Das Bellen und Schreien aus der unteren Etage riss mich in dieser Nacht aus dem Schlaf. Es mischte sich völlig übergangslos in meine Träume – ein Lärm wie der einer Sirene – und ließ mich erschreckt aufspringen. Es dauerte einen Moment, bis ich richtig zu mir kam. Die Dunkelheit meines Zimmers umfing mich immer noch mit dem Gefühl von Schlaf und machte meine Glieder schwer. 3:04 Uhr. Das Zifferblatt des Weckers strahlte neongrün und brauchte vermutlich bald neue Batterien, denn er wirkte etwas
blass. Anstatt aufzustehen und nach unten zu eilen, saß ich für eine Ewigkeit nur in meinem Bett und blickte auf die Uhr. Der Lärm blieb dabei die ganze Zeit wie ein Singsang in meinem Kopf. Die Hunde. Erst dann begriff ich, wieso ich überhaupt aufgewacht war. Charly und Jamie schlugen wegen irgendetwas an. Das war nicht das erste Mal in den sechs Monaten, die wir sie nun schon besaßen, doch heute schien irgendetwas anders. Es wurde mir bewusst, als ich schlaftrunken aus dem Bett torkelte und über die Decke stolperte. Sie klangen so wütend. Ihr Bellen wurde lauter, je dichter ich der Tür kam, und auf dem Flur hörte ich es
schließlich ganz deutlich. Da prallten Pfoten gegen die Eingangstür, gefolgt vom Hämmern hastiger Krallen an der Glasscheibe. Sie verloren sich beinahe unter dem Gebell der beiden, das schon fast einem Geschrei gleichkam. Nur eine Sekunde im tosenden Schwall ihrer Aggression machte mich hellwach. Ohne darauf zu warten, dass die beiden meine Eltern weckten, eilte ich die Treppe hinunter in die Wohnküche. „Aus!“, rief ich und betätigte den Lichtschalter. Ein geblendeter Rudelführer mit wildem Haar und dünner Stimme, der heute Nacht wohl nicht sehr
beeindruckend sein musste. Weder Charly noch Jamie nahmen Notiz von mir. Stattdessen tobten sie weiter und sprangen immer wieder gegen die Haustür, als wollten sie das Holz mit ihrer bloßen Wut aus den Angeln heben. In derselben Sekunde fiel mir auf, was für einen Schaden sie bereits angerichtet hatten. Essstühle waren umgefallen, Jacken von der Garderobe gerutscht und der Schirmständer lag irgendwo unter der Treppe, obwohl er normalerweise neben das Schuhregal gehörte. Es war das erste Mal, dass ihr Verhalten mir Angst einjagte. Eigentlich waren die beiden liebe und ausgeglichene Hunde, die selten etwas kaputtmachten. Heute
jedoch erschienen sie mir wild und unkontrollierbar. Sie waren nicht sie selbst. Ein letzter, beherzter Sprung der beiden Pointermischlinge gegen die Haustür brachte mich dazu, mich zusammenzusammeln und meine Pflicht zu tun. „Schluss jetzt!“ Ich trat mit entschlossenen Schritten zwischen sie und die Tür, um sie für mich zu beanspruchen. „Sitz!“ Auch meine Stimme war wohl endlich zu mir zurückgekehrt, denn die Tiere folgten meiner Anweisung und beruhigten sich fürs Erste. Jamie
hechelte so stark, dass ich seine rote Zunge sehen konnte, und sein Sabber hatte sogar ein wenig Schaum geschlagen. Charly hingegen schien weniger erregt, fiepte dafür aber ununterbrochen. Es war, als wollte er mir etwas sagen, dass ich nicht verstand. Zumindest nicht, bis ich seinem Blick folgte. Er durchdrang starr und hochkonzentriert die Glasscheibe, die zu unserer Haustür gehörte. Der Wald, kam es mir in den Sinn. Die beiden mussten etwas im Wald gewittert haben. Wenn man so dicht an der kanadischen Wildnis wohnte wie wir, dann war es
normal, dass sich ab und an ein Tier in die Nähe des Hofes verirrte. Ich hatte schon oft morgens aus dem Fenster geblickt und heimlich die Rehe begrüßt, die das Gras direkt vor dem Fenster wohl besser fanden als das, was sie im Wald kriegen konnten. Auch Wildschweine oder sogar Bären waren nichts Ungewöhnliches. Nichts, das Jamie und Charly nicht mindestens ein Mal gesehen hatten, seit Dad sie vor einem halben Jahr von einem Bekannten mitgebracht hatte. Heute klangen sie hingegen, als wartete dort draußen kein Reh, kein Wildschwein und auch kein Bär, sondern etwas anderes. Etwas Gefährliches. Der Gedanke jagte mir einen Schauer
