Vorwort
Die Kurzgeschichte von Bleistift („Zeit ist Geld“) hat mich nicht mehr losgelassen.
Darum habe ich die Geschichte von Lena aufgeschrieben.
Sie ist nicht meiner Familie, aber sie ist real passiert. Ich habe auf viele medizinische und familiäre Details verzichtet und selbstverständlich die Namen geändert.
Lena
„Mama, wir verlieren sie, stimmts?“
Mein Herz scheint stehen zu bleiben. So kommt es mir jedenfalls vor. Ohne zu atmen schaue ich in die Augen meines sechsjährigen Sohnes Simon. Augen, die in den letzten Monaten furchtbar erwachsen geworden sind.
„Nein! Krümel, wir verlieren sie nicht!“, reagiere ich mit viel zu hoher Stimme, weil ich weiß, dass meine Antwort wahrscheinlich eine Lüge ist. „Wie kommst du darauf?“
Ich funktioniere nur noch und hocke mich zu ihm auf den Boden, möchte auf Augenhöhe mit ihm reden, obwohl ich am liebsten nur weinen möchte.
„Oma hat gesagt, wenn der Herrgott uns nicht
hilft, werden wir sie verlieren.“ Seufzend lehnt er sich an mich und ich ziehe ihn in eine enge Umarmung. Was soll ich ihm antworten, wenn ich selbst keine Antwort habe?
Es ist schrecklich, für uns alle und die Situation wird nicht besser, als Ben, mein Mann, leise zur Tür hereinkommt, einen Blick auf uns wirft und nur wortlos mit dem Kopf schüttelt. Er war die letzten sechs Stunden bei Lena und hat offensichtlich keine guten Nachrichten. Im Beisein unseres Sohnes möchte ich nicht nachfragen, eigentlich möchte ich gar nicht fragen, Bens Mimik sagt alles.
Inzwischen kniet auch er auf dem Boden und nimmt uns beide wortlos in den Arm.
„Simon, der liebe Gott kann Lena nicht helfen,
auch wenn Oma daran glaubt. Lena kann nur von einem Doktor geholfen werden, aber natürlich müssen wir alle ganz fest daran glauben, dass sie wieder gesund wird.“
Ich bin Ben dankbar, dass er wieder einmal die richtigen Worte findet oder es zumindest versucht.
Als sich erneut die Tür öffnet, schlurft Annika mit müden Augen herein. Im Schlepptau ihren großen Teddy, ist sie wie so oft in den letzten Wochen allein nach dem Mittagsschlaf aufgestanden.
„Kommt Lena nach Hause? Ich habe von ihr geträumt! Ich will, dass sie wieder nach Hause kommt!“ Tränen laufen über ihre vom Schlaf geröteteten Wangen. Meine Motte! Der Anblick ist zu viel für meine strapazierten
Nerven. Nur mühsam unterdrücke ich meine eigenen Tränen und kämpfe gegen den übergroßen Kloß in meinem Hals an, der mir die Luft zum Atmen nimmt. Auch Ben sind die Argumente verloren gegangen und so nehmen wir uns einfach alle in den Arm, halten uns und hängen jeder unseren eigenen Gedanken nach, die sich wohl irgendwie doch alle gleichen.
Wie schön wäre es, wenn auch Lena hier bei uns wäre. Dann wären wir komplett, heil, eine ganze Familie. Einer von uns würde ganz sicher jetzt kichern, der nächste würde einfallen und am Ende würden wir alle lachend auf dem Teppich liegen. Sorglos.
Sorglos sind wir seit nunmehr drei Monaten
nicht mehr.
Alles fing so unkompliziert an, bevor sich die Ereignisse plötzlich überschlugen und aus unserer lebhaften, fröhlichen und phantasievollen zehnjährigen Tochter ein todkrankes Kind wurde. Todkrank, weil es wirklich möglich sein kann, dass wir sie verlieren. Medizinisch betrachtet liegen ihre Chancen zu überleben laut der behandelnden Ärzte im Moment noch bei fünf Prozent und ich weiß nicht, wie ich mit dieser Zahl umgehen soll. Ich ertrage es nicht, schwebe in einer Zwischenwelt von Hoffnung und Resignation.
