Erster Advent
Leise rieselt kein Schnee und still und starr ruht auch weit und breit kein See. Das Thermometer, welches seit nunmehr vier Jahren verlässlich die Außentemperatur anzeigt, verkündet kuschelige 18 Grad. Der Himmel über dem wunderschönen Poppendorf, nein über ganz Thüringen, ganz wahrscheinlich sogar über gesamt Germany, strahlt in seinem allerschönsten Blau und es fehlen im Grunde nur noch ein paar Vöglein im Garten, um die Sommeridylle perfekt zu machen.
Rubella MacButtocks schüttelt beirrt ihren blondgelockten Kopf und kneift die himmelblauen Augen so fest zusammen, dass
eine steile Falte auf ihrer Stirn entsteht. Auf diese Weise hofft und wünscht sie, die Situation da draußen zu ändern. Vielleicht hilft es ja, ganz fest den feierlichen Klängen zu lauschen und daran zu glauben, dass morgen der 1. Advent ist. Ganz bestimmt! Wenn sie die Augen wieder öffnet, steht auf dem Thermometer sicher ein Minuszeichen vor der 18 und die Wiese ihres Gartens ist mit zarten Schneeflocken bepudert. Erlebt hat Rubella so etwas schon einige Male seitdem sie hier wohnt - wenn auch noch nie zu Weihnachten. Warum spielen die Deutschen nur so merkwürdige Weihnachtsmusik mit so komischen Texten, wenn sie doch genau wissen, dass es mit der wetterbedingten Stimmung doch nicht klappt? Sie traut sich gar
nicht, die Augen zu öffnen. Träumt stattdessen noch ein bisschen von ihrer Heimat Kanada, speziell von Québec. Die Gegend, wo man sich einfach darauf verlassen kann, dass Schnee zum Winter gehört, eisige Kälte die Muskeln von Oktober bis April zu einer einzigen Zitterpartie einlädt und Weihnachtslieder-Texte ihre Berechtigung haben. Gleich … gleich will sie blinzeln und vielleicht …
Krachend schlägt die Tür an die Wand und Rubella reißt völlig erschrocken die Augen auf.
„Schatz, Du hast ja noch gar nicht angefangen! Ich dachte, Du bist schon fertig mit der Dekoration. Schau mal, was ich alles eingekauft habe!“
Dahin ist der Traum vom Winter, vom leise
rieselnden Schnee und einem knisternden Kaminfeuer.
Was sie als Erstes sieht, ist der Mann ihrer schlaflosen und schlafreichen Träume. Jupp von Zuckerwiesel, der riesige Blondschopf, wegen dem sie vom schönen Kanada nach Poppendorf in Germany ausgewandert ist. Sie hatten sich während der Studienzeit kennen- und lieben gelernt, konnten ihre Finger nicht voneinander lassen. Und als am Ende der ewig dauernden Lernerei die Frage aufkam, ob sie in Kanada oder in Germany ihre Zelte aufschlagen wollen, siegte nun mal eindeutig Deutschland nach Punkten. Rubella hatte wenig zu bieten, Jupp dagegen eine riesige Familie, herzliche Eltern, vier Schwestern mit inzwischen sieben Nichten und Neffen,
komplett zweimal Großeltern. Dazu einen gutbezahlten Job in Aussicht und ein geerbtes Häuschen, auf einem recht netten Fleckchen Erde. Sie dagegen hat zwar Eltern aber die leben nicht in Kanada. Eine Grandma, mit der sie zerstritten ist, seit sie als Halbwüchsige ganz leicht über die Stränge geschlagen ist. Oma hatte einfach etwas dagegen, dass sie sich ausprobieren wollte und Rubella empfindet das noch heute als äußert pingelig. Und ansonsten besaß sie nur eine sogenannte Studentbude mit Inventar aus prähistorischen Zeiten.
Als nächstes und damit zweites, sieht sie die riesigen Einkaufstüten, die immer noch an Jupp hängen und die der Grund dafür sind, dass die Tür so geräuschvoll geöffnet wurde.