über den Rücken. Nun warf ich selbst einen Blick durch die Scheibe. Ich wollte wissen, ob mit den Pferden alles in Ordnung war. Die Dunkelheit verschluckte die Sicht nach draußen einfach, denn im Licht der Deckenlampe sah ich nur mich selbst. In einem Akt der Dummheit umgriff ich den Knauf und öffnete die Haustür, um einen kurzen Blick auf den Stall zu werfen. In diesem Moment setzten sich die Hunde in Bewegung. Sie drängten sich mit jedem Funken Kraft ihres Körpers an mir vorbei, um gleich darauf bellend in der Dunkelheit zu verschwinden. Ein besorgtes Wiehern folgte ihnen aus dem Pferdestall, dann wurde es
totenstill. „Verflucht!“ Ohne zu zögern schlüpfte ich in meine Jacke und Gummistiefel. Ich hatte es vermasselt. Was auch immer dort draußen sein mochte, die Hunde mussten es für gefährlich halten. Ich wollte mir nicht ausmalen, wie ein Bär die beiden zurichten würde, wenn sie ihn attackierten. Also griff ich die Taschenlampe vom Fensterbrett und schnallte mir die Hundeleine um, bevor ich unseren Haustieren hinterhereilte. Die Nacht war schneidend kalt. Ich konnte meinen Atem sehen, sobald ich die Tür hinter mir geschlossen hatte, und
unter meinen Sohlen ertönte mit jedem Schritt das verheißungsvolle Knarzen gefrorenen Bodens. Es war eine dumme Idee gewesen, nur in Nachthemd und Mantel loszurennen, aber nun wollte ich auch nicht umdrehen. Vielleicht waren Charly und Jamie noch in der Nähe. Voller Hoffnung spitzte ich die Lippen, um nach ihnen zu pfeifen. Romeo war jedoch der einzige, der mir antwortete. Sein unruhiges Schnauben drang aus dem Stall wie ein Warnlaut. „Schon gut“, rief ich den Pferden zu. Ich wollte nicht, dass sie panisch wurden und gegen die Wände traten. „Ich habe das im Griff.“ Leider war ich mir da gar nicht so sicher.
Der grellweiße Vollmond half mir zwar, genügend zu sehen, aber der Wald war groß. Dort zwei Hunde zu suchen konnte der Nadel im Heuhaufen gleichen, wenn sie nicht kommen wollten. Zudem war in der Dunkelheit Vorsicht geboten. Das lange Gras war im Herbst welk geworden und lauerte wie eine Schlange im Dickicht, um einen unerwartet zu Fall zu bringen. Es war so ziemlich das Schlimmste, das ich mir vorstellen konnte, nachts mit einem gebrochenen Fuß darauf zu warten, dass Dad mich nach Hause trug. Ich mochte schon zwölf sein, aber Gruselfilme hatte ich genügend gesehen, damit mein Verstand sich selbstständig machte.
Was, wenn es ein Mensch war, der sich hier herumtrieb? Einer mit üblen Absichten? Ich schüttelte den Kopf. Dann hob ich die Hand an den Mund und rief nach den Hunden. „Jamie! Charly!“ Nichts. Kein Bellen, kein Winseln. Es war so still, als hätten die beiden sich kilometerweit entfernt. Im selben Augenblick fegte ein unruhiger Wind über die Umgebung und ließ die übriggebliebenen Gräser tanzen wie die Oberfläche eines finsteren Ozeans. Ich hingegen fühlte jeden Luftzug bis in
meine Knochen. Ich musste mich beherrschen, nicht mit den Zähnen zu klappern. Dabei eilte ich bis zum Waldrand, ohne die Koppel aus den Augen zu lassen, und warf einen Blick zwischen die gesunden, massiven Bäume. Hier war es deutlich finsterer als noch auf dem Hof, denn die dichten Baumkronen sperrten das Mondlicht aus. Laub und Nadeln raschelten unter mir, während ich mich Schritt für Schritt vorantastete. „Hier!“, rief ich. Ich zog das Wort so lang wie möglich, aber auch dieses Mal bekam ich keine Antwort. Eine Minute lang lauschte ich noch angestrengt in die Nacht, dann fluchte ich und machte
schließlich kehrt. Ich musste Dad holen. Offenbar waren die Hunde schon weiter weggelaufen, als ich mir erhofft hatte. Immer wieder malte ich mir aus, was geschehen würde, wenn sie sich mit einem Bären anlegten oder einfach nur ein Reh bis zur nächsten Straße hetzten. Was, wenn sie überfahren wurden? Auf meinen Vater hörten sie besser. Zusammen würden wir sie sicher finden. Ich hatte gerade kehrtgemacht, um am Stall vorbei und zurück ins Haus zu eilen, da raschelte es plötzlich hinter mir im
