Das Weihnachtsluder
„Maren“, ruft die Mutter aus der Küche,
„es rückt auf halb fünf!“
„Mir doch egal!“, schreit Maren durch den Türspalt und dreht die Musik noch ein bisschen lauter.
Heute ist der 24. Dezember.
Und an jedem 24. Dezember geht Familie Muckert geschlossen zur Christmette um 18:00Uhr.
Familie Muckert besteht aus Mutter Marlies Muckert, Vater Martin Muckert und der 15jährigen Tochter, Maren Muckert.
Mutter Muckert trocknet sich noch kurz die Finger ab. Eilig und lautstark stapft sie die Treppe hinauf und verschafft sich Zutritt in das Töchterchenzimmer.
Als erstes dreht sie am Lautstärkeregler.
Mit aufgerissenen Augen sieht sie Maren an.
„Ja sag mal, sind bei dir alle Sicherungen durch?“ , ganz kurz muss Mutter Muckert durchatmen, „das wäschst du dir runter!
Aber sofort! Uns zieh dir was anständiges an!“
Aus dem Bad schallt die tiefe Stimme von Vater Muckert, „sind meine Damen bald soweit? Ich denke, wir müssen gleich, sonst bekommen wir nur noch die hintersten Plätze.“
Geräuschvoll atmet Mutter Muckert aus, schließt die Tür und lehnt kurz an der Wand.
„Was macht unsere kleine Fee?“, will Vater Muckert wissen.
„Sie macht uns das Weihnachtsluder!“ Und bei dem hilflos fragenden Blick ihres Mannes, bricht sie in schallendes Gelächter aus.
„Hm?“, noch immer nicht schlauer nimmt er seine Frau in den Arm. „Wir machen es uns heute richtig schön, nicht wahr?“
Mutter Muckert nickt und denkt daran, dass der Ofen noch programmiert werden muss, damit die Gans pünktlich zum Essen schön knusprig ist.
Währenddessen dreht sich Maren vorm Spiegel und denkt im Traum nicht daran, dieses Kunstwerk zu zerstören.
Ihr Latex-Kleid kommt in leuchtendem Rot daher wie die Feuerwehr persönlich.
Der Rock knall eng, das Oberteil weit ausgeschnitten.
Ihre Brüste sind noch nicht so …, aber mit den Söckchen im BH fällt das nicht weiter ins Gewicht. Kapriziös und kokett wackelt sie mit ihrem Po und findet die Wirkung grandios.
Das Gesicht hat sie sich schön bleich geschminkt mit tiefschwarzen Smokey-Eyes und rosa Wangen wie kleine leckere Pfirsiche. Als Krönung der sattrote Lippenstift, den sie ihrer Mutter stibitzt hat. Bei den Schuhen muss sie Kompromisse eingehen, aber die Stiefel kann sie gut nehmen.
Sie schreitet aus der Tür wie eine Prinzessin. „Seid ihr soweit? Ich bin fertig!“, ruft sie fröhlich.
„Habe ich nicht gesagt, du sollst dir das runterwaschen?“, schnaubt Mutter Muckert, als sie die Bescherung sieht.
„Mama!“ Marens Stimme überschlägt sich. Sehr trotzig stampft sie mit dem Fuß auf.
„So kannst du doch nicht in die Kirche gehen!“
„Aber ich habe mir so Mühe gegeben!
Ich bleibe so!“
Vater Muckert zieht sich nur noch schnell die Krawatte stramm, dann sieht er nach, was die Damenwelt nun wieder hat.
Tief zieht er die Luft ein, als er sein Töchterchen zu Gesicht bekommt.
„Du siehst ja himmlisch aus – interessanter Stil.“
„Na gut, aber du ziehst den langen Mantel drüber“, setzt Mutter Muckert hinzu und greift nach ihrer Handtasche.
„Nicht den Mantel! Dann sieht ja niemand mein Outfit!“
„Eben! Kommt, wir müssen jetzt los.“
Wütend zieht sich Maren den ellenlangen öden Mantel drüber. Aber in der Kirche wird sie das Ding offen tragen, soviel ist klar.
Auf dem Weg dort hin fällt kein Sterbenswörtchen. Nur steife Nacken und geballte Fäuste in den Manteltaschen, begleitet vom einladenden Glockengeläut.
Ab und zu ein getauschter Blick, mehr geht in diesem Moment nicht.
Im Strom der Gläubigen und der Gelegenheits-Weihnachts-Andächtigen betreten sie die ehrfurchteinflößenden Hallen. Andächtiges Geflüster.
Alte Frauen bekreuzigen sich.
Ihre Männer auch, doch meist weniger inbrünstig.
Der Organist klimpert in die Tasten, als seien dies Aufwärmübungen.
Getuschel, Gemurmel, und abschätzende Blicke. Wer sitzt wo – was hat die oder der an – wer mit wem – all dieser zwischenmenschliche Kram macht vor den heiligen Toren nicht halt.
Marens eiskalte Finger schlängeln sich in Vater Muckerts Hand. Sie weiß genau, das ihr Papa auch nicht wirklich gerne hier ist.
Sie selbst fühlt sich wie eine Heuchlerin und zu gerne würde sie ihren Mantel öffnen, wenn es nur nicht so bitterkalt in diesem steinigen Gemäuer wäre.
Inzwischen ist sie fast ein bisschen froh, das lange Mantelding anzuhaben, so dröge es auch sein mag.
Martin Muckert beugt sich zu seiner Tochter runter und flüstert in ihr Ohr, „sag mal, was ist das eigentlich für´n Stoff, was du da anhast?“
„LATEX, Papa“, flüstert sie stolz zurück.
„Ziemlich cool, aber auch ein wenig gewagt, meinst du nicht?“
Maren antwortet nicht. Sie schaut geradeaus.
