Kurzgeschichte
Hochzeitsglocken

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"Hochzeitsglocken"
Veröffentlicht am 30. Juli 2018, 14 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Über den Autor:

Das Schreiben begleitet mich seit ich es gelernt habe. Mein erstes Tagebuch bekam ich mit 8 Jahren und kritzelte es mit Begeisterung voll! Egal, wo ich war, ohne Stift und Notizbuch ging es nicht. Das hat sich bis heute nicht geändert. In meinen Geschichten schaue ich gerne hinter die Fassaden. Mich interessiert es, was die Menschen tief in ihrem Inneren bewegt! Das versuche ich zu Papier zu bringen.
Hochzeitsglocken

Hochzeitsglocken

Sie hatte neben dem Einen auch das Andere. Sie hatte Herkunft. Und sie hatte Verstand. Als der schmucke Diplomat Angelina den Hof machte, hauchte sie ihm ihr Ja entgegen. Er war das, was man eine gute Verbindung nannte. Natürlich war es Liebe. Die Liebe, die sie schon immer zu geben bereit gewesen war. Lange hatte sie sich darauf vorbereitet und die Sehnsucht zerrte an ihrem Herzen. Die Sehnsucht nach einem neuen Leben. Die Hochzeitsglocken läuteten abwechselnd dunkle und helle Intervalle in den Sommerhimmel hinein und die kleine Kapelle quoll über vor Neugierigen. Keiner wollte sich

das Fest entgehen lassen. Der Tag roch nach guter Ernte und stinkendem Verrat. Angelina war bildhübsch und kam aus gutem Hause. Mit dem herzförmigen Mund und den hohen Wangenknochen, dem dezenten aber doch weiblichen Schwung ihrer Hüften zog sie die Aufmerksamkeit aller auf sich. Doch jeder im Ort wusste Bescheid. Dass ihr Vater – der ostpreußische Junker Rodenbach - sich damals vergangen hatte an einem der jungen Dinger da draußen auf dem Feld. Dass ihm das Bauernmädel später das Balg einfach vor die Tür gelegt hatte - was es mit seinem eigenen Leben hatte bezahlen müssen. Und dass das Kind dennoch sein Glück fand, in dem Augenblick nämlich, als Rodenbachs Frau an die Tür kam und eine ungeahnte

Mutterliebe für das kleine, schwache Bündel entdeckte. Nachdem sie doch schon so lange und vergebens auf den eigenen Nachwuchs gewartet hatte. Das Dorf wusste und schwieg. Aus Angst vor seinen Verleumdungen. Denn als Besitzer der alten Hofmark bestimmte August von Rodenbach über Recht und Unrecht, und hier im Mecklenburgischen reichte sein selbstgerechter Arm des Gesetzes weit, viel zu weit. Niemand hätte es sich jemals getraut aufzubegehren. Und so weidete man sich an dem jungen Glück, an der Vermählung Angelinas mit dem Diplomatensohn aus der Stadt. Und man hoffte. Darauf, dass der Bräutigam sie bald mitnehmen würde. So dass hier, an Ort und

Stelle, das Vergessen eintreten und Milde und Gerechtigkeit wieder Einzug halten könne. Vielleicht, so munkelte man, würde der alte Rodenbach sich sogar gänzlich zurückziehen. Wenn Angelina erst einmal weit weg wäre, gäbe es keinen Grund mehr, irgendjemanden im Dorf zum Schweigen zu verdammen. Angelina jedoch vergaß nicht. Sie war mit den ständig weggedrehten Köpfen großgeworden, die ihr nie ins Gesicht sahen und die hinter ihrem Rücken so viele Geschichten verbreiteten. So hatte sie sich über Jahre hinweg das Bild ihrer Herkunft zusammengesetzt. Aus den zahlreichen aberwitzigen Mosaiksteinchen dörflicher Redseligkeiten.

Die Trockenheit in jenem Sommer hatte sich bis in den Herbst hineingezogen. Flüsse und Bäche waren zu schmalen Rinnsalen verkümmert und spuckten nur noch verdorrte Fische aus. Angelina sah den Dunkelhaarigen mit dem feingeschnittenen Gesicht schon von Weitem. Und sie wusste, was sie zu tun hatte, noch bevor er sich als Sohn des Diplomaten von Lukowitz vorstellte. Über die Liebe hatte sie weniger gehört als gelesen. Und so glich das Gefühl, das sie daraufhin für ihr Herz entwarf, einer schlechten Kopie jener romantischen Skizzen, die damals so durch die Köpfe der bürgerlichen Gesellschaft geisterten. Ihren Eltern gefiel es ganz und gar nicht, mit

welcher Literatur sich ihre Tochter beschäftigte. Doch in diesem Fall kam es ihren eigenen Ambitionen zu Gute. Angelina traf mit ihren Gefühlen absolut ins Schwarze. Der Schritt ins Eheleben war leicht zu vollziehen. Dort, so hoffte ein Teil von ihr mit brennender Dringlichkeit, würde sie erst mal sicher sein. Vor den abschätzigen Blicken der Dorfbevölkerung. Und vor dem rastlosen Zucken der Augenlider ihrer Mutter, das jedes Mal auftrat, wenn Angelina sie ansah. Tief und verzweifelt. Weil sie doch nur die Antwort wollte. Die Antwort auf die Frage nach ihrer Herkunft. Die Antwort auf eine Frage, die sie nie stellen durfte. Keine drei Wochen nach der prunkvollen Hochzeit verstarb Angelinas Mutter, plötzlich

