Ein letztes Wiedersehen
Ihr Blick war sanft und ruhig Ihr gesamtes Wesen sah zerbrechlich aus.
Die Haut wirkte wie schimmerndes Pergament, während ein friedliches Lächeln um ihre Mundwinkel lag.
Ihre Hand hielt den Löffel und bewegte sich für einen Zuschauer im vollkommen entschleunigten Zeitlupentempo.
Vielleicht schaute ja die Mitarbeiterin kurz von ihrer Küchenarbeit auf, um Mutter und Tochter zu sehen.
Ich schaute fasziniert zu, wie meine Mutter, während sie den Löffel zum Grießbrei führte, die begonnene Handbewegung völlig vergaß und stattdessen mit der anderen Hand ganz ganz langsam den kleinen Becher mit den Pillen umstieß, um dann die Kügelchen hin und her zu rollen. Beschäftigung für die Finger.
Als ich vor einer gefühlten Ewigkeit nach einer langen Reise hier im Altenheim angekommen war, freute ich mich riesig, meine Mutter nach knapp sechs Monaten wiederzusehen. Ich fand sie im Rollstuhl am Esstisch des Speiseraums, an welchem noch zwei alte
Damen saßen, aber offensichtlich schon längst mit dem Frühstück fertig waren.
Als ich den Raum betrat und auf meine Mutter zuging, spürte ich, wie eine Welle der Freude, einer großartigen, doch wortlosen, Freude von meiner Mutter zu mir und wieder zurück floss. So etwas hatte ich noch nie erlebt. Langsamen Schrittes ging ich mit ausgebreiteten Armen auf meine Mutter im Rollstuhl zu – und – spürte wieder diese Welle der unbeschreiblichen Freude. Sie floss zwischen uns beiden hin und her. Dann erschien ein leuchtendes Lächeln auf ihrem Gesicht. Hallelujah.
So ein sanftes friedliches und dennoch
strahlendes Lächeln hatte ich noch nirgends gesehen. Weder bei meiner Mutter, noch bei sonst einem Menschen. Es berührte mein Herz auf eine unbeschreibliche Weise. Ich umarmte meine Mutter so sanft und zärtlich, wie ich es vermochte. Ganz vorsichtig hielt ich meine Arme um ihre zerbrechlich wirkenden Schultern.
Meine Mutter, die ihr Leben lang eine tatkräftige Frau mit starken Nerven und voller Begeisterung und Elan war, fühlte sich so schwach, so kraftlos und weich an. Und dennoch drückte sie meinen Arm sanft und zärtlich an ihre Brust. Ein unbeschreibliches Gefühl. Es schien mir, als wenn durch ihre Hand, welche meinen Arm sachte an sich
drückte, die ganze Ewigkeit des liebenden Universums in mich einfloss.
Ich konnte wahrnehmen, dass meine Mutter, die seit Jahren an Demenz erkrankt war und nur noch selten sprach, mich vollends erkannt hatte. Sie wusste ganz genau, dass ihre älteste Tochter neben ihr stand. In der Unendlichkeit der Umarmung floss unser gemeinsam erlebtes Leben vor meinem inneren Auge vorüber. Die tiefe Liebe dieser Umarmung umspülte unser beider Augen mit Tränen einer zuvor nicht gekannten Be-Rührung.
Plötzlich zersplitterte Porzellan auf dem Boden.
Es schepperte laut.
Die Gegenwart trat wieder ein.
Während meine Mutter den Kopf äußerst langsam hob, hatte ich mich zügig aufgerichtet und schaute zur Küchenzeile herüber, an welcher die fleißige Küchenhilfe das Geschirr in die Spülmaschine verräumte. Eine Vase war herunter gefallen und lag nun in tausend Stücken vor ihren Füßen. Sie entschuldigte sich für den Lärm und ärgerte sich darüber, dass sie nun noch mehr Arbeit habe. Dann beeilte sie sich, die Scherben mit dem Kehrblech weg zu
fegen.
Die Verbindung zur Anderswelt hing am seidenen Faden.
