben auch so gehen. Joran machte eine unwirsche Geste mit der Linken. War er nicht Ash´abah, der Geist, ein Mann, der gelernt hatte, mit den Schatten zu verschmelzen? Was keineswegs bedeutete, dass nicht tausend Kleinigkeiten schief gehen konnten. Einen Moment lang fragte er sich, ob es richtig gewesen war, den Lockruf des Goldes über sein Gewissen zu stellen. Heiligte der Zweck die Mittel oder war er dabei, sich ewige
Verdammnis einzuhandeln, die er niemals mehr… Joran wischte den Gedanken energisch beiseite. Seine Schwester verdiente ein sorgenfreies Leben, nach allem, was ihr zugestoßen war. Das schuldete er ihr. Und seine Mutter ... Der Himmel mochte wissen, welche Details Jacopo in seiner Botschaft ausgelassen hatte. Er brauchte ein Vermögen und der Verkauf der Reliquie bot ihm die Möglichkeit, es zu erlangen. So einfach war das. Vielleicht war der Zeitpunkt aus der Stadt zu verschwinden, nicht einmal schlecht. Venezianer und Genuesen stritten sich schon seit Jahren um die Handelsrechte in Akkon. Immer wieder
hatte Joran in den vergangenen Monaten miterlebt, wie die vergiftete Atmosphäre zwischen den beiden Parteien zu gefährlichen Konfrontationen geführt hatte. Die Auseinandersetzungen konnten jederzeit in einen Bürgerkrieg übergehen. Damit wollte er nichts zu tun haben. Er wandte sich um und machte sich auf den Weg zum Viertel der Venezianer am Hafen. Bevor er die engen Gassen und Treppen der Altstadt erreichte, hielt er einen Moment inne und blickte gewohnheitsmäßig zurück, um sich zu vergewissern, dass ihm niemand folgte. Er erreichte das Lagerhaus, wechselte ein paar Worte mit dem Torwächter und trat ein. In dem ihm zugewiesenen Abteil
stapelten sich Kisten mit Pfeffer und teuren Ölen, die er erworben hatte, um die Fassade des ehrenwerten Kaufmanns aufrecht zu erhalten. Er begab sich zum Pult des Aufsehers, bestellte zwei Träger, die seine Waren zum Hafen bringen sollten, und erledigte alle Formalitäten, die vor der Abreise erforderlich waren. Anschließend stieg er die Stufen zu der kleinen Kammer hinauf, die er in den vergangenen Monaten bewohnt hatte. Er packte seine Habseligkeiten in einen Sack, schwang sich die Last auf die Schulter und machte sich auf den Rückweg zu seinem Boot. Geduldig erwartete er die Ankunft der Träger, die seine Kisten brachten und
ihm halfen, sie im Laderaum zu verstauen. Schließlich war alles vorbereitet. Joran reichte jedem der Männer eine kleine Münze und schickte sie fort. Er sicherte die Ladeluke sorgfältig, griff nach einem leeren Sack und stieg wieder auf den Kai. Die Zeit bis zur Non verbrachte er im Basar, kaufte Reiseproviant und einige persönliche Kleinigkeiten. Nachdem er auch diese Dinge im Laderaum der Helena verstaut hatte, suchte er sich einen Platz im Schatten der Hafenmauer und machte es sich bequem. Nun galt es zu warten, bis die Nacht hereinbrach und die belebten Gassen sich leerten. Zu seinem Leidwesen schliefen
die meisten Bewohner von Akkon während der heißen Monate auf den flachen Dächern ihrer Häuser. Das war lästig, ließ sich jedoch nicht ändern. Joran spürte Angst, aber auch eine gewisse Erregung, als er in der Dunkelheit sein Boot verließ, wo er sich in die schwarzen Kleidungsstücke Ash´abahs gehüllt und den Gesichtsschleier angelegt hatte. Er huschte eine Treppe hinauf und bog in die Gasse zur Basilika ein. Im schwachen Licht der Sterne konnte er nicht viel sehen, doch er war den Weg oft genug bei Tageslicht gegangen, um sich jetzt zurechtzufinden. Die Gasse führte unter brückenähnlichen Konstruktionen
