SUIZIDERFARUNG
Unlängst fand in meiner Nachbarschaft ein Suizid statt und die Meinungen in der Umgebung waren sehr verschieden, aber sie tendierten zum Unverständnis.
Ich hatte dafür sehr viel Verständnis, wenn ich auch die Gründe nicht kannte, so reichte mir die eigene Erfahrung aus die ich diesbezüglich selbst gemacht hatte.
Das war auch zugleich die Insperation, darüber zu schreiben.
Leider, oder zum Glück nicht...
Vorwort
Dass das Leben aus Höhen und Tiefen besteht, diese Erkenntnis ist so alt, dass sie sich nicht auf einzelne Epochen festlegen lässt, sondern sie war den Menschen seit Urzeiten ein stets ein treuer Begleiter.
Das einzige was sich geändert hat, in den jeweiligen Epochen und das bis in die heutige Zeit, ist die Charakteristik der Höhen und Tiefen und die Wahrnehmung bzw. der Umgang damit.
Zweifelsohne verkraftet der Mensch die Höhen besser als die Tiefen, da Tiefen
sehr oft in einer Aussweglosigkeit enden, die das Leben sinnlos erscheinen lassen und wo der Gedanke an Suizid als eine Erlösung empfunden werden kann.
Ob es in grauer Vorzeit auch so viele Selbstmorde gab, wie in der heutigen Zeit, davon ist nichts überliefert. Aber es ist anzunehmen, dass das eher nicht der Fall war, weil die Höhen und Tiefen mit dem Fortschritt der Menschheit immer extremer - und der Aufstieg aus der Tiefe immer beschwerlicher - oder sogar aussichtsloser geworden ist um somit dem Suizid vorschub zu leisten.
Höhen und Tiefen
Höhen lassen sich mit Glück assoziieren und Tiefen mit Pech.
An dieser Stelle würde das Sprichwort ganz gut passen: „Jeder ist seines Glückes Schmied“ – aber auch nur dann, wenn kein Anderer etwas dagegen hat.
Im Umkehrschluss trifft das auch auf das Pech zu – welches allerdings in der heutigen Zeit bei den meisten Menschen - durch eine Minderheit begünstigt wird.
So kann man z.B. feststellen, dass weltweit die Schere zwischen arm und reich immer weiter auseinander klafft. Ist das Pech?, und ist es Glück zu jenen
zu gehören, die sich auf der anderen Seite befinden? Wohl nicht, aber das ist ein anderes Thema und nur soviel: Beides ist asozial!
Der Weg zum Suizid
( Wobei ich Suizid lieber als Freitod verstehe anstatt, wie es allgemein üblich ist, als Selbstmord zu bezeichnen.)
Das Leider bezieht sich auf einen missglückten Suizidversuch.
Mit 55 Jahren hatte ich den Punkt erreicht, wo ich einem scheinbar sinnlos gewordenen Leben ein Ende setzen wollte und dazu kam es folgendermaßen:
Mein zuletzt ausgeübter Beruf war
Servicetechniker in der Elektromedizin. Der Abstieg begann damit, dass mein Arbeitgeber die Filiale, in der ich über fünf Jahre beschäftigt war, auflöste und an einen anderen Ort verlegte. Dieser Ortswechsel hätte für mich sehr negative Folgen gehabt. Daher habe ich den Umzug nicht mitgemacht, denn schließlich hatte ich einen hoch qualifizierten Beruf (wie ich dachte) und es sollte keine Schwierigkeit sein, einen neuen Job zu finden.
Aber weit gefehlt, denn ich hatte nicht bedacht, dass man in Deutschland schon mit 50 Jahren, beruflich zum „alten Eisen“ gehört, dabei hätte ich noch locker 15 Jahre bis zur Rente arbeiten
können.
Statt dessen durfte ich mich beim Arbeitsamt anstellen und gehörte nun ab sofort - so zumindest die sehr verbreitete Ansicht in unserer Gesellschaft – zu den Faulenzern.
Die Mitarbeiter des AA nahmen sich dabei nicht aus, was meinem Stolz und Selbstwertgefühl nicht besonders zuträglich war und bevor ich dem Frust und den sich anbahnenden Depressionen unterlag, entschloss ich mich zu einer höheren Qualifizierung und nahm an der Rheinischen Akademie an einem Studium zum Medizintechniker teil.
Nach zwei Semestern brach ich die in meinen Augen sinnlose Büffelei ab, weil
nur theoretisiert wurde, was ich ohnehin schon aus der Praxis kannte – und zudem sehr kontrovers war - oder was ich nicht gebrauchen konnte. Zudem wurde mir bewusst, dass es weniger an der Qualifikation lag, dass ich keinen Job bekam, sondern nur am Alter und dabei wurde ich nicht jünger.
Ergo; diesen Frust konnte ich mir ersparen und somit zurück zur Verwaltung der Faulenzer.
