Ich bin also stehen geblieben und lunger vor diesem blöden Schaufenster herum, aus dem mich die debilen, toten Augen nackter Schaufensterpuppen anschauen. Puppen, die weder Geschlechtsorgane noch Brustwarzen besitzen. Die haben sie nicht nötig. Ich zünde mir eine Zigarette an und blicke in Augen, die mich nicht wirklich sehen. Früher habe ich oft hier eingekauft, Hosen, Pullis und so, einmal sogar einen Schal - ich weiß nicht mehr, was ich mir dabei gedacht habe, denn ich trage nie Schals. Hinter mir höre ich ein Geräusch und ich drehe mich um. Eine Frau, beladen mit drei vollen Einkaufstüten, schnauft an mir vorbei, und ich inhaliere Rauch. Das ist der Geschmack der großen, weiten Welt. Sie schmeckt nach einem sinubronchialen Syndrom. Die Frau schnauft sich ihren Weg in eine unbekannte Zukunft; auf einer ihrer Einkaufstüten prangt das Logo von H&M. Gleich wird die Frau aus meinem Blickfeld verschwunden sein. Ich
nehme noch einen Zug, dann werfe ich die Kippe auf den Boden und trete sie aus. Sie schmeckt mir gerade nicht. Rumstehen, ohne zu rauchen, fühlt sich allerdings falsch an - ich setze mich in Bewegung. Ein Fußmarsch ist die Pause zwischen zwei Zigaretten.
Die Gegend hier ist grau; die Straße sind grau, die Häuser grau, der Himmel grau, die Menschen grau. Graue Gesichter an grauen Körpern, die in grauer Kleidung stecken und graue Gedanken denken.
Neben mir hupt ein Auto, doch ich hupe nicht zurück. Mittlerweile bin ich in der Straße, in der Arne wohnt; ich habe es nicht bemerkt, dass ich hierhergelaufen bin. Da ich schon mal hier bin, gehe ich zu Arnes Haus, betätige die Klingel und warte. Ich darf das, also klingeln, aber ich bin auch kein normaler Kunde. Normale Kunden müssen per Handy kurz anrufen, nur einmal läuten lassen, das ist wichtig, dann weiß Arne, dass unten jemand
steht. Wenn die Tür geöffnet wird, geht der Kunde in die Wohnung hoch, setzt sich auf die Couch und muss für mindestens dreißig Minuten dort sitzen bleiben, damit die Nachbarn sich nicht wundern, dass ständig Leute ein und aus gehen oder irgendwie so. Ich habe es nie ganz verstanden. Jedenfalls - dann wird erstmal einer gebaut, während der Fernseher meist Tierdokus zeigt. Löwen, die Gnus jagen und so ein Zeug. Wenn man länger dort sitzt und genug gekifft hat, dann identifiziert man sich manchmal irgendwann mit einem der Tiere; ob mit einem der Löwen oder mit einem Gnu - das ist wohl eine Sache der eigenen Persönlichkeit. Aber vielleicht geht es auch nur mir so. Der Türdrücker summt nun und ich gehe ins Treppenhaus, die Treppen hoch und ich sehe Arne, der im Türrahmen steht und sich die Nase reibt. Sein Gesicht ist ausdruckslos wie immer. Er trägt eine Jogginghose und ein Donald-Duck-T-Shirt. Wortlos macht er mir Platz und ich
betrete die Wohnung. Er geht zur Couch und setzt sich.
"Tag", sage ich und schließe die Tür.
"Grüß dich."
Ich nehme neben ihm Platz, drehe mich zum Fernseher und sehe, wie ein Elefant versucht, einen kleinen Hügel hinauf zu steigen.
"Hast du schon alles weggeraucht?", sagt Arne.
"Was?" Der Elefant müht sich ab. "Nein, war nur zufällig in der Gegend."
"Wieder spazieren gewesen?"
Nun versucht ein anderer Elefant zu helfen. "Sozusagen."
Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Arne sich zu mir hin dreht. "In letzter Zeit bist du echt verplant, Alter. Und ständig läufst du sinnlos durch die Gegend." Er dreht sich wieder weg.
"Hab wohl so 'ne Phase."
"Ist es wegen Julia?"
Der Elefant schafft es endlich. "Ne."
"Mh,
mh."