aus Stein oder Holz hindurch, die sich über die Straße wölbten und nützliche Schatten warfen, die ihn vor neugierigen Blicken verbargen. Unbehelligt erreichte er eine Seitenpforte der Basilika und schlüpfte ins Innere. Joran huschte einen Säulengang entlang in Richtung der Seitenkapelle. Die Werkzeuge an seinem Gürtel klirrten leise gegeneinander. Er blieb stehen, rückte den Gürtel zurecht und lauschte. »Confiteor Deo omnipotenti, et vobis, fratres, quia peccavi nimis cogitatione, verbo, opere et omissione ...« Die Stimme war sehr leise. Sie klang, als sei der Sprecher auf der anderen Seite der Kirche, irgendwo im Hauptschiff der
Basilika. So geräuschlos wie möglich eilte Joran weiter. Kurz darauf hatte er den Eingang zur Seitenkapelle erreicht, ein von mächtigen Säulen flankiertes Portal, das den Blick der Gläubigen direkt auf den Altar lenkte. Das sanfte Licht zweier Kerzen hob den vergoldeten, von einem Fresko überwölbten Reliquienschrein aus der Dunkelheit hervor und tauchte ihn in geheimnisvollen Glanz. Den Berichten zufolge enthielt der Schrein ein Reliquiar mit drei Barthaaren Christi, die sich reger Verehrung erfreuten. »Mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa ...«, ertönte die Stimme
wieder. Joran huschte in die Kapelle hinein und verbarg sich hinter dem Altar. Hier waren die Schatten tiefer, die Wandfresken und Mosaiken in der samtigen Schwärze kaum zu erkennen. Joran neigte den Kopf und lauschte, doch der Betende war verstummt. Die Stille war so vollkommen, dass Joran den Atem anhielt. Sein Herz klopfte bis zum Hals. In diesem Augenblick schlugen die Glocken der Basilika mit durchdringendem Dröhnen Mitternacht. Joran riss sein Brecheisen aus dem Gürtel und brach die Rückseite des Schreines auf. Er hoffte, dass der Glockenklang genügte, um den Lärm zu
übertönen, den er dabei unweigerlich veranstaltete. Wenig später hielt er das zwei Finger lange Reliquiar in den Händen. Er verstaute es vorsichtig in seiner Gürteltasche, lief zum Eingang der Kapelle und spähte in den Säulengang. Ein lähmendes Gefühl kroch seinen Rücken hoch. Er zuckte zurück und duckte sich hinter eine der Säulen. Ein Schemen im weiten Gewand stand zwischen ihm und dem Ausgang. Der Störenfried, der während der letzten dröhnenden Glockenschläge den Säulengang betreten hatte, trug die Ordenstracht eines Tempelritters. Und er wirkte nicht, als sei er zum Beten gekommen. Seine Hand lag am
Schwertgriff und er sah sich aufmerksam um. Joran fluchte lautlos. Da hatte er wohl doch mehr Lärm veranstaltet, als ihm klar gewesen war. Er zog sein Brecheisen aus dem Gürtel und schleuderte es mit aller Kraft gegen den Ritter. Doch der sprang zurück, sodass das Werkzeug gegen die steinerne Säule prallte und zu Boden polterte. »Rafael«, schrie Joran und rannte auf die Gestalt im weißen Habit zu, die ihn mit aufgerissenen Augen anstarrte. »Rafael! Jacopo! Gabriele! Zu mir! Sofort!« Und tatsächlich fuhr der Templer herum und riss sein Schwert aus der Scheide in Erwartung heranstürmender Männer. Entschlossen hob Joran sein Brecheisen
auf und flitzte zwischen den Säulen hindurch Richtung Hauptschiff. Er presste sich in eine Nische, hielt den Atem an und lauschte. Die hastenden Schritte des Templers verlangsamten sich, verstummten. Was tat er? Joran spürte, dass er ganz in der Nähe war und ihn belauerte. Mit eisigen Fingern griff die panische Angst nach seinem Verstand, eine archaische Furcht vor der Gefahr, die man nicht sehen konnte und der man hilflos ausgeliefert war. Sein Herz raste. Reglos verharrte er in der Nische, schluckte trocken und wartete ab. Endlose Augenblicke
verstrichen. Zuerst war er sich nicht sicher. Doch dann hörte er ein Rascheln. Offenbar bewegte der Templer sich auf ihn zu, bedächtig, langsam, leise. Joran spannte die Schultern an und sank behutsam in die Hocke. Da war es wieder, dieses Schlurfen. Ganz nah. Joran glitt in eine Rolle vorwärts, die ihn an dem Templer vorbei trug. Im Rücken des Mannes kam er auf die Füße und hob sein Brecheisen. Doch der Ritter war schnell. Er fuhr herum und ließ die Schwertklinge durch die Luft zischen. Joran warf sich zur Seite, landete unsanft auf den marmornen Bodenfliesen und rollte sich gerade noch aus der