Gebüsch. „Jamie!“ Ich war noch nie so froh gewesen, ihn zu sehen. Jamie mochte erst neun Monate alt sein, doch er hatte schon jetzt die Maximalgröße erreicht, die man für einen Pointer normalerweise errechnete. Seine breite Brust war nass von Speichel, als er vom Waldrand aus auf mich zueilte. Während ich sein schwarzweißes Fell streichelte, spürte ich sein Herz unter meinen Händen hämmern. Er musste wirklich etwas gejagt haben. Seine Zunge hing immer noch weit aus seinem Maul. „Guter Hund“, flüsterte ich und rieb kräftig seine Ohren. „Wo ist dein
Bruder?“ Ich sah mich um, doch von Charly war keine Spur. Wo steckte er nur? Für gewöhnlich kamen immer beide zurück, wenn man einen rief. Wie kam es, dass Jamie ohne ihn aufgetaucht war? In die Freude meines unerwarteten Wiedersehens mit Jamie mischte sich nun noch mehr Sorge um Charly. War er weiter weggelaufen? Hatte er sich womöglich verletzt und wartete jetzt darauf, dass Jamie mich zu ihm brachte? Ein leises Klicken befestigte den Hund neben mir an der mitgebrachten Leine. Währenddessen kaute ich an meiner Unterlippe. Was sollte ich tun? Ich konnte Dad holen gehen, damit er mir
half, Charly zu finden. Ich konnte ihn ohnehin nicht tragen. Doch Jamie begann derweil längst an der Leine zu zerren und führte mich Richtung Wald. Er winselte nervös. „Wo ist Charly?“, fragte ich ihn. Er antwortete mir mit einem Bellen, das überlaut durch die Nacht hallte. Und dann, als wollte er ihm antworten, hörte ich plötzlich Charlys Stimme. Sie klang aufgeregt und nicht allzu weit entfernt. „Komm“, sagte ich deswegen, umgriff die Leine fester und folgte Jamie zurück in den Wald. Jamie eilte geradeaus, als hätte er den Teufel gewittert. Es fiel mir erst auf, als
wir schon einige Minuten durch das Dickicht irrten, denn ich konzentrierte den Schein der Taschenlampe ausschließlich auf den Boden zu meinen Füßen. Das Mondlicht vermochte ihn hier nicht mehr genügend auszuleuchten, verwandelte jedoch jeden Baum um uns herum in eine beunruhigende Silhouette. Ich tat mein allerbestes, um weder die Stille dieser Nacht noch die Finsternis zu sehr zu interpretieren. Es gelang mir auch, bis mein Schein mehr zufällig auf Jamie fiel. Er hatte seine Nase die ganze Zeit über den Boden geschoben wie einen Staubsauger, um dabei lautstarke Schnüffelgeräusche von sich zu geben. Erst, als ich ihn ansah, wurde mir kalt.
Das Fell an seinem Rücken war zu einer dichten, dunklen Bürste aufgestellt, die ich noch nie zuvor bei ihm gesehen hatte. Irgendetwas hier machte ihm Angst. Und zwar genug, um ihn die ganze Zeit über nervös sein zu lassen. Während ich ihn beobachtete, umgriff ich die Taschenlampe noch fester. „Charly!“ Ich fand ihn im Dickicht, kaum mehr als einhundert Meter von uns entfernt. Mir fiel ein Stein vom Herzen, denn er schien nicht verletzt zu sein. Aus irgendeinem Grund hatte er nur nicht auf meine Rufe reagiert. Jamie wedelte wie verrückt mit dem Schwanz, als wir seinen Bruder
erreichten, ließ sein Fell jedoch aufgestellt. Charly hingegen reagierte gar nicht auf uns – weder auf mich, noch auf Jamie – sondern stand nur da wie eine Statue. Er starrte geradeaus in den Wald, ohne sich zu rühren, und damit weg von uns. „Komm jetzt.“ Ich hatte mehr als genug Zeit hier draußen verbracht. Um Charly an einem weiteren Ausbüxen zu hindern, befestigte ich nun das andere Ende der Leine an seinem Halsband. Charly reagierte nicht auf meine Worte. Auch nicht auf einen leichten Zug. „Charly“, sagte ich. Doch in diesem Moment hörte ich es plötzlich
auch. Es war das schleifende Geräusch einer Bewegung im Laub. Aus irgendeinem Grund ging ich augenblicklich in die Knie. Der Hof war schon mein ganzes Leben lang mein Zuhause. Ich war mit dem Wald, den Tieren und ihren Geräuschen aufgewachsen. Ich kannte sie, weil ich sie jeden Tag hörte. Selbst das leise Grunzen eines Wildschweines. Das hier war jedoch nicht normal. Anfangs wusste ich nicht einmal wieso. Mich erfasste ein Impuls von Flucht, der mir für eine Weile die Logik raubte. In dieser Zeit kniete ich hilflos auf dem
