Vorwort
Was waren das noch für Zeiten, als man in der Grundschule einfach drei Wörter vorgelegt bekommen hat und dazu passend eine Geschichte schreiben sollte. Reizwortgeschichte nannte sich das, bei uns zumindest. Die folgende, kurze Geschichte basiert auf den "Reizwörtern" Eis - Weiher - krachen; und wurde von mir in der vierten Klasse geschrieben. Nach ein paar kleinen Änderungen und Anfügungen....voila!
Dem Tod Entronnen
Es war ein kalter Wintertag. Überall lag Schnee und noch immer fielen dicke Flocken vom Himmel. Erst letzte Nacht hatte es gefroren. Vergnügt lief Tom die Straße entlang. Er war auf dem Weg zur Schlittschuhbahn. In der Tasche, die er in der Hand trug, waren die Schlittschuhe, die er erst kurz vorher zu Weihnachten bekommen hatte. Ein wenig abseits der Straße war eine große Wiese, die jetzt aber ganz von Schnee bedeckt war. Dort war auch ein Weiher. Als Tom ihn erblickte, dachte er: „Ob es wohl kalt genug war, dass er ganz zugefroren ist? Und wenn, wie dick ist die Eisschicht?
Wir haben in der Schule doch gerade das Thema. Ich werd‘ mal nachschauen, dann kann ich in der Klasse erzählen, was ich gesehen habe.“ Also stapfte er durch den Schnee zum Weiher, und tatsächlich, er war zugefroren. Von der vordersten bis zur hintersten Ecke; nirgends war auch nur das kleinste Löchlein zu sehen. Das Eis war allem Anschein nach nicht gerade dünn, sondern ziemlich dick, auf jeden Fall, soweit man es erkennen konnte. Und wie Tom so dastand, kam ihm eine fabelhafte Idee: „Wieso lauf‘ ich nicht hier Schlittschuh? Es ist doch fast genauso wie auf der Eisbahn. Nur kommen einem hier nicht so viele Leute entgegen und das ist auch gut so. Ich
habe ja sowieso immer Angst, dass einer mich rempelt und umschmeißt. Außerdem gibt es hier keine lästigen Pausen, weil das Eis geglättet werden muss“, dachte er. „Ach was!“ Sofort verwarf er den Gedanken wieder. Es war ja viel zu gefährlich. Aber verlockend war es schon. „Naja, ich kann es ja mal versuchen. Ein paar kleine Schritte ohne Schlittschuhe.“ Also warf er die Tasche mit den Schuhen ins Gras und setzte ganz vorsichtig den rechten Fuß auf die glatte Eisschicht. Nichts geschah! Kein Riss, kein Spalt war zu sehen und kein Knirschen oder Knacken war zu hören. Als wagte er sich ein wenig weiter hinaus. Als er etwa zwei Meter vom Ufer
entfernt war, blieb er wieder stehen. Immer noch nichts! Nur die kalte, ebene Eisschicht starrte ihn an. Plötzlich wurde ihm angst und bange. Es schien ihm, als wolle das Eis ihn hier nicht haben, als würde es unter dem Fuß jedes Eindringlings sofort nachgeben wollen. Ihm wurde auf einmal klar, in welcher Gefahr er sich befand. So plötzlich, dass er gar nicht genau wusste wovor er Angst hatte. Er wusste nur eins: „Weg von hier!“ Sofort drehte er sich um und wollte zurück ans Ufer. Doch da hatte er die Rechnung ohne das Eis gemacht! Er rutschte aus und stürzte auf die glatte Oberfläche! Unter der Wucht des Aufpralls brach das Eis und Tom krachte
ins eiskalte Wasser! Sofort umschlossen ihn eisige Fluten und nahmen ihn in ihren Griff. „Hilfe!“, rief er in Panik. Ängste kamen in ihm auf, wie er sie noch nie im Leben verspürt hatte. Er zitterte, zappelte und schrie, doch all das half nicht. Endlich beruhigte er sich ein wenig und versuchte sich im Eis rund um das Loch festzukrallen und herauszuziehen. Aber er rutschte wieder ab. Er probierte es noch einmal. Diesmal brach nur ein Stück Eis ab. Wieder und immer wieder startete er den Versuch herauszukommen, aber ohne Erfolg. Langsam verließen ihn seine Kräfte und die Kälte schien förmlich seine Lungen abzuschnüren. Als er schon halb erfroren
war, kam Lukas, ein Junge aus Toms Klasse, fröhlich pfeifend den Weg entlanggelaufen. Auch er war auf dem Weg zur Eisbahn, als er Tom schreien hörte. Erschrocken schaute er auf. Als er Tom sah, rannte er so schnell wie möglich zu dem Weiher. „Tom, was ist passiert?!“, rief er aus. „Das siehst du doch. Also quatsch nicht so blöd, sondern hilf mir lieber heraus!“, stöhnte der Junge im Wasser mit schmerzverzerrtem Gesicht. „Ich werd‘ Hilfe holen!“, rief Lukas sofort und wandte sich zum Gehen. „Bis die kommt, bin ich tot“, sagte Tom bitter, sein Schicksal langsam annehmend. „Wäre ich doch bloß nicht aufs Eis gegangen!“
