Wenn du in der Gosse gelandet bist, ist es dir klar...
Am Morgen des 18. Juni 2010 lag ich mit zwei gebrochenen Beinen im Straßengraben und starrte geradewegs in das grelle Licht der Sonne.
"Viel zu heiß..."
Ich erinnere mich, dass ich das dachte. Und mich gleichzeitig über die Lebhaftigkeit meines Gehirns wunderte.
Zum damaligen Zeitpunkt war ich mir sogar sicher, dass es unversehrt war, mein Gehirn.
"Viel zu heiß für diesen Morgen, für diese Uhrzeit.."
Was mich jedoch noch mehr wunderte, war die Gefühllosigkeit des Gedankens.
Etwas fehlte. Die Rückkopplung dessen, was ansonsten aus meinem Körper kam und meinem Gehirn zur Übersetzung in Auftrag gegeben wurde. Mein Körper schwebte im gefühllosen Raum, während mein Hirn zur Höchstleistung reifte.
Ein undefinierbarer Zustand.
Vielleicht der Zustand, den man mit Drogen erreicht. Doch da ich nie welche genommen hatte, war er mir fremd. Bis zu diesem Zeitpunkt. Doch ab jetzt sollte er zum Dauerzustand werden. Das jedoch wusste mein Gehirn noch nicht.
Es war gerade mal 8.53 Uhr und ich war auf dem Weg zur Arbeit gewesen. Doch statt wie meine Kollegen nun den ersten Becher Kaffee aus dem Automaten zu
lassen, den feinherben Geruch schon in der Nase, die heiße Papphülse zwischen den Fingern meiner rechten Hand, lag diese nun auf dem schmutzigen Bordstein der Alsterkrugchaussee im Hamburger Norden.
Ich hatte die Abkürzung nehmen, die viel befahrene Straße ohne Ampel überqueren wollen. Kein Hindernis für mich. Glänzende Karosserien in der Morgensonne. Ihr Fahrtwind in meinem Gesicht. Die Lücke dazwischen groß genug. Dachte ich.
Und so hatte ich sie betreten. Die Straße.
Wo genau dieser ohrenbetäubende Schlag dann hergekommen war, wusste ich nicht mehr. Aus dem Nichts. Wie ich
vermutete.
Er nahm mich mit. Mit einer Bestimmtheit, die keine Widerrede zuließ. Im gnadenlosen Spiel schleuderte er meinen Körper herum, auf und ab, um mich schließlich, wie ein Stück altes, verschimmeltes Brot herauszuwürgen, auszuspucken und da liegen zu lassen. Im Graben.
"Links-rechts-links."
Das war die Regel.
"Mein-Weg-zur-Schule-ist-nicht-schwer-dideldideldumm..."
Rolf Zuckowski und seine Freunde.
Mein erster Konzertbesuch. Vor gerade mal dreißig Jahren. In der Turnhalle der Grundschule Ohkamp. Sie war keine fünf
Kilometer von der Stelle entfernt, wo ich nun mit aufgeschlagenem Hinterkopf lag.
Keine Wunder also, dass meine Gedanken so weit und klar herausbrachen, ins grelle Sonnenlicht, in die Unendlichkeit des Universums hinein. Schließlich war der Knochen, welcher meine empfindliche Hirnmasse schützte, nun leicht gebogen, verkrümmt und ließ eine Spalte entstehen. Wie beim Urkontinent Pangäa, kurz nach einem der ersten Erdbeben. Die nach und nach dafür sorgen sollten, dass sich die Erdmasse weitete, spaltete und die verschiedenen Erdteile entstehen ließen.
"Plattententonik im Zeitraffer."
Vor kurzem erst hatte ich meinem Sohn
das You-Tube-Video gezeigt. Mit vor tiefer Ehrfurcht gerunzelter Stirn hatte er davorgesessen und beobachtet, wie sich die Umrisse kalaidoskopartig verschoben, aufteilten und zu neuen Mustern formierten.
So ungefähr musste es mit meinem Gehirn geschehen sein, bei diesem Unfall, der unser Schicksal von nun an bestimmte. Der binnen kürzester Zeit meine „wohlsituierte Familie“ auf meine am Existenzminimum nagende alleinerziehende Ehefrau reduzierte. Die von nun an verzweifelt versuchte, das Glück für ihren Elfjährigen wiederherzustellen. Und die täglich ihren an Schläuchen angeschlossenen Mann
besuchte. Mich. Den Pflegefall.
"Die Autos sind stärker als du!"
Das hatte ich meinem Sohn immer wieder gesagt, damals, als die Welt nicht groß genug sein konnte für ihn.
Kluge Worte, die mir nie wieder das zurückgeben werden, was ich einmal besaß.
"Du musst dich an die Regeln halten. Ansonsten hast du auf der Straße nix zu suchen."
Sie hat meiner kleinen Familie das Leben gekostet. Die Straße. Mit ihren strengen Regeln.
Links – Rechts -Links.
Ein einziges Mal hatte ich es vergessen. Nochmal nach links zu
sehen.
Ein einziges Mal hatte ich die Regel durchbrechen wollen.
Doch sie war felsenfest und unbeweglich.
Wie mein verhasster Körper, der sich von nun an nicht mehr aus seiner gekrümmten Haltung begeben wollte. Der sich gnomhaft nach unten verzog und mich nie wieder aufblicken ließ.
In die warmen Augen meiner Frau.
Nach über sieben Jahren hat sie es nun aufgegeben, mit mir zu sprechen. Denn aus meinem Mund kommt nur noch sinnloses Gelalle.
In das lebhafte Gesicht meines Sohnes.
Seit einem Jahr kommt er nicht mehr zu
Besuch. Er hat den Kontakt abgebrochen. Zu mir. Seinem Vater. Und zu ihr. Seiner Mutter.
Sie haben es gesagt, die Schwestern, die jeden Tag durch mein abgedunkeltes Zimmer huschen. Obwohl sie wissen, dass mein übereifriges Gehirn alles registriert, vergessen sie es immer wieder. Dass ich es mitbekomme.
Mein Sohn verteilt jetzt die Drogen, die ich nie nahm.
In der Gosse.
Mischt dort mit.
Um ihre Regeln zu bestimmen.
Die Gesetze der Straße.