Boden, presste mich an Charly und betete dafür, nicht gleich von einem wütenden Bären attackiert zu werden. Charlys angespanntes Knurren offenbarte mir dabei, dass meine Angst nicht unbegründet war. Ich packte sein Halsband fester, um ihn vor einer Dummheit zu bewahren. Dann warf ich einen vorsichtigen Blick ins Dickicht. Was es auch war, dass uns dort aus der Ferne belauerte – es musste riesengroß sein. Ich hörte es an der Schwere, mit der sich seine Beine bewegten. Für den Bruchteil einer Sekunde stieg mir die Angst so sehr zu Kopf, dass ich am liebsten einfach losgerannt wäre. Ich wusste, es war da. Ich konnte es atmen
hören – ein dumpfer, schrecklicher Bass, der einen gewaltigen Brustkorb dehnte. Jeder einzelne Atemzug drang so überdeutlich an meine Ohren, dass es mich beinahe um den Verstand brachte. Jedes Haar an meinem Körper stand zu Berge. Den Hunden ging es nicht anders. Sie hatten sich links und rechts neben mir aufgebaut wie zwei Wachtposten, die mit gestelltem Fell und nach vorn geneigten Ohren in die Finsternis starrten. Das fremde Wesen schien um uns herumzuschleichen. Als ich die Taschenlampe ausknipste, um es nicht zu provozieren, erkannte ich zwei grellgelbe Lichter mitten im Gebüsch. Ich brauchte einen Moment, um zu realisieren, dass es
Augen waren. Der bloße Anblick ließ mich zur Salzsäule erstarren. Die Hunde mussten das Wesen zur selben Zeit erblickt haben wie ich, denn all ihr Mut stürzte in sich zusammen. Plötzlich zogen sie den Schwanz ein und zitterten wie Espenlaub. Selbst von Charlys wütendem Knurren war nun keine Spur mehr. Es sieht uns an. Ich hatte solche Angst, dass ich nicht hinschauen konnte, tat es aber trotzdem. Ich konnte meinen Blick einfach nicht von diesen Augen nehmen. Sie strahlten wie Taschenlampen aus dem Dickicht und schienen jede unserer Bewegungen
zu verfolgen. Ich hatte noch nie ein Tier mit leuchtenden Augen gesehen. Der Schemen des Wesens mochte an einen Bären erinnern, aber alles an ihm war viel zu anders. Ich konnte die Gefahr spüren, die von ihm ausging. Eine schneidende Stille, untermalt von lauten, rasselnden Atemzügen. Der Waldboden schien ihre Bässe bis zu mir zu tragen. Ich hörte die Kreatur näherkommen, sah ihren gierigen Blick und fühlte ihre Intention. Sie würde sich jeden Moment auf uns stürzen. Ihr gewaltiger Körper beugte sich bereits hinunter, um genügend Schwung zu holen. Bevor sie jedoch auf uns zustürmen konnte, zerriss plötzlich ein ohrenbetäubendes Heulen
die Luft. Es war so laut, dass die dunkle Kreatur ihren Kopf erhob und in den Himmel blickte. Ich hingegen presste mich mit all meiner Kraft an meine Hunde. Ich wusste nicht, zu welchem Tier dieses Heulen gehörte. Ich wusste nur, dass ich noch nie zuvor einen schrecklicheren Laut vernommen hatte. Es war dringlich, tief und klang zugleich unerträglich wütend. Das Monster im Gebüsch lauschte dem zornigen Kampfschrei nur für den Bruchteil einer Sekunde. Dann stieß es sich plötzlich ab, um mit donnernden Schritten im Wald zu verschwinden. Es verschwand so schnell, wie es aufgetaucht war, und ließ mich
atemlos am Boden zurück. Mittlerweile klapperten meine Zähne in der eisigen Kälte. Mein Herz polterte wie ein Presslufthammer. Ich saß nur da und starrte auf die Stelle, an der das Wesen bis noch verharrt hatte. Mit jeder Sekunde wurde mir dabei ein wenig klarer, was soeben geschehen war. Ich hatte einem Tier gegenübergestanden, das ich nicht kannte. Einem riesigen Tier mit leuchtenden Augen. Schon jetzt kam mir der dumpfe Umriss des Wesens so unwirklich an wie ein Traum. Nur mein schweißnasser Rücken überzeugte mich davon, dass all das keine Einbildung gewesen war.
