Haus am Deich
Er steht hoch oben auf dem Deich,
unter ihm liegt ruhig Neptuns Reich,
am Horizont geht grad die Sonne auf,
begrüßt des jungen Tages Lauf,
weit entschweifen seine Gedanken,
nichts hält sie auf, ´s gibt keine Schranken.
Heut kommt sie nun zu ihm zurück,
heut bringt das Schiff zurück sein Glück,
viel zu lange war er allein,
konnt’ ohne sie nicht glücklich sein,
vor Jahren hat sie ihn verlassen,
bis heute konnte er’s nicht fassen.
Sie hatten sich ihr Herz versprochen,
nur sie hat diesen Schwur gebrochen,
das Deichhaus war ihr viel zu
klein,
das Dorf zu eng, zu alt das Gestein,
so jung war sie und voller Leben,
Freiheit war damals ihr Bestreben.
Es trieb sie in ein fernes Land,
an eines andern Mannes Hand.
Er blieb in seinem Haus am Deich,
in dem ihm wohl vertrauten Reich,
nie hätt er’s übers Herz gebracht,
es reicht’ auch nicht der Liebe Macht,
in einem fremden Land zu leben,
das Haus am Deiche aufzugeben.
Er braucht den Blick weit übers Watt,
wird diesen Anblick niemals satt,
die rauhe Luft, das weite Land,
die Felder aus seines Vaters
Hand.
So hat auf Liebe er verzichtet,
fühlt’ sich in Treue stets verpflichtet.
Die Zeit unter seinen Händen zerrann,
nun ist er schon ein alter Mann.
Heut endlich kommt seine Liebe heim,
sie war’s für ihn, nur sie allein,
vor Wochen schrieb sie einen Brief,
dass laut die Heimat nach ihr rief,
ihr altes Dorf vermisse sie sehr,
drum käme bald sie über das Meer.
Nie hätte sie ihr Glück gefunden,
es wären nie verheilt die Wunden,
der Treuebruch, den sie begangen,
hätt’ all die Jahr’ ihr Herz gefangen.
Nur eine Sehnsucht wär’
geblieben,
denn immer noch würd’ sie ihn lieben,
sie wäre alt und an Zeit nicht mehr reich,
möcht’ leben mit ihm im Haus am Deich.
© Eleonore Görges