Reichweite der blitzenden Klinge, die ihn nur um Haaresbreite verfehlte. Während der Ritter das Schwert erneut hochriss, gelang Joran ein Tritt in die Kniekehle des Mannes. Der Templer taumelte mit einem gurgelnden Schmerzenslaut vorwärts, fing sich jedoch sofort wieder und fuhr kampfbereit herum. Joran reagierte blindlings und ohne nachzudenken. Er warf sich nach vorn und rammte dem Angreifer die Schulter in die Seite. Wie zu erwarten war, richtete der Stoß keinen nennenswerten Schaden an. Dennoch war die Wucht von Jorans Ansturm so groß, dass der Templer zwei Schritte zurücktaumelte. Noch während er mit
wild rudernden Armen um sein Gleichgewicht kämpfte, riss Joran sein Brecheisen heraus und deckte seinen Gegner mit einem Hagel wüster Hiebe ein, die diesen zwar nicht ernsthaft in Gefahr brachten, ihn aber daran hinderten, sein Schwert einzusetzen. Doch der Templer ließ sich nicht lange an der Nase herumführen. Er hatte seine Überraschung überwunden, parierte den letzten Hieb dergestalt, dass Joran um ein Haar das Brecheisen aus der Hand geschlagen worden wäre und setzte mit einer blitzschnellen Bewegung nach. Die Schwertklinge riss Joran den Unterarm vom Handgelenk bis zum Ellbogen auf und fügte ihm im Hinaufschnellen einen
äußerst schmerzhaften Schnitt an der Wange zu. Joran taumelte zurück und stieß gegen eine Säule, die seinen Sturz aufhielt. Der Templer setzte nach, hielt ihn mit dem ausgestreckten Schwert in Schach und Joran wusste, dass sein Gegner ihn auf der Stelle töten konnte, wenn er es wollte. Erstaunlicherweise verzichtete der Tempelritter jedoch darauf. »Gib dich zu erkennen«, verlangte er stattdessen. »Nimm den Schleier ab, damit ich dein Gesicht sehen kann, du schleimige Made!« Gelähmt vor Angst starrte Joran auf die Schwertspitze. Sein Herz pumpte glutflüssige Lava durch seine Adern.
Blut sickerte pulsierend aus seinen Wunden und tropfte zu Boden. Er konnte sich selbst keuchen hören und versuchte, sich zusammenzureißen. »Nun? Wird´s bald?« Joran rührte sich nicht. Bleib ruhig, ermahnte er sich. Keine Panik! Keine Verkrampfung in den Schultern. Keine unbedachten Bewegungen, die deinen Gegner herausfordern könnten! Ein ohrenbetäubendes Krachen ertönte. Hastige Schritte und aufgebrachte Stimmen hallten durch die Basilika. Was ging da vor? Der Kopf des Templers zuckte in Richtung des Eingangsportals. Zwei, drei Herzschläge nur war er abgelenkt, doch
das genügte Joran. Er schob sich an der Säule entlang auf die Rückseite und rannte, so schnell er konnte auf den Ausgang der Seitenkapelle zu. Verblüfft registrierte er, dass der Templer ihm nicht folgte. Im Gegenteil. Im Hauptschiff schien ein heftiger Streit in Gang gekommen zu sein. Polterndes Getöse hallte durch die Basilika, als würden die großen bronzenen Kerzenhalter neben dem Hauptaltar umgestoßen, dazu Schreie und wütende Ausrufe. Joran war das gleichgültig. Er stürzte aus der Tür und eilte die Gasse zum Hafen entlang, so schnell er konnte. Sein Arm schmerzte höllisch und er spürte, wie das Blut warm in seinen
Handschuh sickerte. Vermutlich hinterließ er eine sichtbare Spur aus Blutstropfen, die bei Tageslicht leicht zu verfolgen sein würde. Er musste zu seinem Boot, um die Wunde zu versorgen, durfte etwaige Verfolger jedoch keinesfalls auf die Helena aufmerksam machen. Und das Ganze musste verdammt schnell gehen, bevor er zu viel Blut verlor. Ohnehin fühlte er sich schon seltsam leicht im Kopf. Himmel, auf was hatte er sich da eingelassen?