und unerwartet. Die Trauerfeier war nur halb so gut besucht wie das Fest der Vermählung. Wortlos stand Angelina am Grab und zählte die dumpfen Schläge, welche die Erdklumpen auf dem Sargdeckel hinterließen. Sie wartete auf die Trauer, die nicht kommen wollte. Die wenigen Gäste waren bald gegangen. Draußen tropfte der langerwartete Regen vom Himmel und tunkte die ebene Landschaft in ein helles Grau. Endlich konnte sich Angelina auf ihr Zimmer zurückziehen. Alleine, denn Ehemann und Vater saßen noch unten in der Bibliothek. Mit zittrigen Fingern öffnete sie den Brief – den einzigen, den sie je von ihrer Mutter erhalten hatte. Er war an sie gerichtet. Nur an

sie. Es waren nur zwei Sätze. Doch sie genügten. „Nimm´ meinen Schmuck. Bring´ dich in Sicherheit vor ihm.“ Sie war erstaunt, doch nicht schockiert. Erstaunt darüber, dass sie mit ihren Vermutungen so recht gehabt hatte. Angelina öffnete ihren Kleiderschrank, nahm die besten Stücke heraus, auch Hüte und Schuhe, und verstaute sie in Reisekoffern und Hutschachteln. Dann schlich sie vorsichtig in das Schlafgemach ihrer Eltern. Auf dem kurzen Stück zwischen ihrem und dem Zimmer ihrer Eltern vernahm sie von unten den monotonen Redestrom ihres Ehegatten. Sicher ging es gerade mal wieder über die

Bündnispolitik des Eisernen Kanzlers. Erstaunlich, dachte sie. Wie wenig wert war doch das Lebens eines weiblichen Familienmitgliedes. Auch wenn sie selbst kaum Zugang zu ihrer Mutter gefunden hatte, regte sich in diesem Moment der Hauch eines Schmerzes in ihrer Brust. Schnell öffnete sie die Tür und eilte zur Schminkkommode ihrer Mutter. Als kleines Kind hatte sie oft zugesehen, wie sie sich die perlenbesetzten Medaillons um den dünnen Hals gelegt hatte. Energisch schob sie die Erinnerung zur Seite und beeilte sich, die Ketten, Armbänder und Ohrringe in dem Beutel zu verstauen, den sie unter ihrem Rock befestigt hatte. Anschließend ging sie hinunter, murmelte den beiden Männern im Vorbeigehen etwas von

einem kleinen Spaziergang zu und begab sich in die Stallungen. Theo, der Stallknecht würde schweigen. Das wusste sie. Es würde ihm eine Genugtuung sein, ihr bei der Flucht zu helfen. Es bedurfte nicht vieler Worte, ihm ihr Vorhaben mitzuteilen. Sie vertraute ihm, schon immer. Letzten Endes war sie eben doch eine von ihnen. Er besorgte die Fahrkarte. Sie würde schon vor dem Morgengrauen aufbrechen. Der Zug würde sie weit hinunter in den Süden bringen. Nur ein kleines Stückchen müsste sie sich durchschlagen, zwischen Innsbruck und Bozen. Dort war es zu bergig und zerklüftet für die glänzenden Schienen mit den riesigen,

eisernen Ungetümen darauf, die Angelina schon immer fasziniert hatten. Sie würde auf die Freundlichkeit von Esel- und Ochsenkarrenbesitzern zählen müssen, um die Distanz zum nächsten Bahnhof zu überbrücken. Dann endlich wäre sie dort. Im Land ihrer Träume. Wo die Sonne schien und die Oliven reiften. Theo hatte ihr davon erzählt. Dort würde sie ihr neues Leben beginnen. Zum zweiten Male. Und sie war fest entschlossen, sich dieses nie wieder nehmen zu lassen….

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Hörbuch

Über den Autor

RachelWonder
Das Schreiben begleitet mich seit ich es gelernt habe. Mein erstes Tagebuch bekam ich mit 8 Jahren und kritzelte es mit Begeisterung voll! Egal, wo ich war, ohne Stift und Notizbuch ging es nicht. Das hat sich bis heute nicht geändert. In meinen Geschichten schaue ich gerne hinter die Fassaden. Mich interessiert es, was die Menschen tief in ihrem Inneren bewegt! Das versuche ich zu Papier zu bringen.

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Eleonore Du hast einen sehr guten Schreibstil, gefällt mir.

Lieben Gruß
Eleonore
Vor langer Zeit - Antworten
Memory 
Wieder klasse geschrieben.
Manchmal ist die Flucht nach vorn der einzige Weg zum Rückzug.
Lieben Gruß
Sabine
Vor langer Zeit - Antworten
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