Um dem Image des Faulenzers zu widersprechen und um zu verhindern, dass mir zu Hause die Decke auf den Kopf fällt, überbrückte ich einige Jahre mit Taxifahren.
Finanziell wäre das nicht nötig gewesen, denn meine Partnerin, mit der ich über 12 Jahre zusammen lebte - sie war Lehrerin und auch ein Grund dafür, dass ich nicht mit meinem Arbeitgeber umgezogen bin - hatte sehr viel Verständnis für meine Lage und gab mir den nötigen Halt, um die Situation erträglich zu gestalten.
Sie war eine sehr bemerkenswerte Erscheinung u.a. mit blondem lockigen Haar, aber genau das Gegenteil von dem Klischee, was man Blondinen andichtet. Sie war sogar so fair um sich zu fragen; wieso sie fast das doppelte von dem
verdient, was ich verdient habe - wusste sie doch, was ich dafür leisten musste. Eigentlich sollten sich das alle Beamten fragen, was aber wohl die Wenigsten tun.
Was wie ein Damoklesschwert über uns beiden hing, war eine Diagnose, die besagte, dass sie auf Grund einer Blutkrankheit noch höchstens zwei Jahre zu leben hätte.
Ohne in Panik zu verfallen nahmen wir die Sache sehr ernst und wir wollten sogar noch heiraten, bevor es soweit war. Das war ihr Wunsch, denn sie wollte mich versorgt wissen. Doch dann, drei Tage bevor wir heiraten wollten, begannen sich die Ereignisse zu überschlagen.
Sie bekam Hirnblutungen, fiel ins Koma und konnte nur noch auf der Intensivstation am Leben erhalten werden.
Ein Professor erklärte mir anhand von Röntgenaufnahmen ihren Zustand. Beide Gehirnhälften waren durchblutet, was bedeutete; wäre sie wieder aus dem Koma erwacht, dann wäre sie irrsinnig gewesen d.h. ein Fall für die „Klapsmühle“.
Das hätten wir beide nicht gewollt, da war ich mir sicher. Denn auch über die Möglichkeit hatten wir gesprochen und wir waren uns darüber einig, dass z.B. bei so einem Fall, der Partner über ein Weiterleben entscheiden sollte.
Daher bat ich darum, die Apparaturen abzustellen und kurz darauf ist sie in meinen Armen gestorben und mit ihr auch ein großer Teil von mir, wie sich später noch herausstellen sollte.
Erst bei der Beerdigung begann ich zu realisieren, was wirklich geschehen war. Mir kam es so vor, als ob ich ebenfalls im Grabe läge, allerdings war das Grab wesentlich tiefer, ein dunkles Loch und es war mir so, als ob ich im freien Fall ins Dunkle und Ungewisse stürze.
Ob Herbert Grönemeyer damals schon das Lied sang; „Alkohol, Alkohol, Alkohol ist der Retter in der Not“, das
weiß ich nicht, aber für mich wurde der Alkohol zu einer Option.
Bis zu dem Zeitpunkt war ich ein
durchschnittlicher Konsument, aber danach wollte ich mich nur noch betrinken. Gründe gab es genug: Die Arbeitslosigkeit, von der Gesellschaft als Faulenzer verstoßen, geächtet und an den Rand gedrängt, als Taxifahrer der Fußabtreter der Nation und vom Arbeitsamt nicht ernst genommen.
Und Freunde?, die gab es auch, aber als ich sie brauchte, war niemand und das, woran ich mich aufrichten konnte und mir Mut und Kraft gab, das wurde mir
genommen.
Der Alkohol tat sein Bestes nur was er nicht konnte; dem Leben einen Sinn und Inhalt geben. Eher das Gegenteil war der Fall. In seiner Phase des Wirkens konnte er die Stimmung anheben und über die Realität hinweg täuschen. Aber um so schlimmer war das Erwachen danach.
Die Sinnlosigkeit meines Lebens wurde immer deutlicher und die wohlwollende Wirkung des Alkohols ließ auch immer mehr nach.
Eines Tages fand ich im Schreibtisch meiner Partnerin ein Röhrchen mit Schlaftabletten und ich wusste, dass
meine Partnerin auch für den Fall vorgesorgt hatte; sollte es nicht mehr gehen, dann eben so.
Der Gedanke an Suizid hatte sich mir schon länger aufgedrängt und ich sah es als ein Wink des Schicksals, oder war es Vorbestimmung?
Das habe ich nicht länger hinterfragt, sondern im Vordergrund stand die Vorstellung, dass ich nur die Tabletten zu schlucken brauchte und alles Leid und Elend hat ein Ende. Ohne weiter zu überlegen kippte ich den Inhalt des Röhrchens in den Mund, spülte die Tabletten mit einigen Schluck Bier hinunter und legte mich ins Bett und
wartete auf den Tod.
An was ich mich noch als letztes erinnern konnte war, dass ich Stolz darauf war, den Mut gefunden zu haben, meinem Leid endlich ein Ende zu setzen.
