Warum Wichtel Alvin rote Ohren bekam (RB SP 72)
„Verflixt! Verflixt! Und noch mal verflixt!“
Alvin stapfte wütend durch die kleine Hütte. Die Sohlen seiner viel zu großen Schlappen glühten schon, jedes einzelne seiner roten Haare stand in alle Himmelsrichtungen ab, ebenso rot leuchtete die etwas zu dick geratene Nase und die Zipfelmütze war längst im hohen Bogen in einer Ecke gelandet.
Er machte seinem Dasein als Wichtel gerade gar keine Ehre, sind die doch normalerweise im richtigen Leben sehr besonnen, ruhig und unscheinbar.
Was aber war schon normal? Alvins Start in die diesjährige Weihnachtssaison war alles
andere als rosig gewesen. Sein großer Wichtelchef hatte ihn verdonnert, das Wichtelgeschäft für das kleine Dörfchen Klabauterhausen zum ersten Mal in seinem Wichtelleben ganz allein zu erledigen. Wirklich ganz allein, praktisch ohne jede Hilfe.
„Du schaffst das schon, Alvin!“, hatte ihn Alvar mit tiefer Stimme aufgefordert und besänftigend über seine braune Kutte gestrichen. Wenn der wüsste! Alvin war doch erst 598 Jahre alt und damit ein absoluter Jungspund unterm Volk der Wichtelmänner.
Danach brachte Alvar ihn in zu der kleinen rauchigen und halb vergammelten Hütte am Ortstrand von Klabauterhausen, die nun seine Bleibe für die nächsten acht Wochen sein sollte. Ungemütlich und kalt war sie, der Ofen
funktionierte nicht, weil auf dem Schornstein ein Storchennest befestigt war. Der Kühlschrank war auch leer und der Stoff der Decke im knarzenden Bett kratzte fürchterlich.
So hatte sich Alvin das alles nicht vorgestellt.
Aber Jammern hilft bekanntlich wenig, hatte er in der Wichtelschule im dreihundertachtundneuzigsten Schuljahr gelernt.
Also war er in der ersten Zeit Nacht für Nacht durch das kleine Dorf geflitzt, hatte durch Fenster gespäht, die Ohren an Türen gepresst und sich durch Schlitze in den Wänden gedrückt, um die Wünsche der Kinder und Erwachsenen mit kalten Fingern in sein kleines Wichtelbuch einzutragen. Ziemlich akkurat hatte er Namen, Adressen und die
jeweiligen Herzenswünsche notiert und das, obwohl er sonst überhaupt nicht ordentlich war. So hatte er die ersten drei Wochen in Klabauterhausen zugebracht, ohne entdeckt zu werden.
Und nun war die Katastrophe passiert! Das Buch war nicht mehr auffindbar!
Wütend kickte er mit dem Fuß einen Korb voller kleiner gebastelter Dinge in die Ecke und natürlich flog sein Schlappen hinterher. Es war zum Haare raufen und das tat er auch. Nein, er hatte es nicht im Griff und seine erste Wichtelsaison würde in einem Desaster enden.
Erschöpft ließ sich Alvin auf seinem Bett nieder, das natürlich wieder höhnisch laut knarzte. Zum Glück konnte ihn niemand so
sehen. Dachte er!
Als er sich in der Hütte umschaute sah er zum ersten Mal bewusst das Chaos, welches er hier angerichtet hatte. Es war ein heilloses Durcheinander von kleinen Geschenken, seinen eigenen persönlichen Dingen und Sachen, deren Herkunft er gar nicht mehr kannte. Fast kein Zentimeter auf dem Holzboden war nicht mit irgendwelchem Krimskrams bedeckt, auf dem Tisch konnte man die kleinkarierte Tischdecke nicht mehr erkennen, sein Bett war zerwühlt und sogar in der Mikrowelle stapelten sich halbfertige Geschenke, so dass die Tür nicht mehr geschlossen werden konnte.
„Oh neiiiiiin!“, jammerte er laut mit einem langegezogenen Seufzer. „Ich habe
Weihnachten vergeigt!“
Währenddessen flatterte vor dem winzigen Hüttenfenster Fey, eine kleine Elfe, aufgeregt hin und her und wischte sich immer wieder eine Träne aus den Augen. Es zerriss ihr fast das Elfenherz, Alvin dort drinnen so leiden zu sehen. Sie war sich durchaus bewusst, dass man Wichtel nicht heimlich durch das Fenster beobachten darf, aber sie konnte nicht anders. Schon seit sie ihn vor zwei Wochen zum ersten Mal nachts gesehen hatte, war sie ein bisschen verliebt. Er sah so schön aus, wenn er konzentriert an den Geschenken bastelte. Sie mochte auch seine Stimme, mit der er leise vor sich hin brabbelte. Und erst die roten Haare! Zu gern würde sie einmal durch die
himmlisch zerzausten Locken streicheln.
Nun verzweifelte Fey fast mit ihm. Zu gern würde sie ihm sagen, wo das Büchlein liegt, denn sie wusste es genau, saß sie doch jeden Abend auf dem Fensterbrett und beobachtete praktisch jeden seiner Handgriffe. Aber dann müsste sie zugeben, dass sie immerzu durch das Fenster schaute und das war ihr sehr peinlich. Was für eine verflixte Situation. Alvin hatte Recht.
Langsam bekam sie es nun jedoch mit der Angst zu tun. Angst um Alvins schöne feuerwehrroten Haare, denn er raufte sie dermaßen, dass ihr selbst schon die Flügel schmerzten.
Es war keine Zeit mehr für irgendwelche Pläne, sie musste handeln. Sofort!