Meine Beine fühlten sich weicher an als Pudding. Sie wollten mich kaum tragen. Für den Moment wollte ich nichts sehnlicher, als einfach nach Hause zu eilen, ohne über meine Begegnung mit dem seltsamen Ungeheuer nachzudenken. Leider hatte ich vergessen, in welche Richtung wir mussten. Der Stall war hier im Wald schon lange nicht mehr zu sehen. Weil ich einen kurzen Gedanken an das Heulen verlor, das mir vermutlich das Leben gerettet hatte, begannen meine Knie unkontrolliert zu zittern. Was war das? Es hatte geklungen wie ein Wolf, wenn auch mit mehr Stimme. Ein Schrei aus
voller Kehle, der für einen menschlichen Hals doch viel zu laut gewesen war. Die Gestalt, die leuchtenden Augen und nicht zuletzt das fremde Heulen schienen nur einen Namen für das Wesen zuzulassen. „Ruby!“ Ich erschrak so heftig, dass ich herumfuhr und über Charly stolperte. Ich konnte mich gerade noch fangen, um nicht auf dem Waldboden fallen. „Dad!“ Mein Vater musste uns gefolgt sein, denn er tauchte in diesem Moment aus einem Gebüsch. Sein dunkles Haar sah genauso wirr aus wie meines, und selbst der Schnurrbart über seiner Lippe wirkte
irgendwie schief. Die dunklen Ringe unter seinen Augen zeugten von der späten Stunde. Genauso wie ich war er nur schnell in seine Jacke geschlüpft, denn ich sah seinen Pyjama unter dem Reißverschluss hervorschauen. „Hast du …“, begann ich, ohne weiterzusprechen. Auf dem Weg hierher war er dem Wesen sicherlich nicht begegnet – sonst hätte er nicht so verschlafen ausgesehen. Mein Herz hämmert immer noch erbarmungslos gegen meinen Brustkorb. Ich war unendlich erleichtert darüber, meinen Vater zu sehen. Er brachte die Sicherheit des Hauses mit sich, in das ich mich schon sehnte, seit ich den Hunden
gefolgt war. „Warte nächstes Mal, bis ich aufgestanden bin“, brummte er müde. Dabei kam er näher, um mir die Leine abzunehmen, an der nun Jamie und Charly hingen. „Gehen wir. Sonst holst du dir hier noch den Tod.“ „Ja“, murmelte ich. Meine Stimme war nicht mehr als ein heiseres Flüstern, denn der Klos von eben steckte immer noch in meinem Hals. Als Dad losstiefelte, drehte ich mich noch einmal um. Dabei warf ich einen Blick auf die Stelle, an welcher das Wesen bis eben gestanden hatte. Eine Weile haderte ich mit mir, ehe ich schließlich einen Schritt
nach hinten machte und die Taschenlampe über den Boden hielt. Was ich dort sah, ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Der feste, dunkle Waldboden war trotz der niedrigen Temperaturen verformt worden und zeigte einen einzelnen Abdruck. Es war der einer Pfote, wie ich sie von Charly kannte. Nur, dass sie mindestens zehnmal größer war. Auch die Proportionen stimmten nicht. Sie erinnerten mich zum Teil mehr an einen Bären als an einen Hund. Der Anblick war so unwirklich, dass ich die Augen zusammenkniff, um mir ganz sicher zu sein. „Dad?“, rief ich mechanisch. „Weißt du, was das gewesen sein
könnte?“ Mein Vater blieb noch einmal stehen. Er war so müde, dass ihn die Hunde beinahe zu Fall brachten. „Vielleicht Sasquatch“, erwiderte er, ohne einen Blick auf meine Entdeckung geworfen zu haben. Seine Stimme klang jedoch nicht so, als wollte er mich verschaukeln. Er zuckte mit den Schultern. „Jetzt komm und leuchte mir den Weg, bevor ich mir die Beine breche.“ „Okay …“, erwiderte ich und warf noch einen letzten Blick auf den Boden, ehe ich ihm hinterhereilte. Was es auch gewesen sein mochte, ich wollte es am liebsten so schnell wie möglich
vergessen.
