Kater Hinkebein
Als Kater Hinkebein auf die Welt kam, hieß er eigentlich noch nicht „Hinkebein“. Seine Mutter nannte ihn Timmy. Aber ich will der Reihe nach erzählen.
Auf einem Bauernhof in einer großen, mit duftendem Stroh gefüllten Scheune erblickte er das Licht der Welt. Da seine Äuglein noch geschlossen waren, konnte er nur mit seinem Näschen die Umwelt wahrnehmen. Und es war ein herrlicher Duft, der ihm da in die Nase stieg. Die Milch seiner Mutter, die ihn mit ihrer rauen Zunge inzwischen trocken leckte, schmeckte herrlich und erfüllte ihn mit Geborgenheit und so schlief er nach dem
Trinken auch gleich wieder ein. Seine Mama schnurrte ein leises Wiegenlied dazu. Als er erwachte, hörte er die Stimmen seiner drei Geschwister, die inzwischen auch geboren waren. Es war kuschelig warm bei der Mutter und es roch herrlich nach Heu in dem weichen Nest, das sie liebevoll für ihre Kinderchen eingerichtet hatte. So ging es einige Wochen: Trinken – schlafen – trinken – schlafen….
Eines schönen Tages bekam Timmy einen Stups von seiner Mama: „Hey, Timmy, nun steh aber mal auf. Deine Geschwister tollen schon herum und Du schläfst und schläfst. Du bist ja eine Schlafmütze."
So entschloss er sich nun auch seine Äuglein
zu öffnen und konnte die Mutter und seine Geschwister sehen.
Mit tapsigen Schrittchen torkelten sie wild durcheinander und versuchten schon mal die Welt außerhalb des Nestes zu erkunden.
Aber die Mama, eine große schwarz-weiß gefleckte Katze mit langem weichem und dichtem Fell, passte auf, dass keines ihrer Lieblinge verloren ging. Manchmal, wenn alle schliefen, schlich sie sich heimlich davon, um wenigstens ein Mäuschen zu jagen oder sich
an dem Milchnapf, den ihr die Bäuerin immer hinstellte, zu laben. So vergingen die Tage und wurden zu Wochen. Unser Katerchen wurde größer, geschickter beim Spiel mit den
Geschwistern und konnte auch schon selber aus Mutters Katzennapf fressen.
Doch eines schönen Tages, ging das Scheunentor auf und es wurden Stimmen laut. Kinderstimmen jubelten.
Das hatten die Katzengeschwister noch nie erlebt und sie versteckten sich instinktiv überall, wo sie glaubten nicht gesehen zu werden. Unser Katerchen hatte sich unter einem Heuwagen versteckt und dachte: „Hoffentlich seht mich niemand…“, aber dort entdeckte man ihn zuerst.
„Ei, wen haben wir denn da? Du bist ja ein ganz Süßer!“, sagte eine vor Schmalz triefende Stimme zu ihm und zur Bäuerin
gewandt: „Ja den nehmen wir gleich mit!“
Timmy wurde hoch gehoben. Das gefiel ihm natürlich gar nicht und er versuchte, sich frei zu machen mit Kratzen und Strampeln. Aber die Hand packte ihn fester. Er wurde in einen Korb gesteckt, der verschlossen wurde und so wechselte unser Timmy seinen Besitzer. Sein weinerliches „Mama, Mama…“ verhallte ungehört.
So konnte er sich von seiner Mutter und den Geschwistern nicht mal verabschieden und sollte sie auch nie wiedersehen.
Nun kuschelte er sich traurig und ängstlich ganz tief in die hinterste Ende des Korbes,
schloss seine Äuglein und wünschte sich, dass alles nur ein schlechter Traum sei.
Der Korb wurde in ein Auto gestellt und los ging die Fahrt. Das Rumpeln und Schleudern schlug Timmy gewaltig auf den Magen. Ihm wurde schlecht und er erbrach sich.
Der Geruch, der sich dadurch im Auto verbreitete, war alles andere, als angenehm.