Ich erwiderte etwas Freundliches zur Mitarbeiterin des Hauses und zog nun einen Stuhl an den Tisch, rückte ihn ganz nah an meine Mutter im Rollstuhl und nahm neben ihr Platz. Fröhlich ermunterte ich sie, ihren Griesbrei weiter zu essen. Sie ließ sich nicht drängeln. Ich konnte wahrnehmen, dass sich ihr Körper, ihre Arme, ihre Hände nicht zügiger bewegen konnten. Sie folgten einer eigenen Geschwindigkeit, welche jeden Minutenzeiger vollkommen überflüssig machte.
Ich hatte ja Zeit.
Es gab nichts zu tun.
Ich war gekommen, um meine Mutter zu sehen.
Also sah ich ihr zu.
Ihr Blick war sanft und ruhig. Ihr gesamtes Wesen sah zerbrechlich aus.
Die Haut wirkte wie schimmerndes Pergament, während ein friedliches Lächeln um ihre Mundwinkel lag.
Ihre Hand hielt den Löffel und bewegte sich für einen Zuschauer im vollkommen entschleunigten Zeitlupentempo.
Vielleicht schaute ja die Mitarbeitern kurz von ihrer Küchenarbeit auf, um Mutter und Tochter zu
sehen.
Ich legte meine Hand stützend in den Rücken meiner Mutter.
Neben ihr konnte ich fühlen, wie sehr es sie anstrengte, zu sitzen. Sie versuchte ihre Schwäche durch sanftes hin- und her- bewegen des Körpers auszugleichen. Meine kräftige Hand im Rücken ermunterte sie offensichtlich, näher an den Tisch zu rücken und aufrechter zu sitzen. Sie führte mit ihrer Hand den Löffel bis zum Griesbrei und in einer langsamen und direkteren Weise führte sie den Löffel nun auch zum Mund. Irgendwann hatte sie den Löffel Brei verzehrt.
Nach einer langen Weile und dem Verzehr
von vielleicht vier Löffeln Griesbrei wendet die lebenserfahrene alte Frau ihr Gesicht der Tochter zu, welche äußerlich ein fünfundzwanzig Jahre jüngeres Abbild ihrer Selbst ist, und spricht klar und deutlich:
„Ich war schon drüben. Ich bin mal hier und mal dort.“
Augenblicklich ist die Verbindung zur Anderswelt für mich wieder voll präsent.
Tränen rollen mir über das Gesicht.
Ich bin überwältigt, mit welcher Deutlichkeit und Klarheit meine Mutter diese Worte ausgesprochen hat.
Allein ihr Blick und ihre Worte lassen wiederholt die ganze Ewigkeit des liebenden Universums in mich
einfließen.
Ich kann wahrnehmen, dass sie ganz genau weiß, mit wem sie spricht.
Sie weiß, ich verstehe.
Sie weiß, ich spüre.
In mir steigt tiefe Dankbarkeit auf.
Dankbarkeit dafür, dass sie gewartet hat, bis ich endlich kommen konnte.
Sie muss wahrgenommen haben, dass ich es nicht früher einrichten konnte – also hat sie es eingerichtet, mich hier und heute wiedersehen zu können.
Ich spüre unbeschreibliche Freude darüber, dass ich dies hier mit meiner Mutter erleben darf.
Ich fühle mich be-rührt und geehrt, dass sie
mich teilhaben lässt, mich wissen lässt.
Meine Hand streicht ihr den Rücken voll Liebe und Dankbarkeit.
„Wie schön, dass du noch mal zurück kommen konntest. Wie schön, dass du da bist!“
Ich spreche diese Worte leise und eindringlich, aber von Herzen.
Ich küsse meine Mutter ganz vorsichtig und sanft auf die Wange.
Tiefe Liebe. Wertschätzung für das gemeinsame Leben mit all seinen Höhen und Tiefen.