Lukas hatte inzwischen eingesehen, dass er keine Hilfe mehr holen konnte, sondern selbst die Rolle des Retters einnehmen musste. Flüchtig schaute er sich nach einem Stock um. Doch auf die Schnelle sah er keinen und für eine aufwendige Suche war keine Zeit. Also zerrte er einen von Toms Schlittschuhen aus der Tasche, legte sich flach auf den Boden und streckte die Hand mit dem Schlittschuh nach Tom aus. Doch trotz der kleinen Verlängerung konnte er Tom und Tom ihn nicht erreichen. Also rutschte er immer ein Stückchen weiter vor, bis er schließlich ganz auf dem Eis lag. Da endlich bekam Tom den Schlittschuh zu fassen und zog fest
daran. Auch Lukas zog und versuchte mit Tom im Schlepptau wieder das Ufer zu erreichen. Doch er lag auf dem glatten Eis, wo man leicht rutschte. Noch dazu zog Tom wirklich ein bisschen fest. Und so saß Lukas, noch ehe er sich versah, auch im von Eis umgebenen Loch fest! „Das hat uns jetzt wirklich viel geholfen!“, stellte er an Tom gewandt fest. Doch dieser hörte es gar nicht mehr. Ihm wurde plötzlich schwarz vor Augen und die Dunkelheit umhüllte ihn wie ein schwarzes Tuch. Er war bewusstlos geworden und drohte zu versinken. Lukas packte ihn gerade noch rechtzeitig, bevor ihn die undurchsichtigen Tiefen des Weihers verschluckten. Nun erst wurde
sich Lukas dem vollen Ernst der Lage bewusst und Panik ergriff ihn. Langsam breitete sie sich in seinem ganzen Körper aus und drohte ihn zu lähmen. Mit Toms Kragen in der einen Hand und dem Schlittschuh in der anderen, strampelte er verzweifelt mit den Beinen, um nicht unterzugehen. Er wollte gerade den Schlittschuh loslassen und ihn dem eisigen Vergessen des Weihers überlassen, als ihm eine Idee kam, ein kleiner Hoffnungsschimmer. Entschlossen nicht aufzugeben schlang er Toms Arme um seinen Hals und nahm dessen Ärmel zwischen die Zähne. Dann nahm er den Schlittschuh fest in die Hände und schlug mit der Spitze der
Kufe auf das Eis vor ihm ein. Ein kleines Stückchen der Eisplatte gab unter dem gewaltsamen Druck nach, bröckelte ab und verschwand in der Schwärze des Wassers. Lukas‘ Hoffnungsschimmer wurde stärker. Er nahm nun all seine Kraft zusammen und begann verbissen, mit schnellen Schlägen das Eis zu bearbeiten, das ihn und den schlaffen, leblosen Körper seines Freundes vom rettenden Ufer trennte. Schlag um Schlag kämpfte er sich mühsam vor. Erst jetzt merkte er, wie schrecklich er fror. Seine Hände zitterten, seine Hiebe wurden immer kraftloser, als ihn langsam aber sicher die Erschöpfung packte. Unbarmherzig langsam brach das Eis
unter der Kufe des Schlittschuhs, bäumte sich auf gegen Lukas‘ Lebenswillen, als wäre es der Wächter des Weihers, welchen es danach hungerte zwei unschuldige Leiber zu verschlingen. Endlich trennte Lukas und den bewusstlosen Tom nur noch ein kleines Stückchen Eis vom schneebedeckten Gras des Ufers. Mit einem letzten kräftigen Hieb beseitigte Lukas auch dieses. Schnell schob er Tom ans Ufer und kroch dann hinterher. Zitternd lag er im Schnee, vor kalter Steife unfähig sich zu bewegen. Doch er wusste er konnte nicht verweilen. Wenn er Tom retten wollte, durfte er keine Zeit verlieren. Er rappelte sich auf und stemmte den Körper seines
Freundes auf seinen Rücken. In der Schule hatte er Tom schon oft huckepack genommen, aber noch nie war er dabei selbst so erschöpft gewesen und noch nie hatte sich sein Freund dabei angefühlt wie ein Sack voll Mehl. Während Lukas mit seiner Last den Weg entlangstolperte, überlegte er wohin er gehen sollte. Zu seinen Eltern auf keinen Fall, die konnten nicht entscheiden was mit Tom geschehen sollte. Es musste aber dringend etwas mit ihm geschehen, falls er überhaupt noch am Leben war. Also schlug Lukas die Richtung zu Toms Eltern ein. Als er das Haus endlich erreicht hatte, klingelte er Sturm. Erstaunt öffnete Toms Mutter die Tür,
und als sie den Zustand ihres Sohnes sah, schrie sie laut auf. Lukas achtete nicht darauf, sondern drängelte sich einfach an ihr vorbei. Die arme Frau war total geschockt und blieb wie zur Statue erstarrt stehen. Lukas, der schon oft bei Tom gewesen war, stampfte sofort den Flur entlang ins Wohnzimmer und legte Tom auf dem Sofa ab. Der Vater des Bewusstlosen starrte Lukas entgeistert an, der da einfach ins Zimmer gestürmt kam. Doch im selben Moment erblickte er seinen Sohn und sprang alarmiert auf. Nun erschien auch die Mutter. Während ihr Mann zum Telefon stürzte und den Hausarzt anrief, holte sie eine Decke für Tom und machte eine Wärmflasche. Der
Arzt kam überraschend schnell und begann Tom zu untersuchen. Erst da bemerkte Toms Mutter, dass Lukas auch völlig durchnässt und verfroren war und ließ auch ihm die nötige Pflege zukommen. So nahm das ganze doch noch ein gutes Ende, doch, wie der Arzt später betonte, war vor allem Tom nur knapp dem Tode entronnen.