"Hat keinen besonderen Grund", sage ich.
Arne erhebt sich. "Wohl eine allgemeine Sinnkrise." Er geht zum Schrank, macht ihn auf und nimmt einen Beutel heraus. Er geht zurück zur Couch.
"Weiß nicht", sage ich.
Er nimmt die Papers, die auf dem Tisch gelegen haben, nimmt einen Flyer und beginnt, eine Tüte zu bauen. "Aber was ist nun mit Julia?"
"Was soll sein?"
Er dreht immer inside-out, so, dass das überstehende Papier am Ende abgerissen wird. "Na, die hat dich ja übel abblitzen lassen."
"Is mir egal", sage ich. Aber das stimmt nicht. Nur: Was bringt es mir, darüber zu reden? Ist nicht mein Ding.
Arne lacht. "Na denn."
Er kennt mich lange genug, dass er weiß, es ist sinnlos, weiter zu bohren. Bei einem Konzert vor zehn Jahren bin ich ihm das erste Mal
begegnet, es war irgendein Punk-Konzert, und die Band, die dort gespielt hat, ist so underground gewesen, dass sich niemand mehr an ihren Namen erinnert. Irgendwas mit Genozid oder so, was weiß ich. Arne hat die ganze Zeit abwechselnd Bier getrunken und gekifft, und irgendwann hat er auf einen Verstärker gekotzt.
Nun zündet er die Tüte an und nimmt einen tiefen Zug.
Ich starre wieder auf den Bildschirm. Die Elefanten planschen gerade in einem Wasserloch und wirken fröhlich. Die tägliche Abkühlung im Wasserbad ist laut des Kommentators wichtig für die Tiere; da es dort, wo sie leben, ja so heiß ist. Sie schlagen mit ihren Rüsseln auf die Wasseroberfläche, das Wasser spritzt.
"Rüssel sind cool", sage ich.
Arne reicht mir die Tüte. Ich lehne ab. Er zuckt mit den Schultern - jedenfalls tut er das meistens in solchen
Fällen.
"Schon", sagt er. "Rüssel sind cool."
Auf der ständigen Suche nach Nahrung sind Elefanten fast immer in Bewegung. Sie müssen sich auch in schwierigem Gelände bewegen können und entwickeln dabei trotz ihrer Körpermasse eine erstaunliche Sicherheit.
"Es können doch nicht ständig Tierdokus im Fernsehen laufen", sage ich.
"Mh?"
"Fast immer, wenn ich hier bin, laufen Tierdokus."
Arne nimmt einen weiteren Zug. "Ja, und?"
"Die können doch nicht immer laufen." Ich schaue ihn an.
Nun zuckt er zweifelsfrei mit den Schultern. "Laufen oft welche."
Ich wende mich wieder dem Bildschirm zu. Das Schlammbad ist ein wichtiger Bestandteil der Routine, sagt der Kommentator.
"Was machst du gerade eigentlich so?", sagt
Arne.
"Nix."
"Hängst nur so rum?"
Alle drei Tage brauchen die Tiere die Flasche. Auch nachts. "Schon."
"Wird das nicht öde?"
Ich antworte nicht.
Nach einer Weile sagt er: "Elefanten sind krasse Tiere."
Ich nicke. Ob er es bemerkt hat, weiß ich nicht. Es ist mir auch egal.
Arne nimmt noch einen Zug, dann legt er die halb gerauchte Tüte in den Aschenbecher. "Elefanten", sagt er.
Es ödet mich an. Ich stehe auf.
"Willst wieder gehen?"
"Ja", sage ich. "Brauch was zu trinken."
"Nimm dir halt ne Cola aus dem Kühlschrank."
Ich gehe zur Wohnzimmertür. "Ne, muss einkaufen."
Arne schaut mich an, dann schaut er wieder zum
Bildschirm und sagt: "Okay."
Ich verlasse das Haus und trete auf die Straße. Ich muss wirklich einkaufen. Das ist eigentlich auch der Grund, weshalb ich heute überhaupt rausgegangen bin. Eben ist es mir wieder eingefallen. Hunger habe ich auch. Beim Rewe gibt es diese Gyros-Reis-Pfanne, die ist okay, die kann man kaufen. Oder ich kaufe Hackfleisch. Wenn man nicht weiß, was man kochen soll, kauft man Hackfleisch. Denn Hackfleisch geht immer, außer man ist Vegetarier oder Veganer. Also Hackfleisch, Cola, irgendein Maggi-Fix, vielleicht auch Bier. Hauptsache Hackfleisch.