Als in meinem Kopf die neugierige Frage, wie lange sie denn wohl noch bleiben kann, aufstieg, widmete meine Mutter zur Antwort
ihre Aufmerksamkeit dem Griesbrei zu. Sie schaute auf den Löffel in ihrer dünnhäutigen Hand und bewegte diese im Zeitlupentempo Richtung Teller. Sie tut ihr Bestes, um den gefüllten Löffel auf direktem Wege zum Mund zu führen.
Meine Mutter, die so Großartiges in ihrem Leben geleistet hat.
Meine Hand stützte ihren Rücken.
Ihre Hand hielt den Löffel fest.
Bilder unseres gemeinsamen Lebens flogen vor meinem inneren Auge auf und ab. Dazwischen leuchteten Blitzlichter von plötzlichen Erkenntnissen und Antworten auf mannigfaltige bislang unbeantwortete Fragen.
Puzzelteile fügten sich zusammen. Das Bild unseres gemeinsamen Lebens stand unmittelbar vor seiner Fertigstellung. Das Gefühl einer Ahnung von Vollendung. Ich konnte fühlen, dass meine Mutter ihr Leben auf wundervolle Weise voll-bracht hatte.
Ihr Blick war sanft und ruhig. Ihr gesamtes Wesen sah zerbrechlich aus.
Die Haut wirkte wie schimmerndes Pergament, während ein friedliches Lächeln um ihre Mundwinkel lag.
Sie strahlte Liebe aus. Frieden.
Hallelujah.
Zwei Stunden später sitze ich mit meiner Schwester im Cafe und wir trinken gemeinsam einen Latte. Sie und ihr Mann haben sich die letzten Jahre intensiv um meine Mutter gekümmert. Zwischenzeitlich war es für die Beiden sehr anstrengend gewesen. Sie hatten mich und meinen Bruder immer wieder mal über plötzliches Verschwinden meiner Mutter und den Dramen von Suchaktionen informieren müssen. Auch die Arzt- und Krankenhausbesuche grenzten aufgrund der Demenz häufig an mittelgroße Katastrophen. Wenn ich mal zu Besuch war, konnte ich es auch hautnah
miterleben.
Jedenfalls erzähle ich meiner Schwester von meinem Erlebnis mit unserer Mutter und berichte ihr, was sie mir so klar und deutlich gesagt hat.
Zunächst staunte sie mich mit großen Augen ungläubig an.
Doch dann berichtet sie mir unter Tränen, dass sie während des letzten Krankenhausaufenthaltes meiner Mutter das Gefühl hatte, unsere Mutter wäre quasi in einem beängstigen Zustand von Delirium gewesen.
Im Laufe unseres Gespräches kommen wir beide zur Erkenntnis, dass wir nicht wirklich wissen können, wieviel Zeit unsere Mutter uns
noch erhalten bleibt.
Drei Tage später hat sie das Bett nicht mehr verlassen, sie ist nicht mehr aufgestanden.
Eine Woche später hat mein Bruder sie besucht, um sich von ihr persönlich verabschieden zu können.
Auf den Tag genau zwei Wochen nach meinem Besuch ist meine Mutter am Nachmittag im Beisein meiner Schwester ruhig und friedlich eingeschlafen.
Währenddessen saßen mein Bruder und ich im Auto auf dem Weg dorthin.
Als wir ankamen, war die Seele meiner Mutter schon auf der anderen Seite, in der
Anderswelt. Wir drei Kinder standen an ihrem zerbrechlichen Körper und schenkten ihr zum Abschied glitzernde Tränen der Liebe, der Dankbarkeit und der Wertschätzung für ihr großartiges Erdenleben.
Anmerkung:
Mein innigster Dank gilt meiner Schwester und ihrer Familie dafür, dass sie meine Mutter die letzten Jahre ihres Lebens intensiv betreut haben.
Meine Hochachtung gilt meiner Schwester, die meiner Mutter die Hand hielt, während ihre Seele den Körper verließ und in die Anderswelt ging.
Meinem Bruder bin ich dankbar dafür, dass er als Geistlicher die Beerdigungsfeier so liebevoll organisiert und durchgeführt hat.