leben am friedhof
Ich wuchs in der Nähe eines Friedhofs auf und mit einem Steinmetz in der Familie, war ich von klein auf viel mit dem Tod konfrontiert.
Das klingt düsterer als es eigentlich war.
Die ständige Präsenz des Friedhofs war etwas so Selbstverständliches und Fundamentales in meinem Leben, dass ich erst im frühen Erwachsenenalter begann meine Kindheit in einem anderen Licht zu sehen.
Was die Erwachsenen und Außenstehende in meiner Umgebung mit etwas sorgenvollen Blicken bedacht haben, wenn meine Kindheitsfreunde und ich
nach der Schule zum Friedhof gingen um am Spielplatz, der in der Nähe lag, zu spielen, Tiere zu beobachten oder zwischen den Grabsteinen verstecken zu spielen, war für uns etwas völlig Normales. Der Gedanke unsere Freizeit nicht am Friedhof oder im Grabsteingeschäft meines Onkels zu verbringen, wäre nahezu absurd gewesen und gekommen wäre er uns ohnehin nicht.
Wenn ich als Kind an den Friedhof dachte, dann kamen mir nur schöne Bilder. Bilder von dichten, großen Bäumen die ihre Schatten auf Sitzbänke, Kies- und Steinwege warfen und deren
Äste im Herbst voller Eichhörnchen waren, die wir Kinder immer mit Nüssen fütterten.
Es war ein Ort an dem die Luft klar war, der Himmel weit und das Gras so grün.
Ich dachte an die große Trauerweide die im Zentrum des Friedhofs steht und daran wie ihre Zweige im Wind durch die Kapelle wehen, neben der sie steht.
Ich denke an die Rehe und Feldhamster die in dieser Welt aus grauen Steinen und geflüsterten Gebeten leben und die einem manchmal über den Weg laufen.
Es ist schon ein wunderlicher Ort, der Friedhof. An manchen Sommertagen leuchtet er in fröhlichen Farben, das
Gras und der Wind duften und wenn man dabei so durch die Alleen schlendert, kommt einem die Heiterkeit dieses Ortes irgendwie nicht richtig vor. Manchmal wirkt er wie ein Traum, wie eine ferne Welt. Oft hatte ich schon erlebt wie Familien, die die Gräber ihrer Verstorbenen besuchten, auf einmal aufgehalten wurden von einem Reh das mitten auf dem Weg vor ihnen stand.
Man hält den Atem an, man ist still. Vielleicht blicken einen die brauen Rehaugen an. Es tritt ein kurzer Moment des Weltenstillstands ein und man bewundert dieses Tier, das vor Menschen kaum noch Angst hat und das gemütlich dahintrottet. Und wenn es dann weg ist,
ist man zuerst etwas perplex doch dann fühlt man sich seltsam erfrischt von dieser Begegnung.
Die Bäume atmen und die Füße ziehen weiter.
Wo manche der Stadtbewohner den Friedhof zu meiden scheinen und seine Existenz als unterschwelligen Gedanken im Hinterkopf behalten, kam es mir schon immer so vor als wäre der Friedhof das Herz dieser Stadt.
Ein Herz das sehr wohl schlägt und pumpt.
Für mich und meine Freunde war er ein Ort auf dem allerhand faszinierende Tiere lebten, von denen wir Fotos
machten und sie in unseren Zimmern an die Wände hängten, und ein Ort an dem Leute zusammen kamen.
Schicke Schuhe auf Gräbern, verlegen scharrende Füße. Familien die sich an kühlen Tagen auf Bänken zusammendrängten. Sanfte Wörter, sanftes Lachen. Vielleicht begegnete man sich zufällig am Grab der Großeltern und dann redete man darüber wie es dem Anderen so erginge, was die Kinder machten oder man redete über Politik und Mietkosten.
Stets begleitet vom tröstlichen Rascheln der Blumensträuße.
Alles in Allem war der Friedhof für mich kein düsterer Ort, als Kinderspielplatz
sah ich ihn aber eben so wenig. Auch wenn wir Kinder beim Spielen manchmal übermütig wurden, wussten wir doch dass wir darauf achten sollten unsere Stimmen und unser Lachen gesenkt zu halten und nicht über die Gräber zu laufen. Dass wir die Leute dort höflich grüßten und nicht die Rehe verschrecken sollten.
Und nun, Jahre später, stelle ich mir Großeltern vor, die bei den Gräbern ihrer Geliebten stehen und die sich für einen Moment an dem Klang von Kinderlachen in der Ferne erfreuen.
Ich erinnere mich an Sommertage an denen wir zu Mittag bei meinem Onkel in
seinem Grabsteingeschäft waren, plauderten, Schinken- und Käsebrote mit Tomaten und Paprika aßen und daraufhin zum See schwimmen fuhren, der nicht weit weg liegt.
An verschneite Winter die so kalt waren dass im Frühjahr, wenn der Schnee schmolz, die Blumen auf den Gräbern perfekt erhalten geblieben waren und aussahen als hätte man sie erst vor einem Tag dahingelegt.
Mein ganzes Leben hat sich größtenteils hier abgespielt. Wenn ich an irgendeinen Punkt in meinem Leben zurückschaue, ist der Friedhof stets da. Eine Präsenz, eine Erscheinung vor meinem inneren Auge
und wie das Gefühl eines tiefen Sees.