Das Wetter hatte es an diesem Morgen wirklich gut mit mir gemeint. In Kanada wusste man nie so recht, welche Temperaturen man Mitte Mai tatsächlich erwarten durfte, wenn man das Haus verließ – von fünf bis 18 Grad war so ziemlich alles möglich, Regen und Schnee inklusive. Heute jedoch hatte mich der freundliche Schein einer sommerlichen Sonne nicht nur zur Arbeit begleitet, sondern stellte auch sicher, mich die ganze Zeit über durch die große Fensterfront mit genügend Vitamin D zu versorgen. Unter diesen Umständen ließ ich mir
meinen Job bei Harrison Sports wirklich gefallen. Es war selten besonders spannend, in seinem Sportgeschäft zu kassieren. Ich musste nur hier stehen, Kunden freundlich anlächeln und ihnen das Geld abnehmen, das sie zu dieser Jahreszeit etwas bereitwilliger hereintrugen als noch vor zwei Monaten. Weil heute irgendwie trotzdem nichts los war, fühlte sich mein Job eher an wie ein Besuch in der Sonnenbank. Ich schloss die Augen, um die warmen Strahlen zu genießen, während ich mit einem Ohr meinem Chef beim Werkeln zuhörte. Man sah ihn erstaunlich selten, denn in seinem gewaltigen Lagerraum gab es offenbar immer etwas zu tun. Verließ er
ihn dann doch mal, weil ein Kunde seine Beratung brauchte, erinnerte er mich immer an einen alten Bären, der schwerfällig aus seiner Höhle kam. Ich kannte Mr. Harrison, seit ich ein kleines Kind war. Das hatte mir letztlich auch meinen Job eingebracht. Er war ein Kollege meines Vaters aus seiner Zeit im Sägewerk und Dad hatte ein gutes Wort für mich eingelegt. „Zwei neue Kartons.“ Ich zuckte zusammen, als Mr. Harrisons Stimme plötzlich neben mir ertönte. Ich hatte gar nicht gesehen, dass er neben den Tresen getreten war. Einen Moment lang fühlte ich mich beim Faulenzen
ertappt, bis ich bemerkte, dass er eine Antwort erwartete. „Wie bitte?“, fragte ich nach. „Stell dir vor – sie haben zwei neue Kartons abgeladen“, tat Mr. Harrison bereitwillig kund. „Irgendwann zwischen gestern Abend und heute Mittag.“ „Oh“, machte ich. Jetzt hatte ich verstanden, was er sagen wollte. Sein Kleinkrieg mit dem fremden Geschäft war in die nächste Runde gegangen. Es musste gut vier Monate her sein, dass zum ersten Mal jemand seinen Müll einfach auf Mr. Harrisons Hinterhof abgestellt hatte. Seitdem fanden wir tageweise sogar mehr Abfall von diesem jemand als von Harrison Sports selbst.
Was zuerst nur ein geringes Ärgernis für meinen Chef gewesen war, hatte sich seitdem zu einer wahren Fehde gegen einen unsichtbaren Feind entwickelt. Und wenn Mr. Harrison kämpfte, dann mit allen Mitteln. In den vergangenen Wochen hatte er so ziemlich jede Idee ausgeschöpft, die einem einfallen konnte. Von einem Fernglas zur Überwachung des Hofes bis zu der Mission, die Nacht im Laden zu verbringen, um die Übeltäter auf frischer Tat zu ertappen. Bisher hatte er nur leider keinen Erfolg gehabt. „Haben sie denn nichts gesehen?“, wollte ich wissen. „Sie waren doch die ganze Zeit im
Lager.“ „Das ist es ja“, schnaubte der alte Mann. Ihm stand der Schweiß auf der Stirn, weil er vermutlich schwere Geräte gehoben hatte. Es konnte aber auch daran liegen, dass das Thermometer heute ohne Vorwarnung auf 16 Grad geklettert war. „Ich war die ganze Zeit da und habe nichts gehört“, fluchte er. „Diese Verbrecher müssen so leise sein wie ein Geist.“ „Bestimmt finden sie sie irgendwann“, versuchte ich den alten Mann zu trösten. „Und dann kriegen die hoffentlich eine saftige Strafe.“ Meine Theorie war, dass es keine festen Zeiten gab, an denen das fremde
Geschäft seinen Müll auf dem Hof meines Chefs ablud, denn so konnte man die Übeltäter nicht erwischen. Vermutlich taten sie es einfach spontan, wenn ihr eigener Container zu voll wurde. Privatleute konnten unmöglich so viele Kartons und Verpackungen ansammeln. Nur waren die immer unbeschriftet und deswegen nicht identifizierbar. „Ich sage dir, es ist die verdammte Frittenbude“, schimpfte Mr. Harrison. „Nachdem die hier aufgemacht haben, hat das Theater begonnen.“ Dabei trottete er zum Getränkespender, um zwei Dosen zu ziehen. Eine Cola Light, weil seine Frau ihm echte
verboten hatte, und eine Limonade für mich. „Dankeschön“, sagte ich, als er sie auf den Tresen stellte. Mr. Harrison war ein traumhaft netter Chef, wenn er sich nicht gerade über illegal deponierten Abfall ärgerte. Aber das war auch irgendwie verständlich. „Nur ohne Beweise kriegen wir sie nicht dran“, fügte ich hinzu, während ich den Verschluss aufschnappen ließ. Der erste Schluck der prickelnden Flüssigkeit machte mir bewusst, wie warm es hier drinnen tatsächlich geworden war. „Ich weiß“, seufzte mein Gegenüber und schwieg kurz, um die Sache abzuschütteln. Dann streckte Mr.