Wie konnte es dazu kommen? Warum gerade unser Kind? Warum ist es in dieser modernen Zeit so unsagbar schwierig, ihr zu helfen? Wir
können zum Mond fliegen, Computer können unsere Rollläden schließen und meinen Kühlschrank kann ich online füllen. Warum kann niemand unserem Kind helfen?
Die Beschwerden, die sie vor Monaten hatte, wurden nicht ernst genommen, von uns nicht und anfangs auch nicht von unserem Kinderarzt. Welches zehnjährige Mädchen leidet nicht ab und zu unter Bauchschmerzen, Blässe, psychischen Veränderungen? Genauer wurde nicht geschaut, Pubertät war die Diagnose, an die wir alle glaubten. Unsere Erstgeborene wurde wohl erwachsen. Welch Irrglaube!
Inzwischen setzt mein Herz regelmäßig aus, wenn ich daran denke, dass sie vielleicht nie erwachsen werden wird.
Plötzlich veränderte sich die Situation. Lena zeigte fast von einem Tag auf den anderen Zeichen einer ernsthaften Erkrankung. Ihr Bauch schwoll an, die Haut verfärbte sich auf einmal rötlich gelb und rasend schnell verließen sie jegliche Kraft und Energie.
Nach einem erneuten Arztbesuch lag unser Mädchen binnen weniger Stunden in einem Intensiv-Krankenhausbett und rings um sie herum standen Ärzte mit sehr ernsten Gesichtern.
Der Albtraum begann!
„Herr und Frau Siewert, die Situation ist sehr sehr tragisch.“ Der Chefarzt redete weiter, erklärte und nannte eine Diagnose, aber zu der Zeit hörte ich schon nicht mehr zu.
Wir waren in einem anderen Universum
gelandet. Schmerz, Angst, Schlaflosigkeit und noch viel mehr Hilflosigkeit bestimmten ab diesem Tag unser Leben. Ein Leben, das plötzlich am seidenen Faden hing.
Ben war es, der mir später erklärte, dass Lena unter Morbus Wilsons litt, einer vererbten Krankheit, von der in unserer Familie bis dahin noch nie jemand etwas gehört hatte.
Zu der Zeit war die Krankheit schon soweit fortgeschritten, dass Lena unter einer lebensbedrohlichen Leberzirrhose litt. Nur eine neue Leber, eine Spenderleber konnte ihr Leben retten.
Seit diesem Tag laufen die Wochen wie ein schlechter Film ab. Lena liegt in einer Universitätsklinik, die sich einhundert
Kilometer von unserer einst heilen Welt entfernt befindet. Auf Grund der Schwere der Situation bekamen wir eine Elternwohnung auf dem Klinikgelände.
Um Simon und Annika kümmern sich meine Eltern, die kommentarlos in unsere Wohnung daheim einzogen. Wenigstens die beiden Kinder sollten ihren Alltag halbwegs behalten. An den Wochenenden holen wir sie zu uns oder fahren abwechselnd nach Hause, um Oma und Opa zu entlasten. Ben wurde großzügig unbefristet von der Arbeit frei gestellt, ich legte meine Selbständigkeit auf Eis.
So können wir ständig bei Lena sein. Gemeinsam mit ihr warten und hoffen wir, dass eine Spenderleber für sie vom Himmel
fällt.
Uns war die Bedeutung klar, was es heißt, auf ein Spenderorgan zu warten. Ein anderer Mensch muss sterben und zudem zu Lebzeiten bereit gewesen sein, sein Organ zu spenden. Bei all der Hoffnung, die unserem eigenen Kind gilt, erzeugt dieses Wissen auch ein sehr mulmiges Gefühl.
So oft hatten wir über dieses Thema gesprochen. Nie jedoch mit einem konkreten Ergebnis, so, wie es wohl auch Millionen andere Menschen tun.
Nun sind wir selbst betroffen und die ganze Problematik legt sich wie eine Fessel um jeden unserer Gedanken.
Lena, die anfangs erstaunlich gut mit der
Situation umging und sogar immer wieder versuchte, uns Mut zu machen, wurde zusehends schwächer. Eine Komplikation nach der anderen stellte sich ein, weitere Organe versagten, die ersten Operationen erfolgten. Nie stellte sich ein bleibender Erfolg ein und ein Spenderorgan wurde wochenlang nicht gemeldet.
