DIE SCHWARZE KRAWATTE
Als Onkel Sepp das Zimmer betrat, blieb er unschlüssig stehen. Mutter und Vater hielten im Gespräch inne, grüßten und sahen ihn fragend an. Irgend etwas war heute anders an dem kleinen, rundlichen Mann. Die wachsamen braunen Augen wanderten unruhig von einem zum andern, von meinen Eltern und mir zu Tante Hedwig und Onkel Gustav.
„Grüß euch!“, sagte er endlich, zwinkerte mir zu und nahm am Tisch Platz.
„Was ist Sepp? Drückt dich wo der Schuh?“
Sein gutmütiges Vollmondgesicht verzog sich zu einem verlegenen Grinsen und er strich bedächtig über seine von einem schmalen Haarkranz eingefasste Glatze. Er räusperte sich, als hätte er einen Knödel im Hals stecken und griff nach der Kaffeetasse, die ihm Mutter reichte.
„Nein, nein“, meinte er, „ich wollte euch nur besuchen und bei dieser Gelegenheit meine Krawatte zurück holen.“
„Welche Krawatte?“
„Nun ja, Karl, die schwarze, die ich dir für den Konzertbesuch geborgt habe.“, erklärte er meinem Vater.
„Du wirst sie schon bekommen – wir verkaufen sie bestimmt nicht.“, hänselte ihn Mutter, „So auf Anhieb weiß ich nicht, wo ich sie aufgehoben habe - und suchen gehe ich sie jetzt sicher nicht!“
„Doch! Du musst!“, beharrte der kleine Mann.
Entschlossen schob er sein Kinn vor, das einzige, das an seinem Gesicht und ihm selbst eckig war und Kraft und Entschlossenheit verriet.
„Du hast sie schon ein halbes Jahr lang hier liegen – ich brauch sie, ich will sie wieder haben!“
Ich sah, wie Onkel Sepps Unterlippe zitterte und seine Hände nervös mit der Serviette spielten.
Wer weiß, was ihn trieb, die Krawatte unbedingt noch an diesem Nachmittag zurück zu holen, wer weiß, wozu er sie brauchte – es musste ihm jedenfalls wichtig gewesen sein, denn es war eher ungewöhnlich, Onkel Sepp so hartnäckig zu erleben.
„Was ist?“, brüllte Onkel Gustav, hielt seine knochige Hand trichterförmig an sein Ohr und fixierte seine Frau. Tante Hedwig straffte den Rücken und griff, wie immer wenn sie sprach, mit der linken Hand nach ihrem Haarknoten. Sie rückte die Brille auf ihrer Nasenspitze zurecht und sagte laut und deutlich:
„Seine Krawatte will er wieder haben – die schwarze.“ „Wozu braucht er jetzt eine schwarze Krawatte?“
Wieder griff Tante Hedwig nach ihrem Haarknoten.
Immer, wenn sie diesen unbewussten Griff machte, stellte ich mir vor, der Knoten habe sich gelockert und die Haare fielen weich und verspielt über ihre Schultern. Doch die Frisur war perfekt, der Knoten hielt und Tante Hedwig neigte sich zum Ohr des Onkels.
„Er will sie halt wieder haben – vielleicht geht er ins Theater?... Hast du Theaterkarten, Sepp?“
„Nein, ich geh nicht ins Theater. Ich will nur meine Krawatte wieder haben. Schließlich ist geborgt nur geborgt.“
„Jetzt mach es halt nicht gar so kompliziert.“, versuchte Vater einzugreifen.
„Rosa wird sie morgen suchen, und ich bring sie dann selbst
vorbei.“
„Nein, Karl, sei nicht böse, aber ohne meine Krawatte gehe ich heute nicht nach Hause!“
Onkel Sepp senkte den Blick. Er schien mit sich zu kämpfen. Sollte er nachgeben?
Sein freundliches Gesicht nahm einen gequälten Ausdruck an und kleine Schweißperlen glitzerten auf seiner sorgenumwölkten Stirn.
Er tat mir Leid, denn ich fühlte seine Unruhe.
Leise verließ ich die Gesellschaft und ging in das Schlafzimmer meiner Eltern. Ich suchte in Vaters Kleiderkasten und den Laden der Kommode nach der schwarzen Krawatte.
Umsonst. Ich konnte sie nirgends entdecken.
„So schau halt nach.“, bat ich Mutter, als ich wieder unten bei den andern war.
Aber Mutter funkelte mich an:
„Lächerlich!“, stieß sie hervor. „Doch um des lieben Friedens Willen werde ich sie suchen gehen.“, und brummend stieg sie die Treppe ins obere Stockwerk zu den Schlafräumen.
Nach zwanzig Minuten kam sie die Treppe herunter.
In der rechten Hand baumelte die schwarze Krawatte.
Alle atmeten auf.
Onkel Sepp wirkte erleichtert, aber immer noch beunruhigt.
Was war denn heute los mit ihm?
Sorgfältig verwahrte er die Krawatte in seiner Sakkotasche.
Er sah nervös auf seine Armbanduhr und machte Anstalten, den Besuch zu beenden.
In diesem Moment läutete das Telefon. Meine Mutter hob ab.
„Nein!“, stotterte sie „Um Gottes Willen!...Nein!......“
Sie wurde kreidebleich und setzte sich zutiefst erschrocken nieder.
Die schwarze Krawatte, dachte sie, er muss es geahnt haben!!
„Sepp.......dein Sohn.....“, zögerte sie die fürchterliche Mitteilung hinaus,
„..das eben war die Polizei....der Hannes........
der Hannes ist vor einer halben Stunde tödlich verunglückt.....“