Seine neuen Besitzer, eine Familie mit zwei Kindern, waren darüber nicht sehr erfreut, als sie die Bescherung rochen und schimpften mit ihm: „Hey, Du kleiner Stinker, was hast Du da angerichtet. Man sollte Dich gleich wieder zurückschaffen, oder gleich aus dem Auto
werfen.“
Die scharfen Worte gefielen ihm gar nicht. Das war er von seiner Mutter nicht gewöhnt. Deshalb versuchte er sich möglichst klein zu machen, noch kleiner, als er ohnehin schon war.
Nach einer, für ihn unendlich langen Zeit stoppte das Auto und unser Katerchen wurde aus dem Korb gehoben.
Er war in der Wohnung der neuen Besitzer angekommen.
Alles war hier neu hier, roch unbekannt und zugleich Angst einflößend. Also verkroch er sich erst mal unter einem Sofa und ließ sich weder durch Futter noch durch Lockrufe, schon gar nicht mit Drohungen darunter
hervorlocken.
Irgendwann jedoch siegte der Hunger, da war es schon dunkel und die neuen Besitzer waren schon schlafen gegangen.
Timmy merkte, dass er in der Dunkelheit sehr gut sehen konnte und dem verführerischen Duft, der ihm aus einem Futternapf in die Nase stieg, konnte er nicht widerstehen. Er fraß etwas und schleckte auch etwas Milch, die ihm hingestellt worden war. Danach kletterte er auf einen Sessel, wo er sich zusammenrollte und erschöpft einschlief.
Der nächste Tag weckte ihn mit großem Geschrei. Die ganze Familie stand um ihn herum und schimpfte auf ihn ein, weil er
nachts, als er dringend sein großes „Geschäft“ machen musste, einfach eine Zimmerecke, die ihm geeignet erschien,
dafür auserwählt hatte. Der „Duft“ hatte sich natürlich in der ganzen Wohnung verbreitet und rief bei seinen Dosenöffnern alles andere, als Begeisterung hervor.
Die Frau des Hauses rief ihren Kindern zu: „Schafft die Katze ja bloß schnell wieder weg.
So ein Tier, das nur Arbeit und Dreck macht, brauche ich nicht.“
Gesagt, getan, die Türe öffnete sich und unser Katerchen fand sich auf einmal auf der Straße wieder.
Ganz verdutzt schaute er, als die Autos und
Motorräder dröhnend an ihm vorbeifuhren.
„Wo bin ich nur? Wie komme ich jetzt wieder zu meiner Mama nach Hause..?“, fragte er sich und drückte sich ängstlich an eine Hausmauer.
Auf einmal hörte er Lärm und ein Ball rollte an ihm vorbei. Das reizte ihn natürlich, hinterher zu flitzen und er wollte schon zum Sprung ansetzen, da bekam er einen schmerzhaften Tritt, der ihn auf die Straße beförderte, geradewegs vor ein vorbeifahrendes Auto.
Er spürte nur noch einen großen Schmerz, dann wurde ihn schwarz vor den Augen. „Das ist wohl das Ende, jetzt komme ich in das
Regenbogenland…“ konnte er noch denken. Vom Regenbogenland hatte ihm seine Mutter schon manchmal erzählt und sie war immer ganz traurig dabei.
Timmy erwachte in einem geräumigen Käfig. Sein Bein war verbunden und an seiner Vorderpfote hing ein langer Schlauch, der zu einem großen Behälter an der Außenseite des Käfigs führte. Katerchen merkte, dass ihm die Flüssigkeit, die ihm da in den Körper lief, gut tat und ihm half, wieder zu Kräften zu kommen. Doch stehen konnte er noch nicht, es schmerzte einfach zu sehr. Also blieb er liegen und versuchte zu schlafen. Er träumte von der schönen Zeit, als er mit seinen Geschwistern im Stroh herumtobte und von
der Mutter, die ihm mit ihrer rauen Zunge das Bäuchlein massierte und das Fell putzte. Und er drehte sich wohlig.