Ganz offensichtlich hat er wieder irgendwo ein Schild gelesen, dass Einkaufen nach dem ersten Advent bei Strafe verboten wird. Warum sonst und vor allem für wen, kauft er so viel ein? Besuch erwarten sie an diesem Wochenende keinen und im Grunde ist der Kühlschrank und der Keller, dank der besorgten Omas und der im Einzelhandel arbeitenden und alle Schnäppchen mitbringenden Mom, immer dauervoll.
Nach den Tüten, die immer noch an der gleichen Stelle verweilen, bemerkt Rubella als drittes, dass der Tragegriff einer besonders vollen Tasche immer länger und dünner wird, was ein eindeutiger Beweis dafür ist, dass seine Haltbarkeit auf wackeligen Beinen steht, beziehungsweise in diesem Fall hängt.
Das will sie nicht sehen und schon gar nicht miterleben, dreht sich um und sieht viertens, dass ihre beiden Katzen dabei sind, sich in der überdimensional großen Kiste mit Weihnachtsdekoration zu orientieren und die Begleitgeräusche schon jetzt ein heilloses Durcheinander versprechen.
Was als Nächstes geschieht, nimmt Rubella wie im Zeitlupentempo wahr. Es ist so wie im Film, wenn eine besonders spannende Stelle, verlangsamt wird. Die Geräusche klingen hohl und skurril und dem Zuschauer bleibt genug Zeit, sich jede Sequenz auf der Zunge zergehen zu lassen.
Der Griff überlebt es tatsächlich nicht, zerreißt ehe Jupp es selbst bemerkt und der Inhalt dieser Einkaufstüte ergießt sich über das
polierte Laminat. Erschreckt von dem plötzlichen Lärm stieben die Katzen wie wild geworden aus der Dekokiste. Ehe sie durch die noch immer geöffnete Tür in den Weiten des Hauses verschwinden, registriert Rubella, dass Valentin der Kater sich in das Engelshaar verwickelt hat und es wie ein Schweif hinter ihm her weht. Jolante, die Katzendame hat sich im störenden Moment wohl eher für die Bastschleifen interessiert, denn eine davon schmückt nun ihren Kopf. Da Katzen auf der Flucht vor nichts Halt machen, auch oder besonders nicht vor herum kugelnden Einkaufstüteninhalt, verteilen sie noch schnell einige Nüsse, die nun ihrerseits klappernd unter den Schränken, Schränkchen und dem Sofa verschwinden.
Im Hintergrund gibt der Chor alles und laut schallt es aus dem Lautsprecher: „Bald ist heilige Nacht, Chor der Engel erwacht. Hört nur, wie liebliches es schallt …“ und Rubella entweicht ein kurzes kicherndes „Hi!“
Ganz langsam kommt damit Bewegung in die Situation. Sie schaut zu ihm, er schaut zu ihr, beide prüfen anhand von Gestik, Mimik und Haltung des Gegenübers die jeweilige Stimmung und fallen kurz darauf in gemeinsames Gelächter ein. Jupp stellt die restlichen Tüten achtlos in dem Durcheinander ab, Rubella geht auf ihn zu, nimmt ihn in die Arme und verteilt kleine Küsse auf seinem Gesicht. Jupp fühlt sich auf der Stelle nicht mehr in der Lage, Ordnung in das Chaos zu bringen und beginnt ebenso, seine
Herzallerliebste zu küssen. Während der Chor der Engel immer noch erwacht, erwacht in den Beiden etwas ganz anderes und einer schiebt den anderen ganz langsam aber zielsicher in die Richtung des Zimmers, in der sich das Sofa befindet.
„Wollen wir nicht erst mal Ordnung machen?“, nuschelt Jupp zwischen zwei Küssen und deutet halbherzig auf den Laminatboden.
„Nein, wollen wir nicht!“, ist sich Rubella dagegen wesentlich sicherer in ihrer Entscheidung.