Es ist ein perfides Spiel gegen die Zeit, in der wir zusehen mussten und müssen, wie der Faden, an dem Lenas Leben hängt immer dünner wird. Sie ist mehr tot als lebend, liegt inzwischen im künstlichen Koma und jeder behandelnde Arzt versucht mit jedem Mittel, ihre Körperfunktionen zu erhalten. Es ist der schrecklichste Anblick meines Lebens, mein Kind so sehen zu müssen.
Wir versuchen, als Familie stark zu sein, aber die Dauerbelastung zeigte bald erste Probleme. Unsere vierjährige Motte nässt nachts wieder ein, Simon wurde auffällig im Kindergarten und die Beziehung zwischen Ben und mir gestaltet sich zunehmend sprachlos.
Als endlich ein passendes Organ gefunden wurde, stellte sich die Frage, ob Lena diesen Eingriff überhaupt noch bewältigen würde. Ohne nachzudenken, stimmten wir der Operation zu. Es gab nichts mehr zu verlieren.
An Aufatmen war jedoch nicht zu denken, das Organ erfüllte nicht seine Aufgabe und Lenas Zustand verschlechterte sich weiter. Auch diese Leber zerfiel in ihrem Körper.
Erneut wurde sie auf die Liste Eurotransplants
gesetzt, wieder wurde nach einem passenden Organ gesucht, aber die Hoffnung der Ärzte und damit auch unsere schrumpften immer mehr. Erneute Operationen erfolgten, zu unserem Entsetzen wurde Lena schon gar nicht mehr zugenäht.
Würden wir noch einmal Glück haben und erneut ein Organ bekommen? Wir wissen doch genau, wie gering die Spenderbereitschaft in unserem Land ist.
Unser Familienglück ist dabei zu zerbrechen. Tag und Nacht blieben und bleiben wir beide oder einer von uns an Lenas Seite. Wir reden mit ihrem fast leblosen, fahlen Körper, weinen, wünschen, hoffen, schweigen und leiden.
Mit jedem vergehenden Tag schwinden ihre
Lebenskräfte und unser Zukunftsglaube.
„Familie Siewert, Sie müssen damit rechnen, dass Lena in den nächsten Tagen den Kampf verliert. Wenn Sie möchten, dass Ihre Familie Lena noch einmal besucht, würde ich Ihnen morgen dazu raten. Ich kann Ihnen die verbleibende Zeit nicht garantieren.“
Gestern Abend sagte der Chefarzt diesen Satz zu uns und ich weiß nicht wirklich, was er bedeutet. Längst habe ich meine Gefühle von der Außenwelt getrennt. Wie zwei Ertrinkenden hielten Ben und ich uns fest. Was sollten wir tun? Auf keinen Fall die Hoffnung aufgeben, dass doch noch ein passendes Organ gespendet wird.
Die letzte Nacht hat unsere Kämpferin
überlebt. Gleichmäßig ertönten die Überwachungsgeräte, Geräusche, die ich mein Leben lang nie wieder vergessen werde.
Meine Eltern sind gekommen und haben Simon und Annika mitgebracht. Am Nachmittag möchten wir Lena zu viert besuchen. Vielleicht zum letzten Mal.
Im Moment sind Oma und Opa bei ihrer ältesten Enkeltochter.
Als das Telefon klingelt, fahren wir alle Vier erschreckt zusammen. Noch immer stehen wir eng umschlungen beieinander.
Ben ist es, der sich als erster löst und zum Hörer greift.
Ich stehe so dicht bei ihm, dass ich mithören
kann.
„Familie Siewert, bitte kommen Sie schnellst möglich zu Lena. Es ist dringend!"
© Memory (Juni 2018)
Nachwort:
Lena hat damals „fünf vor Zwölf“ tatsächlich noch einmal eine Spenderleber bekommen. Sie war noch weniger passend, als die erste, aber sie wurde trotzdem operiert.
Danach war Lena viele weiter Monate im Krankenhaus, da es immer wieder Probleme gab.
Jetzt nach vier Jahren lebt sie halbwegs gut, darf inzwischen wieder in eine öffentliche Schule gehen, hat aber ständig gesundheitliche Schwierigkeiten. Ihr täglicher Tablettencoktail gleicht einer eigenen Mahlzeit.
Die Eltern kämpfen noch heute mit Ängsten, Sorgen und den Nachwirkungen.