Akkon, 15. Mai 1256 »Ihr habt den verdammten Dieb entkommen lassen, Renaud d’Airelle. Wie konnte das geschehen?« »Ich musste entscheiden, Abbé. Ihr habt mir aufgetragen, die Reliquien und Gerätschaften des Hauptaltars zu schützen; Ihr habt mir nichts von dem Schlüssel in der Jesusreliquie gesagt«, protestierte D’Airelle steif. Der Abbé antwortete nicht, sondern ging wortlos auf der Festungsmauer auf und ab. Eine leichte Brise, die von der nahen
See hereinkam, bewegte die Clamys, das weiße Gewand mit dem roten Templerkreuz auf der linken Seite, fuhr ihm durch die Haare und hob für einen Moment das silbergesprenkelte Vlies seines Bartes. Schließlich blieb er abrupt stehen. Sein Entschluss war gefallen. Er konnte sich kein Bedauern leisten. Keine Unentschlossenheit. Keine Gnade. »Geht zum Hafenmeister, D’Airelle. Findet heraus, wer am Morgen nach dem Diebstahl den Hafen verlassen hat.« »Ja, Herr.« »Sobald Ihr im Besitz dieser Information seid, werden wir die Versammlung
einberufen und beraten, welche Vorgehensweise die Richtige ist.« »Die Männer sind unruhig, Abbé.« »Dazu besteht kein Anlass.« »Sie fragen sich, warum man ihnen die Existenz des Schlüssels verschwiegen hat.« Der Abbé erstarrte. Kein einziges Mal hatte einer seiner Brüder gewagt, solche Fragen zu stellen. »Es bestand keine Notwendigkeit, dass Geheimnis des Schlüssels preiszugeben«, erklärte er streng. »Ihr hättet im Kampf fallen können«, erklärte D’Airelle wie versteinert. »Bin ich aber nicht«, gab der Abbé zurück. »Wir werden uns den Schlüssel
zurückholen. Alles wird sein wie zuvor.« »Das wird es nicht, Abbé.« Der Wind hatte gedreht und wehte D’Airelle das regelwidrig lange Haar ins Gesicht, seine linke Gesichtshälfte verschwand hinter nachtschwarzen Strähnen. »Ihr habt den Brüdern nicht die Wahrheit gesagt. Sie wissen nicht mehr, ob sie Euch noch vertrauen können.« Schwacher Bratenduft wehte über den Gestank nach alter Asche und verdorbenem Fisch. »Wollt Ihr andeuten, dass mir meine Brüder in den Rücken fallen könnten?«, fragte der Abbé vorsichtig. D’Airelle straffte die Schultern. »Niemand aus der Bruderschaft würde
Euch verraten.« »Aber Ihr habt bei der Ausführung Eurer Befehle versagt«, sagte der Abbé scharf. »Manche würden behaupten, das sei eine Form von Verrat.« D’Airelle sah über den Kopf seines Meisters hinweg. »Soll ich mir selbst einen Haftbefehl ausstellen, Abbé?« Der linke Mundwinkel des Abbé zuckte nach oben. »Damit Ihr Euch aus der Schusslinie bringen könnt?«, bemerkte er leichthin. »Ich denke nicht, mein Freund. Ihr werdet die Reliquie ausfindig machen und sie in den Besitz der Bruderschaft zurückführen.« »Ihr verlangt, dass ich eine Nadel im Heuhaufen
finde.« Der Abbé überhörte D’Airelles Sarkasmus. »Die Dreistigkeit dieses Diebstahls würde zu einem Venezianer passen. Erkundigt Euch nach Händlern, die kürzlich abgereist sind. Hört Euch auf den Märkten um, welcher Kommissionär nach einer ähnlichen Reliquie wie der unseren gefragt hat.« »Dazu brauche ich vertrauenswürdige Helfer.« »Dann würde ich vorschlagen, dass Ihr sie Euch beschafft«, sagte der Abbé leise, bedrohlich. »Sehr wohl, Herr«, antwortete D’Airelle hölzern und wandte sich zum
Gehen.