Harrison mit einem genussvollen Laut auf den Lippen seinen Rücken, bevor er einen Blick durch die Glasfront des Ladens warf. „Ganz schön sonnig heute“, brummte er. Man hätte fast meinen können, das missfiel ihm, obwohl ich das Gegenteil wusste. Mr. Harrison war ein begnadeter Wanderer. Er liebte es, seine Freizeit draußen zu verbringen. Wann immer der Wetterbericht etwas Stabilität versprach, schnappte er seine Frau und sein Zelt verschwand irgendwo in die Wildnis. Vielleicht war das der Grund, wieso sein Gesicht mit seinen sechzig Jahren so wettergegerbt aussah, aber es verlieh ihm auch den Charme, der ihn so sympathisch
machte. „Ich glaube, heute kommt niemand mehr.“ Mr. Harrison rieb geschäftig seine Handflächen. „Geh ruhig nach Hause, Ruby. Damit ein bisschen Sonne an dich kommt.“ „Sind sie sicher?“, wollte ich wissen. Eigentlich hatte der Laden noch eine Stunde geöffnet. Mr. Harrison lachte. „Ja“, versprach er. „Du bist doch noch jung. Bestimmt hast du an einem so schönen Tag wie heute was vor, oder?“ Irgendetwas an der Art, wie er das ausdrückte, machte mich verlegen. „Eigentlich habe ich Dad versprochen,
ihm mit dem Heu zu helfen“, gab ich zu. Mr. Harrison seufzte. „Ruby, du arbeitest zu viel“, tadelte er mich. „Die Schule, der Job, und dann hilfst du noch auf dem Hof. Und den Führerschein machst du auch bald.“ Seine Sorge entlockte mir ein trockenes Lachen. „Das wird sowieso noch eine Weile dauern. Den Führerschein werde ich mir nie leisten können.“ Er war einer der Gründe, wieso ich den Job in Mr. Harrisons Laden angenommen hatte, um mir an den Samstagen etwas dazuzuverdienen. Ich schien jedoch nicht sehr gut darin, mein Geld zusammen zu halten. Meine Freundin Audrey war
daran nicht unschuldig. Sie überredete mich einfach viel zu oft dazu, etwas mit ihr zu unternehmen. Durch die vielen Samstage der letzten Zeit hatte sich zwar trotzdem ein bisschen was auf meinem Sparkonto gesammelt, aber bis ich davon einen Führerschein und ein Auto bezahlen könnte, würden wohl noch hundert Jahre vergehen. „Freust du dich eigentlich schon auf das Stadtfest?“ Oder auch zweihundert. „Ja“, erwiderte ich gedehnt. „Gehen sie hin?“ Das Stadtfest war Shatterlakes größte Attraktion Ende Mai – und auch die einzige. Die meisten, die ich kannte,
freuten sich das ganze Jahr darauf, Zuckerwatte von überteuerten Ständen zu essen und dabei Riesenrad zu fahren. Mich eingeschlossen. Im Gegensatz zu meinen Freunden hatte ich zwar Höhenangst, aber es reichte mir, das Ungetüm aus sicherer Entfernung zu beobachten. Auf dem Stadtfest gab es auch so genug Gelegenheiten, sein hart verdientes Geld unter die Leute zu bringen. Mr. Harrison beugte sich vor, um auf den Kalender hinter mir zu spähen. Er zeigte wunderschöne, kanadische Wälder. Genau das, was man von Mr. Harrison auch erwartet hätte. „Nein“, war seine Antwort. „Mary will in
dieser Woche ihre Schwester besuchen.“ Ich machte große Augen. „In Vancouver?“ Er nickte. „Genau. Ich kann ihr ja immer nichts abschlagen.“ Das brachte mich zum Lächeln. Mr. Harrison war kein überaus geselliger Mensch, das hatte ich mittlerweile schon bemerkt. Er war nicht unfreundlich oder griesgrämig, wusste Zeit allein aber zu schätzen. Wahrscheinlich liebte er das Wandern deswegen so und verkroch sich lieber im Lagerraum seines Ladens, anstatt Geld zu sparen und Kunden selbst zu bedienen. Ich wusste, dass ich mich geschmeichelt fühlen konnte, weil er
mich mochte. Sprach Mr. Harrison hingegen von seiner Frau Mary, lag in seinen Augen immer ein Leuchten. Man konnte nahezu sehen, dass er absolut alles für sie tun würde. Er bezahlte sogar einen teuren Flug, um eine Woche mit der Großfamilie ihrer Schwester zu verbringen. Wenn Mr. Harrison von ihr erzählte, hatte ich immer das Bedürfnis, das Kinn auf die Hände zu stützen und ihm zuzuhören. „Soll ich ihnen Poutine mitbringen?“, fragte ich rhetorisch. Das brachte ihn dazu, laut und dumpf aufzulachen. Bei ihm klang das immer wie das Grollen eines Grizzlys. „Nein, danke. Die kriege ich hier an