Jemand rempelt mich an; ich schaue auf, doch die Person ist schon an mir vorbeigegangen. Ich drehe mich um und sehe einen Typen mit Glatze eilig davon hetzen. So ein Wichser. In dieser Stadt wimmelt es von Wichsern, die sind überall. Sie fahren den Bus, mit dem man zum Bahnhof fährt, sie geben einem den Burger, den
man bestellt hat, sie klingeln an der Tür, um die Heizung abzulesen. Und immer haben sie auch dieses Gesicht, diesen Blick, bei dem man sofort weiß, ah, ein Wichser. Und Wichser waren es, die das Straßengewirr geplant haben, durch das ich mich kämpfen muss. Das Gefüge ergibt keinen logischen Sinn und überall sieht es gleich aus.
Der Rewe erscheint vor mir als ein hässliches Gebilde. Über dem Eingang steht, eingebettet in ein Bild, das diverses Gemüse zeigt: Frisch aus deiner Region. Ich brauche keinen Einkaufswagen. Ich gehe durch die Gänge und packe mir eine große, rote Paprikaschote, Maggi-Fix-für-Bauerntopf-mit-Hackfleisch und eine Flasche Cherry-Coke. Kartoffeln habe ich noch zu Hause, fällt mir ein. An der Fleischtheke lasse ich mir 250g Rinderhack geben und die Frau, die mich bedient, schaut mich freundlich an. Sie wünscht mir einen schönen Tag. Ich erwidere irgendetwas und gehe
weiter.
An der Kasse warten schon zwei Leute - ich stelle mich an. Vor mir steht eine alte Frau, die zwei Köpfe kleiner ist als ich, und vor ihr ein Typ, der eine Warze am Nacken hat. Ich erinnere mich, gelesen zu haben, dass Warzen mitunter ansteckend sind. Und dass sie Epithel-Geschwulste der oberen Hautschicht sind. Wenn mir langweilig ist, surfe ich oft auf Wikipedia. Während ich versuche, nicht an Feigwarzen am Anus zu denken, fällt mir das Tütchen mit dem Hackfleisch aus den Händen. Ich hebe es wieder auf.
Der Mann mit der Warze packt nun seine Sachen ein und die kleine, alte Frau tritt vor und kramt in ihrer Handtasche. Ich rücke nach. Auf dem Förderband liegen Äpfel, eine Packung Milch, Merci und Speck. Komischer Einkauf. Ich lege meinen Kram auf das Band und die Frau sucht mühsam Kleingeld zusammen. Sie braucht ewig. Ich hoffe, dass ich, wenn ich alt bin, nicht so
eine Person werde. Falls ich überhaupt alt werden sollte. Ich kann mir nicht vorstellen, alt zu sein; wie ich gebückt herumlaufe, mich über spielende Kinder aufrege; wie ich in meinem Wohnzimmer hocke, das seit gut dreißig Jahren nicht tapeziert wurde, obwohl ich so viel rauche. Endlich hat die Frau es geschafft zu bezahlen. Ich hole meine Brieftasche aus der Hosentasche.
Die Kassiererin zieht die Waren über den Scanner und sagt: "Vier Euro vierundneunzig."
Ich zähle mein Geld und stelle fest, dass ich nur vier Euro dabei habe. Drecksscheiß.
"Ich habe nur vier Euro", sage ich.
Die Kassiererin schaut mich an und wendet sich wieder ab. "Dann müssen Sie wohl etwas zurück legen."
Es ist mir peinlich. Ich drehe mich um. Hinter mir steht ein fetter Mann mit Schweinsgesicht, der mich spöttisch angrinst. So ein Wichser.
"Was grinsen Sie so blöd?" Ich frage das viel zu
laut; es fällt mir auf und es ist mir unangenehm.
Der Wichser mit dem Schweinsgesicht schaut mich verwirrt an. Er scheint empört zu sein. "Was erlauben Sie sich?"
"Nein, was erlauben Sie sich?", sage ich.
Das Gesicht des Typen läuft rot an. "Was -", beginnt er, doch ich lass ihn nicht ausreden.