»D’Airelle.«
»Ja?«, fragte D’Airelle vorsichtig.
»Enttäuscht mich nicht.«
Lido di Venezia, 13. Juni 1256 Mit dem ersten Grau der Dämmerung vertäute Joran sein Boot neben Jacopos Sandolo am Kai, stieg an Land und machte sich auf den Weg zum Haus seines Dieners. Jacopo bewohnte das ehemalige Haus der Ferroni auf dem Lido. Ordelaf Ferroni hatte immer davon geträumt, ein Grundstück am Rialto zu erwerben und dort den neuen Stammsitz der Familie zu errichten. Was er mit zähem Willen und eiserner Entschlossenheit auch geschafft hatte. Wie stolz er gewesen war, als er
Frau und Tochter über die Schwelle der Ca´Ferroni hatte führen können! Joran hatte dieses Ereignis verpasst, was ihm zu dem Zeitpunkt nicht sonderlich tragisch erschienen war. Wie hätte er auch ahnen sollen, welches Unheil ihm bevorstand? Er war vollauf damit beschäftigt gewesen, seine Habe zu packen. Sein Vater hatte ihm erlaubt, nach Akkon überzusiedeln, um dort eine Zweigniederlassung für den Handel mit der Levante zu errichten, die allein seiner Verantwortung unterstehen sollte. Er hatte in eine Zukunft geblickt, die sich glänzend und verführerisch vor ihm erstreckt hatte. Bis er Lucca begegnet
war und seine Träume in tausend Splitter zerborsten waren. Joran schnaubte. Lucca war tot und stellte kein Problem mehr da. In seiner Schultertasche trug er die Reliquie aus Akkon. Er war sich noch nicht sicher, welchen Preis er dafür verlangen sollte. Der Diebstahl war riskant gewesen und hätte ihn beinahe das Leben gekostet. Bis heute wusste er nicht, welchem glücklichen Zufall er die Gelegenheit zur Flucht verdankte. Im Grunde war ihm das Warum auch gleichgültig, einzig der Erfolg zählte. Allerdings hatte der Vorfall dazu geführt, dass ihm die Lust auf weitere Abenteuer dieser Art erst einmal gründlich
vergangen war. Das Dumme daran war nur, dass alles, womit er sich bisher beschäftigt hatte, weit weniger profitabel war, als er es sich gewünscht hätte. In einer Stadt wie Venedig, wo die Handelsrouten der ganzen bekannten Welt zusammenliefen, war er nichts weiter als eine winzige Ameise im großen Volk der Händler und Kaufleute. Sicher, er war jung für einen Händler, aber weder hatte er ein Vermögen im Rücken, noch verfügte er über die Ressourcen und Kredite alteingesessener Handelshäuser. Folglich musste er aus dem Verkauf genügend Profit herausschlagen, um einerseits freies Kapital zu haben, mit
dem er sich in lukrative Unternehmungen einkaufen konnte und andererseits den Unterhalt seiner Schwester zu sichern. Leocadia lebte auf der Burg eines Freundes, ein Arrangement, über das sie keineswegs glücklich war. Aber daran ließ sich nichts ändern, bevor er nicht als Kaufmann Fuß gefasst hatte. Gleich morgen würde er den Kommissionär seines Auftraggebers aufsuchen und dann - dann begann sein neues Leben. Langsam schritt er den Trampelpfad entlang, um auf die dem Meer zugewandte Seite des Hauses zu gelangen. Eine hüfthohe Mauer aus Ziegelsteinen umschloss das Grundstück und Joran stemmte sich kurzerhand auf