Ich besuche den Friedhof auch heute noch. So oft es eben geht neben dem Studium. Dabei nehme ich mir immer Zeit bei meinem Onkel vorbeizuschauen, der nach wie vor sein Grabstein Geschäft führt und der sich in all den Jahren kaum verändert hat.
Er ist ein warmherziger und geselliger Mann, der gerne mal einen Besucher auf einen Kaffee einlädt und der regelmäßig bei den Blumenverkäufern auf der anderen Straßenseite vorbeischaut, einfach nur um zu plauschen. Er war schon immer etwas rund aber kräftig gebaut, mit hellblauen Augen die ganz faltig werden wenn er lächelt - und das
tut er sehr oft - und kurz geschnittenen dunklen Haaren. Ich habe ihn in meinem ganzen Leben bisher noch kein einziges Mal eine grimmige Miene ziehen sehen. Seine Art mit Menschen umzugehen habe ich schon als Kind bewundert und mir zu Herzen genommen.
Herzlich, respektvoll und freundlich.
Mein Onkel hatte schon immer ein sehr enges Verhältnis zu meiner Mutter, seiner Schwester. Der frühe Tod ihrer Eltern hatte die Beiden eng zusammengeschweißt und da sie sonst keine nahestehenden Verwandten hatten und unsere Familie ohnehin sehr klein war, war es den Beiden wichtig die Bande zu pflegen und zusammenzuhalten.
Unsere Familie setzt sich zusammen aus meinen Eltern, meinem Onkel, meiner Tante väterlicherseits und ihren beiden Kindern. Jedes Wochenende treffen wir uns alle bei meinem Onkel, schon so lange ich mich erinnern kann. Er besitzt ein kleines Haus, das direkt an sein Geschäft angebaut ist, in dem er alleine lebt und dessen Tür er immer offen zu halten scheint für uns und für spontane Besucher.
Manchmal sind meine Erinnerungen an die Wochenenden in seinem Haus so hell und blendend, dass sie mir wie ein Fiebertraum erscheinen.
Das Eierschalengelb der Wände, der Duft
von Essen der zusammen mit dem kehligen Lachen meines Vaters aus der Küche zu uns herüber dringt während meine Cousins und ich auf dem alten Holztisch im Wohnzimmer sitzen und in dicken Ausmalbüchern zeichnen. Ich erinnere mich an ernste sowie ausgelassene Gespräche die bis tief in die Nacht hinein gingen, geprägt von einer warmen und seltsam alten Farbe. Ich vermisse diese Tage, diese Erinnerungen an alte Zeiten. Zwar kommt meine Familie auch heute noch im Haus meines Onkels zusammen und wir scherzen, reden über die Dinge die uns beschäftigen und diskutieren auch noch genauso wie früher. Aber aus
irgendeinem Grund trauere ich der Art nach wie ich diesen Alltag und dieses Familienleben als Kind empfunden und in mich aufgesaugt habe.
Was hat sich daran verändert? Oder habe nur ich mich verändert?
Auch wenn ich fürsorglich erzogen wurde, hat mich das Leben am Friedhof mit einer gewissen Melancholie geprägt. Eine Melancholie die sich gar nicht in Worte fassen lässt.
Ich schaue auf den Friedhof hinaus und betrachte dabei meine Kindheit, meine Familie, mein Tun und Denken und verspüre ein Wärmegefühl, das bestimmt nicht jeder verstehen kann.
Aber so hell meine Kindheit und Jugend
vor meinem inneren Auge erstrahlt, manchmal war der Friedhof für mich nichts weiter als das was er war.
Nämlich ein Ort der Trauer.
Vor zwei Jahren suchte ich regelmäßig den Kinderfriedhof auf und brachte Stunden damit zu zwischen den niedrigen Gräbern hin und her zu spazieren und meinen Gedanken nachzugehen. Zu der Zeit war ich gerade aus einer schlechten Beziehung herausgekommen, das Studium hatte mich in die Stadt versetzt und es fiel mir schwer mit der fremden Umgebung und den vielen neuen Menschen, die mir alle so schrecklich
fern zu sein schienen, klarzukommen. Irgendeine masochistische Dunkelheit in mir hatte mich dazu bewegt den Teil des Friedhofs mit den Kindergräben aufzusuchen.
Kleine, zarte Grabsteine. Kleine Namen und kleine Buchstaben. Manche Wind und Wetter schon seit vielen, vielen Jahren ausgesetzt, manche ganz neu.
Teddybären, Blumensträuße und Spielzeug scharren sich um die ansonsten etwas kargen Gräber. Farbenfrohe Papierwindräder die sich im Wind drehen.
Ich zwang mich hinzusehen.
Totgeburten, Unfälle, Krankheiten. 1920, 1976,
2008.
Es war makaber, wie sehr mich das Hinsehen zu reinigen schien. Zu reinigen von meinen schweren, trüben Gedanken.
Und wenn ich dann einige Stunden später das Geschäft meines Onkels aufsuchte, dann machte er uns Tee und wir setzten uns an den alten Holztisch im Wohnzimmer und er sah mich mit seinen tröstenden, blauen Augen an und wir redeten. Und vielleicht steckte irgendwann ein alter Freund den Kopf zur Tür herein und dann wurde auch ihm ein Tee gemacht und irgendwann war es Abend und ich saß in einer kleinen, fröhlich plaudernden Runde bei einer warmen Mahlzeit und ich musste
feststellen, dass mein Herz wieder leicht war.