"Das pisst mich an", unterbreche ich ihn. Die anderen Kunden schauen mich seltsam an.
Ich drehe mich zu der Kassiererin. Ihre Augen zucken hin und her.
"Ich stelle die Cola zurück", sage ich.
Ich gehe los und drehe mich nicht um. Als ich die Getränkeabteilung erreiche, stelle ich die Cherry-Coke zurück an ihren Platz. Dann kehre ich zurück zur Kasse. Vor mir hat sich eine längere Schlange gebildet und ich warte. Der Typ mit dem Schweinsgesicht geht gerade zum Ausgang.
Als ich dran bin, bezahle ich und verlasse den
Laden.
Ich gehe zügig durch die Straßen. Das Maggi-Fix und das Hackfleisch habe ich in meiner Jacke verstaut, die Paprika halte ich in den Händen. Das sieht sicher seltsam aus. Ich passiere einen Typen, der in sein Smart-Phone vertieft ist. Mittlerweile ist es früher Abend und Leute, die von ihrer Arbeit nach Hause kommen gehen umher. Eine junge Frau unterhält sich lautstark mit einem Typen, den sie Kevin nennt. Die Frau hat eben gesagt: Der Hund ist nicht mit Absicht böse, Kevin. Mehr habe ich nicht verstanden, nur diesen Satz. Kevin und die Frau verschwinden nun aus meiner Realität. Vor mir liegt der Heimweg. Ich habe eigentlich keine Lust auf Bauerntopf.
Die Straßenlaternen haben sich gerade eingeschaltet. Das hat mich überrascht. Ich glaube, ich habe noch nie bewusst gesehen, wie sie sich eingeschaltet haben. Hier in dieser Straße leuchten sie orange.
Natriumdampf-Orange. Ich habe mal gelesen, dass Natriumdampflampen weniger Insekten anziehen aufgrund ihres Farbspektrums.
Ich komme mir albern dabei vor, mit einer Paprikaschote in der Hand durch die Straßen zu laufen. Spontan betrete ich den Eingang zum Park, da ich gerade darauf zugelaufen bin. Der Kies knirscht unter meinen Turnschuhen. Ich passiere einen Basketballkorb am Wegesrand, der auf einem kleinen abgetrennten Platz steht. Der Boden dort besteht ebenso aus Kies; wohl damit sich spielende Kinder bei einem Korbleger leichter auf die Fresse legen können. Komisch, dass der Basketballring noch dran ist. Meist überleben die nicht lange in freier Wildbahn.
Ich blicke wieder nach vorne; ein Stück weiter entfernt stehen Bänke, die ich nur schemenhaft erkenne. Es ist recht dunkel geworden. Als ich näher komme, sehe ich, dass jemand auf einer der Bänke sitzt. Die Person blickt anscheinend
auf - ich kann es nicht genau sagen. Wenn ich nun ein Räuber wäre - Räuber; wer benutzt denn heutzutage noch das Wort Räuber? Räuber und Halunken, Schurken und Ganoven. Taugenichtse. Jedenfalls kann ich nun erkennen, dass die Person eine Frau ist. Sie hält eine Handtasche umklammert. Ich schätze die Frau auf ungefähr sechzig. Sie schaut mich an, als ich die Bank erreiche, doch sie sagt nichts. Ich setze mich neben ihr hin. Die Paprika halte ich vor mir auf dem Schoß wie eine Trophäe. Der erste Preis eines Wettbewerbs, an dem außer mir niemand teilgenommen hat.
"Guten Abend", sage ich, ohne sie anzuschauen. Ich glaube, ich wirke zwielichtig.
Die Frau sagt eine Weile nichts, dann erwidert sie den Gruß.
"Brauchen Sie eine Paprika?", frage ich.
"Eine Paprika?", sagt sie zögernd. Sie klingt nicht ängstlich.
"Ich möchte sie nicht weiter mit mir
herumschleppen. Wollen Sie sie?" Ich drehe mich zu ihr hin und halte die Schote hoch.
Die Frau runzelt die Stirn. "Nein, danke."
Ich wende mich wieder ab und betrachte die Paprika in meinen Händen. "Schade", sage ich und denke an das Hackfleisch in meiner Jackentasche, in dem sich mittlerweile die Bakterien vermehren.