die Mauerkrone hoch. Zuerst konnte er seinen Arm kaum belasten, doch er begrüßte den Schmerz in der noch nicht vollständig verheilten Wunde, weil er seine Gedanken beschäftigte, die sonst anderswo gewesen wären. Ein wenig vorsichtiger ließ er sich auf der anderen Seite ins Gras gleiten und sah sich um. Das Haus erschien ihm kleiner, als er es in Erinnerung hatte, niedriger und gedrungener, mehr wie ein Arbeiterhaus. Dafür war der Feigenbaum, auf halbem Weg zur Hintertür, jetzt so hoch gewachsen, dass er die Hälfte des Gartens überschattete. Es war kein Licht zu sehen. Doch Jacopo würde sicher schon aufgestanden sein
und seine Morgensuppe verzehren, bevor er wie gewöhnlich seinen Rundgang machte, um die Schweine, Hühner und Gänse in den Gehegen entlang der Mauer zu füttern. Jorans Herz raste und sein Atem ging schneller, während er zwischen den sorgfältig gejäteten Gemüsebeeten hindurch zur Hintertür des Hauses schritt. Was würde ihn erwarten? Er drückte mit dem Unterarm gegen die Tür und diese wich knarrend zurück. »Jesus!« Jacopo schoss von seinem Schemel hoch und starrte mit weit aufgerissenen Augen auf den Eindringling. »Joran! Va all´inferno! Könnt Ihr nicht
klopfen?« Joran trat in die Küche und schloss die Tür. »Ich habe dir doch geschrieben, dass ich komme.« »Oh ja, das habt Ihr. In der Tat. Ohne Datum und so vage, dass ich nicht einmal wusste, ob Ihr dieses Jahr meint oder vielleicht erst das Nächste.« Joran zuckte die Schultern, schlenderte betont lässig zum Herd und inspizierte den Topf mit Suppe, der dort leise vor sich hin köchelte. Er nahm eine Schale vom Wandbord, füllte sie mit Suppe und trug sie zum Tisch. »Sei so gut und gib mir ein Stück von deinem Brot. Ich bin hungrig.« Jacopos Blick sprach Bände. Doch er
griff nach dem halben Laib Brot auf dem Tisch und schnitt mehrere dicke Scheiben davon ab, die er Joran zuschob. »Ihr seht aus wie ein Pirat«, bemerkte er gallig. »Und Ihr riecht auch so.« »Ich war vier Wochen auf See.« Jacopo schnaubte. »Euer Vater würde sich in seinem Grab herumdrehen, könnte er Euch so sehen.« Joran griff nach einer Brotscheibe. »Lucca? Wohl kaum.« »Ich rede nicht von Lucca, wie Ihr sehr wohl wisst. Ihr solltet Euch wirklich abgewöhnen, den Bastard zu erwähnen. Besonders in Gegenwart von Monna Marliana. Es wäre ihrer Gesundheit nicht
zuträglich.« Joran starrte auf seine Finger hinunter, die kaum merklich zitterten. Eilig legte er den Löffel in die Schale und versteckte die Hände im Schoß. »Wo ist meine Mutter?« »Oben. Ich habe sie in ihrer alten Kammer untergebracht. Sie schläft noch.« Joran sprang auf. »Ich muss zu ihr.« »Halt!« Jacopo griff nach seinem Arm und hinderte ihn daran, die Treppe ins obere Stockwerk hinaufzustürmen. »So könnt Ihr Euch bei Eurer Mutter unmöglich sehen lassen, Messèr Joran. Eure verwilderte Erscheinung würde sie nur unnötig in Aufregung versetzen. Was
Ihr besser nicht riskieren solltet.« Joran erstarrte. »Was willst du damit sagen, Jacopo?« Der Alte seufzte. »Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll.« »Jacopo! Raus mit der Sprache! Was ist mit meiner Mutter?« Der Diener wies mit einer Handbewegung Richtung Tisch. »Setzt Euch und esst Eure Suppe, bevor sie kalt wird. Ich werde inzwischen Wasser heißmachen, damit ihr Euch waschen und rasieren könnt.« »Du weichst mir aus. Seit wann bist du ein solcher Feigling?« »Es besteht keine Veranlassung, mich zu beleidigen«, gab der Alte zurück.