Unüberlegt flog sie kapriziös durch eine der kaputten Fensterscheiben und landete mitten in dem Durcheinander neben einer Tasse Kinderpunsch auf Alvins Tisch. Da saß sie nun und natürlich hatte sie der Wichtel sofort bemerkt.
Er starrte sie an - sie ihn. Alvin dachte, er träumte - sie wusste, dass es nicht so war. Ach hätte sie sich doch vorher einen Plan zurecht gelegt.
„Hallo“, wisperte sie zunächst einmal, um Zeit zu gewinnen. Ihr war schon klar, dass ein völlig verstörter und nervenloser Wichtel sicher nicht mit Gastfreundschaft brillieren würde und wunderte sich darum nicht über sein knappes grummelig zurückgeworfenes „Hallo auch!“
Als sie nach gefühlt zehn schweigend verbrachten Minuten erkannte, dass der Wicht ihrer Träume sicher nicht das Gespräch beginnen würde, nahm sie all ihren Mut zusammen.
„Duhuu, ich kann dir helfen“, säuselte sie mit glockenheller Elfenstimme.
„Klar doch!“, muffelte er zurück und sie realisierte, dass die Sache wohl schwierig werden würde.
Er war aus der Nähe betrachtet noch schöner, als sie durch das Fenster gesehen hatte. Und er roch so gut nach Rauch und Gewürzen. Hach, ihr Herz zog sich ein kleines bisschen zusammen.
Sie konnte nicht anders, fasste all ihren Mut zusammen und setzte alles auf eine Karte.
„Duhuu, ich weiß, wo dein Buch ist und ich könnte dir auch helfen, hier für Ordnung zu sorgen. Ich kenne mich damit aus, habe nämlich 612 Geschwister.“
„Na dann mach mal!“, war die kurze Antwort. Alvin war einfach viel zu durcheinander und glaubte immer noch, in einem Traum gelandet zu sein. Warum also Mühe geben, für nichts?
So ging das natürlich überhaupt nicht.
„Jetzt hör mal zu, du Stoffel! Ich biete dir Hilfe an und weiß auch, wo sich dein dämliches Buch befindet. Da könntest du wirklich ein wenig freundlicher sein. Echt!“ Fey war ein bisschen aufgebracht und hoffte gleichzeitig, dass er nicht nachfragen würde, woher sie das mit dem Buch wusste.
Alvin, der noch immer nicht angekommen war,
bellte leicht genervt zurück: „Ja und nun, was willst du von mir? Ein Geschenk? Kannst dir ja eins aussuchen!“. Unwirsch nahm er eine Zuckerstange in die Hand und zeigte er ausladend auf das ganze Durcheinander in seiner Hütte.
„Nein! Ich will kein Geschenk. Ich möchte … ich möchte …“ Fey fing an zu stottern, ihre Flügel wurden ein kleines bisschen rot, aber dann richtet sie sich auf und schaute Alvin in die schönen grünen Augen. „Ich möchte einen Kuss.“ Da war er raus, ihr heimlichster und sehnlichster Wunsch und sie hatte ihn wirklich laut geäußert.
Als Wichtel kennt man sich gut aus mit Überraschungen, diese aber haute Alvin doch unmittelbar aus den Socken. So raffiniert er
auch war, vom Küssen wusste er rein überhaupt nichts. Darüber hatten sie in der Schule nichts gelernt. Auch verstand er den Sinn dahinter gar nicht. Nachdenklich schaute er zurück, sah funkelnd braune Bernsteinaugen und erkannte, dass diese kleine zarte Elfe es wohl ernst meinte.
„Ein Kuss und du bringst mein Buch zurück und meine Welt in Ordnung? So, wie ein Pflaster draufkleben und alles ist gut?“
Schlimmer kann es nicht werden, fiel seine Aufwand-Nutzen-Rechnung eindeutig zu Gunsten des Erfolgs aus.
Fey glaubte kaum, dass es doch so einfach werden würde und nickte ganz aufgeregt.
„Und du hast keine Hintergedanken? Weißt du wirklich, wo mein Buch ist? Und dürfen das
Wichtel und Elfen überhaupt?“
„Nein und ja und ja!“ Fey war nun wirklich sehr aufgewühlt, brachte keine vernünftigen Antworten mehr zustande und …
Da beugte sich Alvin tatsächlich vor, legte seine rauen Hände auf Feys zarte Flügel und presste seine Lippen, sanfter als sie sich erträumt hätte, auf ihre. Schnell fuhr er erschrocken zurück.
„Hallelujakrimskramsklabauterland“, räusperte er sich verlegen. Warum hatte ihm noch nie jemand erzählt, dass man bei dieser Tätigkeit einen ganz warmen Bauch bekommt?
„Darf ich noch mal?“, fragte er etwas heiser und strich verlegen über seinen Pullover. Weit weg war sein wichtiges Buch gerückt, die Unordnung praktisch nicht mehr sichtbar. Er
fühlte, dass es plötzlich ein wenig heller und wärmer in der Hütte wurde und in dem trüben Spiegel am Bett sah er erstaunt, dass sich seine Ohren tief rot verfärbt hatten.
Auch Fey empfand diese ganz besondere Wärme und spürte, dass das Herz in ihrer zarten Brust immer größer wurde. Gut fühlte es sich an und 256-mal besser, als in ihrer Fantasie.
Ich weiß es nicht genau, wie das da in der Hütte weiterging, habe mich lieber zurück gezogen, weil … Na weil eben.
Aber mir kam zu Ohren, dass es in Klabauterhausen in jenem Jahr ganz besonders schöne Wichtelgeschenke gab, dass nicht ein einziger Bewohner leer ausging
und jedes dieser kleinen Geschenke ganz besonders glitzerte und sich kuschelig warm anfühlte.
© Memory (Dezember 2018)