Wie lange ich tot war das wußte ich nicht so genau, aber der Stolz ist der Enttäuschung und
Niedergeschlagenheit gewichen als ich realisierte, dass mein Vorhaben fehlgeschlagen war und die Umgebung in der ich mich befand, nicht der Himmel, sondern mein gewohntes Umfeld war.
Ich kam mir vor wie ein Versager, der nicht einmal in der Lage war sich selbst umzubringen.
Ich fand mich also damit ab, weiter leben zu müssen, denn das sah ich als das kleinere Übel, als mich von einem Hochaus zu stürzen oder vor einen Zug oder ein Auto zu werfen.
Dazu war das Leid scheinbar noch nicht groß genug, oder ich hatte zu wenig dagegen getan und den vermeintlich einfachsten Weg gewählt um dem zu entkommen.
Von einem weiteren Versuch mit einer höheren Dosierung habe ich, nach dieser ernüchternden aber auch heilsamen Erfahrung abgesehen und der Trotz suggerierte mir: "Das ist eine zweite Chance.
Ein neue Bewusstsein
Natürlich hat sich an dem Leid vor dem Suizidversuch gar nichts geändert. Eher das Gegenteil wäre der Fall gewesen, wenn ich die Enttäuschung aufgewertet hätte. So aber habe ich dem Trotz nachgegeben und die zweite Chance in Angriff genommen und im Nachhinein festgestellt, dass es vielen Menschen gut tun würde, ähnliches erlebt zu haben, welches sich aus dem weiteren Verlauf erklärt.
Nachdem ich mich einigermaßen gefangen hatte, ging es quasi genau dort weiter, wo ich stehen geblieben war und zwar so lange, bis man mir vom
Arbeitsamt nahe legte, einen Antrag auf vorzeitigen Ruhestand zu stellen, weil ich nicht mehr zu vermitteln war.Das war ab dem sechszigsten Lebensjahr möglich.
( Dass das aber mit einem Rentenabzug von 18% „belohnt“ wird, wurde verschwiegen und als der Antrag durch war, war es zu spät für einen Widerspruch – diese Gauner, das aber nur so nebenbei.)
In der Zwischenzeit hatte sich vieles ereignet. Das Wichtigste war die Trauerarbeit für die ich ca. zwei Jahre benötigte um mich sowohl physisch wie auch psychisch mit dem Geschehenen abzufinden. Aber ebenso wichtig war das
loskommen vom Alkohol.
Ich war mir nicht sicher, ob ich inzwischen zum Alkoholiker geworden war und um sicher zu gehen, begab ich mich in eine Fachklinik. Mit den Mitpatienten gab es leichten Stress, weil sie mich nicht als Alkoholiker anerkennen wollten und in der Tat wurde mir nach drei Monaten bescheinigt, kein Alkoholiker zu sein, sondern ich hätte nur Alkoholmissbrauch betrieben. Das war zumindest beruhigend und den Missbrauch habe ich eingestellt. Ich genehmige mir höchstens noch einen Schuss Amaretto im Cappuccino.
Weil ich nicht vermittelt werden konnte,
bin ich auch weiter Taxi gefahren und das auch noch im Vorruhestand. Aber diesmal aus finanziellen Gründen, denn ich musste noch eine Eigentumswohnung ab stottern, die ich von dem kleinen Erbe meiner Partnerin nur anzahlen konnte.
Vor allem nach der Trauerarbeit wurde ich immer gelassener und gefestigter. Auch meine Weltanschauung ist eine wesentlich andere geworden, weil ich in der Tat auf meinen missglückten Suizidversuch zurück blicken kann und mich in allem darauf berufen konnte: „Alles was auch immer weiter geschehen mag, ist nur eine Zugabe, denn der Suizid hätte ja auch klappen können“.
Und weil sich das so heilsam und ernüchternd auf mein Bewusstsein ausgewirkt hat, könnte es vielen Menschen nichts schaden, eine ähnliche Erfahrung gemacht zu haben. Und vor dem Tod brauchte ich mich auch nicht zu fürchten, denn es hätte ja klappen können, wie gesagt.
Daher hält mich diese Erfahrung auch nicht davon ab, es evtl. nochmal zu versuchen, wenn vorhersehbar ist, dass das Leben nur noch aus Leid besteht. Dann sollte es aber klappen, weil ich die Messlatte diesbezüglich höher gelegt habe und wenn das wirklich nur der einzige Ausweg ist, dem Leid/en zu
entkommen. Für mich ist es wichtig, den Zeitpunkt des Sterbens selbst zu bestimmen und sollte ich selbst dazu nicht mehr in der Lage sein, dann wäre ich jenen dankbar, die mir diese Entscheidung abnehmen würden und ich würde das so ähnlich sehen, wie bei meiner Liebsten, es war mein letzter Liebesbeweis.