»Messèr Contarini konnte mir für den Fall Eurer Rückkehr keine Empfehlung geben und hat mir geraten, meinem Gefühl zu folgen.« Wütend machte Joran einen Schritt auf ihn zu. »Was soll das bedeuten?« Jacopo musterte ihn kühl. »Es bedeutet, dass ich versuche, Monna Marliana vor dem Schock zu bewahren, den sie zweifellos erleiden würde, bekäme sie Euch so zu Gesicht«, antwortete er. »Ihre Gesundheit ist angegriffen. Sie fürchtet sich entsetzlich vor allem Fremden und dieses Ziegenfell, das Ihr Euch habt stehen lassen, macht Euch nahezu unkenntlich. Sie müsste nur einen Blick auf Euch werfen und der Tag wäre für sie
verloren, bevor er auch nur begonnen hätte. Das kann ich nicht zulassen.« »Mit anderen Worten, sie hat den Verstand verloren.« »So würde ich es nicht bezeichnen«, widersprach Jacopo. »Es ist nur sehr leicht, sie aus der Fassung zu bringen. Oft weint sie dann und weigert sich zu essen.« »Weigert sich, zu essen ...« Joran fand, er müsse erschüttert sein, doch er stellte fest, dass er für Erschütterung zu erschöpft war. Er ging zum Tisch und ließ sich auf einen Stuhl sinken. »Wie hast du sie gefunden?« Jacopo trat zum Herd, schürte das Feuer und setzte einen Kessel mit Wasser
auf. »Das war nicht mein Verdienst«, sagte er. »Diese Ehre gebührt Renier Contarini.« »So, so.« »Die näheren Umstände kenne ich nicht. Messèr Renier hat einen Brief für Euch hinterlassen, der erklärt, was Ihr wissen müsst. Ich hole ihn gleich. Esst derweil Eure Suppe.« Jacopo eilte aus der Küche. Joran nahm den Löffel in die Hand und tauchte ihn in die Suppe, doch dann konnte er nichts essen. Sein Magen, der vor kurzem noch hungrig geknurrt hatte, schien sich zu einem unlösbaren Knoten verschlungen zu haben. Er legte den Löffel auf den Tisch und erhob sich. Etwas drängte ihn,
sich zu bewegen, etwas Zorniges und Wildes, das ihn innerlich aufheulen ließ, aber es war einfach zu übermächtig, als dass er sich dagegen wehren konnte. Seine Faust bewegte sich fast ohne sein Zutun und sauste auf den Tisch nieder, dass die Schüsseln sprangen. Schmerz schoss durch seinen Arm und brachte ihn wieder einigermaßen zur Besinnung. Er sank erneut auf seinen Stuhl, stützte die Ellbogen auf die Tischplatte und verschränkte die Hände unter dem Kinn. Auch ohne Reniers Brief zu lesen, wusste er, was drinstehen würde. Mehr als ein Jahr war vergangen, seit es ihnen gemeinsam gelungen war, seine kleine Schwester Leocadia aus dem Hurenhaus
des Bischofs zu befreien. Von seiner ebenfalls gefangen gehaltenen Mutter hatten sie jedoch keine Spur entdeckt und Joran hatte sich mit dem Wissen abgefunden, dass sie nicht mehr am Leben war. Irgendwann war ihm der Gedanke sogar tröstlich erschienen und hatte geholfen, seine Empfindungen in Schach zu halten. Bis jetzt. Doch nun überschwemmte ihn erneut dieses grauenhafte Gefühl der Hilflosigkeit. Seine Mutter hatte gelitten, so sehr, dass ihr Verstand sich weigerte, dem Schrecken noch länger standzuhalten. Und er war daran schuld. Jacopo betrat die Küche, den linken Arm mit Gewändern behängt, die er vor Joran
auf den Tisch legte. »Ich habe einige Sachen Eures Vaters herausgesucht, die Euch passen dürften. Und hier ist der Brief.« Joran nahm die Botschaft entgegen und legte sie ungeöffnet auf den Tisch. »Ich lese sie später. Hilf mir lieber, das Ziegenfell loszuwerden.« »Mit Vergnügen«, murmelte Jacopo. Er holte Rasiermesser und Schere, füllte eine Schüssel mit dampfender Lauge und machte sich an die Arbeit. Joran ertrug die Prozedur schweigend. Nur als Jacopo die frische Narbe auf seiner Wange berührte, entfuhr ihm ein unmutiges: »Pass doch auf!« »Cavolo, was ist Euch denn zugestoßen!