„Aber … “, weiter kommt Jupp nicht und inzwischen sind ihm sowieso die Argumente ausgegangen.
„In den Herzen ist’s warm, still schweigt Kummer und Harm. Sorge des Lebens verhallt
…“ Genau!
Etwa eine Stunde später, so genau kann das keiner sagen, denn wer stoppt schon die Uhr, wenn es im Herzen warm ist, tauchen auch die Katzen wieder auf. Zielstrebig führen sie zuende, was sie begonnen hatten und verteilen äußerst akribisch die verbliebenen Nüsse, Mandarinen und Marzipankartoffeln im Zimmer. Die Schokolade, die noch immer auf dem Boden liegt, verliert dank der Fußbodenheizung langsam ihre Fassung und tropfenweise verteilt sich sündhaft teurer Kanadischer Ahornsirup, auf den Rubella beim Backen besteht, zwischen den Tütchen mit Backpulver und Kokosflocken. Valentin, der nach einem Zwischenstopp in der Dekokiste nun wieder mit Engelshaar dekoriert ist, läuft
durch den klebrigen Sirup und verteilt das nun ebenfalls klebende Haar überall dort, wo er noch nicht war. Jolante verteilt nichts mehr, macht sich aber an der verflüssigten Schokolade zu schaffen.
Etwas ratlos schauen Rubella und Jupp dem Treiben zu, lassen den Blick zwischen der Dekorationskiste, dem Chaos auf dem Boden, ihren vergnügten Haustieren und dem völlig ungeschmückten Zimmer schweifen. Die CD hat längst die letzten Töne gehaucht und trotz des sommerlichen Wetters zieht vor dem Fenster langsam die Dunkelheit auf. Wenigstens darauf ist Verlass.
„Ich habe keine Lust zu schmücken, mir ist noch nicht nach Weihnachten.“ Rubella murrt, während sie langsam ihre verteilten
Kleidungsstücke einsammelt. „Schau Dir doch das Wetter an, das ist ja für Ostern noch zu warm.“
„Und ich habe keine Lust auf ein meckerndes Weib.“ Noch einmal versucht Jupp seine Liebste an sich zu ziehen. Schamlos liegt er noch immer völlig nackt auf dem Sofa, bis sie lachend sein bestes Stück mit einer Nikolausmütze aus der Kiste verdeckt.
„Wenn das so weitergeht, verbringen wir Weihnachten im Chaos“, kichert Rubella, befreit sich aus Jupps Armen und beginnt, auf allen Vieren, Ordnung zu machen.
„Ich weiß, was wir tun!“ Jupp klopft sich begeistert auf die Brust und springt auf. Wieselflink hilft er beim Aufräumen, befreit Valentin von seinen Accessoires, wischt den
klebrigen Boden auf und nimmt Jolante die fast flüssige Schokolade weg.
„Zieh Dich an, wir gehen. Ich muss nur schnell telefonieren.“ Jupp steht schon fix und fertig in der Tür und kramt in der Tasche nach seinem Handy.
Aus dem Nebenzimmer hört Rubella ihn sprechen und ein Lächeln überzieht ihr Gesicht.
„Oma, hast Du schon Plätzchen gebacken? Und Deine Weihnachtsdeko hängt auch schon? Was? Opa braucht nur noch eine halbe Stunde? Wir brauchen auch nicht länger. Bis gleich!“
Jupp gibt ihr einen zärtlichen Kuss, nimmt ihre Hand und schon ist der Anflug von Heimweh verschwunden. Nun weiß sie wieder, warum
sie hier in diesem kleinen Land, mit dem so verkehrten Wetter wohnt und sie jedes Jahr wieder auf Schnee zu Weihnachten verzichten kann.
Als sich genau dreißig Minuten später die Tür zum Haus der Großeltern öffnet, ertönt leise aber sehr gut hörbar „Leise rieselt der Schnee“ aus dem weihnachtlich dekorierten Wohnzimmer.
© Memory (2015)