Doch als er die Augen öffnete, sah er nicht…. seine Mutter, sondern ein fremdes Gesicht mit freundlichen Augen und einer sanften Stimme, die aber fast so klang, wie das Schnurren seiner Mutter: „Du armes Kerlchen, was hast du nur durchgemacht! Aber ab jetzt sollst du es gut haben bei mir. Bald nehme ich dich mit nach Hause. Dort wirst du ganz gesund.“
Die Frau wandte sich an den Tierarzt: „Herr Doktor, wie lange muss er noch hier bleiben, ich kann es wirklich kaum erwarten, bis ich ihn
mitnehmen kann.“
Der Doktor schmunzelte: „Schon morgen, meine liebe Frau Morgenroth, schon morgen. Heute Abend wird der Tropf abgenommen und morgen werden wir den Verband entfernen. Dann können Sie ihr Hinkebein mitnehmen.“ So kam Kater Hinkebein zu seinem Namen.
In dieser Nacht konnte Kater Hinkebein schlecht schlafen. Er konnte sich nicht erklären, warum. Aber als ihm diese Nadel aus seinem Vorderlauf entfernt wurde und er nicht mehr diese stärkende Flüssigkeit in seinen Venen spürte, wurde ihm seltsam zumute. Er spürte, dass eine Veränderung in
sein Leben treten würde, konnte sich aber nicht vorstellen, wie diese aussehen sollte. Hatte er doch in seinem kurzen Leben noch nicht allzu viel Gutes erfahren.
Endlich wurde es draußen hell und die ersten Strahlen der Morgensonne kitzelten ihn an der kleinen rosa Nase, so dass er niesen musste.
Er lag immer noch in seinem Käfig und der Verband an seinem Hinterbein war auch noch dran.
Aber schon öffnete sich die Tür und Doktor Schommer, der Tierarzt trat ein.
„Na, wie geht’s uns denn heute“,
fragte er Hinkebein, wohl wissend, dass der Kater nicht antworten konnte, zumindest nicht in menschlicher Sprache.
Er nahm ihn vorsichtig aus dem Käfig und setzte ihn auf den Behandlungstisch. „So da wollen wir dir mal den Verband abnehmen und sehen, wie dein Bein verheilt ist“, meinte Dr. Schommer und strich dabei dem Kater leicht über das Köpfchen.
Inzwischen lugte auch der Frauenkopf mit den freundlichen Augen wieder zur Tür herein:
„Na wie isieh’s aus, Herr Doktor, kann ich ihn heut mitnehmen?“
fragte die Frau.
„Mal sehen, wenn der Verband ab ist, Frau Morgenroth, ob er dann wieder laufen kann“, meinte Dr. Schommer und machte sich daran, den Verband abzunehmen.
Hinkebein merkte auf einmal, dass sein Hinterbein leichter wurde und er versuchte das Bein aufzusetzen. Aber es schmerzte noch sehr und weil er noch keine Kraft in seinem Bein hatte, fiel er, plumps, auf die Seite. Doch nach einigen Versuchen konnte er wenigstens mit drei Beinen stehen und der
Doktor lobte ihn:
„Bist schon ein zäher Bursche. Also dann mach’s gut und halte dich von Autos fern, sonst bist du bald wieder hier.“
Und zu Frau Morgenroth gewandt:
„Ich gebe ihnen noch ein paar Schmerztabletten mit und ansonsten müssen sie mit ihm diese therapeutischen Übungen machen, die ich ihnen schon gezeigt habe. Vielleicht kann er dann bald wieder springen und hüpfen. So nehmen sie ihn denn mit.“
Die Frau mit den freundlichen Augen nahm
Timmy vorsichtig hoch und drückte ihn an ihre Brust.
Indem sie mit ihrer freien Hand vorsichtig über sein seidiges Fell strich und sagte leise zu ihm:
„Komm mein kleiner Schatz, jetzt geht’s nach Hause.“
Und Katerchen stupste sie mit seiner Nase an die Wange, als wolle er sagen.
„Ja komm, ich freue mich.“