Ihr habt Euch doch nicht etwa auf eine Messerstecherei eingelassen?« »Schwertkampf«, knurrte Joran und brachte Jacopo damit nachhaltiger zum Verstummen, als ein Befehl es gekonnt hätte. Der Alte fragte auch nicht nach der Herkunft der Verletzung an seinem Arm, sondern ging ihm wortlos beim Waschen und später beim Anlegen der sauberen Gewänder zur Hand. »Ich denke, so seid Ihr präsentabel«, verkündete er schließlich. »Ich werde hinaufgehen und Euch anmelden.« Joran erhob keine Einwände. Er folgte dem Alten die Treppe hinauf, blieb jedoch auf dem Treppenabsatz stehen, während Jacopo die Kammer betrat.
Joran hörte Schritte und murmelnde Stimmen, ohne dass er verstehen konnte, was gesprochen wurde. Endlich öffnete sich die Tür und Jacopo bat ihn mit einer Geste, einzutreten. Joran machte einige Schritte in den Raum und blieb stehen, als sei er gegen eine Mauer gelaufen. Auf dem Treppenabsatz hatte er sich ein paar Worte zurechtgelegt, die er seiner Mutter sagen wollte, doch nun brachte er keinen Ton heraus. Die Frau, die von Kissen gestützt, vor ihm im Bett saß, erkannte er kaum wieder. Marliana war dünn geworden. Doch das war es nicht, was die Veränderung ausmachte. Seine Mutter war nie eine auffallend schöne Frau
gewesen, doch sie hatte von innen heraus gestrahlt. In ihren Augen hatten Wärme und Liebe gelegen und wann immer sie ihn angesehen hatte, hatte er sich geliebt und geborgen gefühlt. Doch nun war da - nichts mehr. Sie musterte ihn desinteressiert, bevor sie sich Jacopo zuwandte: »Du hast mir Ordelaf versprochen, Jacopo. Wo ist er? Wo ist mein Gemahl?« Jacopo seufzte. »Ich habe Euch Euren Sohn gebracht. Joran. Freut Ihr Euch nicht, ihn zu sehen, Monna?« »Ich habe keinen Sohn«, sagte Marliana. »Was hast du dir dabei gedacht, einen fremden Mann in meine Schlafkammer zu
bringen?« »Aber ...« »Kein aber. Befiehl dem da, er soll verschwinden. Und dann sag der Köchin, wenn sie mir noch einmal so ein minderwertiges Frühmahl vorsetzt, kann sie sich eine neue Anstellung suchen.« Joran wollte widersprechen, irgendetwas sagen, doch er konnte es nicht. Seine Kehle war wie zugeschnürt. Sein Blick glitt am Gesicht seiner Mutter ab und suchte Jacopo. Der Alte sah ihn an und die freudige Anspannung in seinen Augen war erloschen und hatte einem Ausdruck tiefer, ehrlich empfundener Trauer Platz gemacht. »Es tut mir leid«, murmelte er.
»Sie hat heute einen ihrer schlechteren Tage.«
Joran schloss die Augen, blieb einige Herzschläge lang reglos und zitternd stehen und atmete hörbar aus. Jacopo sagte nichts, aber er sah ihn auf eine Art an, die Joran begreifen ließ, dass er Bescheid wusste.
Langsam drehte er sich um und verließ die Kammer.
Ninamy67 Es ist natürlich lang, das schreckt immer ein bisschen ab. Ich schreibe allerdings auch immer längere Texte! Cover ist echt schön, aber die Geschichte ist ebenfalls gut geschrieben. Ich bin jetzt nicht so der Fan von historischen Romanen, aber du schreibst wirklich gut! LG Nina |