Doch ihr Gesicht ist in diesem Moment sehr viel weniger blass.
„Wo man so etwas kauft, da solltest du eigentlich noch gar nicht reinkommen.“
Maren verdreht die Augen,
„INTERNET, Papa.“
Jetzt sieht Vater Martin Muckert geradeaus und denkt über dieses tückische Internet nach.
An der Leuchttafel erscheint eine Zahl.
Es wird still.
Eifriges Blättern.
Die Orgel spielt auf.
Doch kaum jemand singt, weil die Gelegenheits-Weihnachts-Andächtigen in der Überzahl sind und diese Spezies einfach nicht die Kirchenlieder kennt.
Hier und da ein einsames Gesumme und Genuschel, als hätten sie vergessen, ihre Kaugummis zu entfernen.
Und so schreitet die Messe voran.
Mit viel aufstehen und hinsetzen, und niemand weiß so richtig was wann.
Am Heiligen Abend rächt sich eine gewisse Abstinenz.
Nur zur Predigt dürfen alle sitzen und zuhören. Und die Worte des Priesters sind gut gewählt. Sie fesseln Maren mit allen Sinnen. Jedes noch so kleine Detail bahnt sich seinen Weg direkt mitten in ihr Herz. Es geht um die vielen Kinder, die weder Eltern noch ein richtiges Zuhause haben.
Geflüchtet, gestrandet, angespült.
Und so stellen sich alle Härchen unter Marens Mantel auf. Ihr surren die Ohren und ihre Hirnzellen rattern, während das Herz Rock`n Roll tanzt.
Fast wird es ihr übel, als sie an das riesige Haus für ihre wirklich kleine Familie denkt. Geschweige der pompösen Ausstattung.
Ihre Eltern arbeiten viel dafür, das ist ihr bewusst. Doch ob das alles nötig ist, das erscheint ihr in diesem Moment sehr fragwürdig.
Ebenso fragwürdig wie ihr, unter dem Mantel gut verborgenes knallrotes und zugegeben, sehr aufreizendes Outfit, das sie gewählt hat, einfach um ihre Eltern ein bisschen in Wallung zu bringen.
Und nun schämt sie sich – ein bisschen – für all das.
Noch vor der Heiligen Kommunion sollen alle kleinen und auch größeren Kinder nach vorne kommen.
Vater Muckert stupst seine Tochter an.
Sie setzt sich mit wackeligen Beinen in Bewegung. Und als sei es abgesprochene Sache, stehen ausstaffierte gutbetuchte Kinder neben Kindern, die kaum ein paar warme Schuhe tragen.
Ein jedes von ihnen, ob arm oder reich, bekommt vom Priester einen Segen und einen Kuss auf die Stirn.
Als der Priester Maren erreicht, schämt sie sich unfassbar für ihr Make-Up. Doch er lächelt sie offen an und drückt ihr sein
Geschenk auf die Stirn.
Seine Botschaft ist unverkennbar: Ich habe euch alle lieb.
Seltsam ergriffen wankt sie zu ihrem Platz zurück.
Dringend muss sie sich setzen, während die Gemeinde steht und statt mitzusingen, den Klängen der Orgel lauscht.
Mutter und Vater Muckert nehmen ebenfalls neben ihrer Tochter Platz und legen ihre schützenden Arme um sie.
Und Maren?
Ihr laufen die Tränen. Laufen über ihre rosa geschminkten Wangen und hinterlassen die dunklen Spuren von den etwas zu sehr geschwärzten Augen. Rinnen in Mundwinkel und auch den Hals hinunter bis unter den
schützenden Mantel.
Vater Muckert streicht ihr mit der Hand die Tränen weg. Das tröstet sie so arg, wie ein Pflaster in früheren Kindertagen, wenn sie sich mal so richtig die Knie aufgeschrammt hatte oder als sie voll auf ihre Nase gefallen war.
Zum Ende der Messe lädt der Priester die Gemeinde ein, sich noch für einen kleinen Plausch auf dem Kirchhof zu sammeln.
Die Orgel spielt erneut auf und alles setzt sich in Bewegung. Im Ausgang der Kirche stehen Flüchtlingskinder und halten ein Säckel auf für eine Spende bereit.
Vater Muckert ist hier nicht kleinlich. Die Kinderaugen strahlen.
Draußen stehen Feuertonnen und verbreiten ein warmes Flackerlicht. Es wird sogar Kinderpunsch gereicht.
Man kennt sich, und so wird noch ein gutes Weilchen geschwatzt.
Maren sieht sich etwas gelangweilt um. Ganz in ihrer Nähe steht das Mädchen, das auch vorn am Altar, neben ihr stand.
Sie spricht sie an, doch das Mädchen schaut nur unsicher zurück. Es versteht noch nicht viel Deutsch und traut sich auch nicht so richtig diese neue Sprache zu sprechen. Maren versteht schnell und testet ihre Englischkenntnisse.
Nun wird auch das Mädchen lebendig.
Und mit Wortfetzen und auch Händen und Füßen stellen die beiden bald fest, wie gut sie
sich verstehen und sogar ähnliche Gedanken, Ängste und Sorgen haben. Und so verrinnt die Zeit im Fluge, bis Mutter Muckert erschreckt feststellt, dass sie schleunigst nach Hause müssen, wegen einer gewissen knusprigen Gans, die im Ofen brutzelt.
Maren und ihre neue syrische Freundin verabreden sich für den nächsten Tag.
Hand in Hand geht Familie Muckert nach Hause. Ganz warm ist es den dreien im Herzen und Maren freut sich nun auf die knusprige Gans, auf dem Christbaum und auf das Zusammentreffen mit ihrer neuen Freundin am kommenden Tag.