jeder Ecke“, gab er belustigt zurück. „Und jetzt nimm deine Sachen und mach, dass du nach Hause kommst.“ „Okay“, gab ich mich geschlagen. „Dann bis nächsten Samstag.“ Der grelle Sonnenschein begrüßte mich wie der Scheinwerfer einer Konzertbühne, als ich durch die Schiebetür des Ladens trat. Die Straße war voller Leute, die ziemlich zufrieden aussahen, und vom anderen Ende des Bürgersteigs kam mir der Geruch frisch gemachter Pommes entgegen. Während ich meinen Pferdeschwanz zurechtrückte, warf ich unserem vermutlichen Erzfeind einen prüfenden Blick zu. Dann öffnete
ich meine Jacke ein Stück und lief los. Ohne Auto war man mehr oder weniger auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen. Der Bus war mein bester Freund. Er brachte mich zur Schule und nach Hause und auch zur Arbeit oder zu meinen Freunden, wenn Dad am Wochenende keine Zeit hatte, mich mit dem Pick-up zu fahren. Momentan war er vermutlich dabei, das Heu nach Hause zu transportieren, damit wir es dann später gemeinsam vom Hänger laden konnten. Romeo und Schneewittchen waren immer hungrig. Man hätte staunen können, was zwei Pferde so alles wegfraßen. Eine dumpfe Vibration meines Telefons
riss mich aus den Gedanken. Im Laden hatte ich es immer auf lautlos gestellt, damit es die Kunden nicht nervte, aber meistens vergaß ich, den Klingelton wieder zu aktivieren. Ein Blick auf das Display verriet, dass Audrey mir eine Nachricht geschrieben hatte. Du und ich. Heute Abend. Der simple Text brachte mich zum Lächeln. Ich habe heute Heu in den Haaren, hast du das vergessen?, tippte ich. Die Antwort surrte so prompt unter meinen Fingern, als hätte Audrey das Fenster die ganze Zeit offen gelassen und gewartet. Dann geh duschen!, schrieb sie zurück. Ich hole dich um 8
ab. Ich seufzte. Das war wieder mal typisch. Audrey brauchte immer jemanden, der ihr am Wochenende die Zeit vertrieb. Von uns allen war sie auch diejenige, die am sehnlichsten auf die Ferien wartete, um sie in Shatterlakes schmuddeliger Disko oder eben mit uns zu verbringen. Eigentlich wusste sie, dass ich heute Abend keine Zeit hatte. Layla musste sie wohl versetzt haben und ich stand auf Platz zwei ihrer Liste. Na gut. Meine Antwort war kurz und knapp, aber das reichte auch aus. Audrey hätte sich ohnehin nicht von ihrem Plan abbringen lassen, selbst, wenn ich widersprochen
hätte. Ich hoffte nur, dass sie mich nicht zu einem Diskobesuch überreden wollte. Ich war kein Partymuffel, aber in dieses Gebäude brachten mich keine zehn Pferde. Zu laut, zu klein, zu muffig. Ich hätte noch ewig so weitermachen können. Eine Minute lang wartete ich noch, ob Audrey antwortete, dann schloss ich die Tasche meines Telefons und ließ es wieder in meiner Jacke verschwinden. Dabei warf ich mehr zufällig einen Blick auf die kleinen Gassen, die mich umgaben, und blieb schließlich stehen. Das undeutliche Stimmengewirr drang erst an meine Ohren, nachdem ich die Gruppe bemerkt hatte. Sie bestand aus
fünf Personen, von denen sich einige an die dichten Hauswände lehnten, und wirkte auf jede mögliche Weise verdächtig. Das lag nicht nur daran, dass sie die einzigen Menschen in einer ansonsten völlig leeren Straße waren, sondern auch an ihrer Ausstrahlung. Ich konnte die aggressive Energie in der Unterhaltung der fünf Männer nahezu spüren. Sie mischte sich ihren undeutlichen Worten bei wie ein unangenehmer, schriller Ton, der Unheil verhieß. Es ließ sie bedrohlich wirken. Ein Anblick, der in einer Kleinstadt in Kanada zwar ungewöhnlich, aber auch nicht unmöglich war. Normalerweise hätte ich mich beeilt, einfach schnell zur
Bushaltestelle zu kommen, um nicht am Ende noch die Aufmerksamkeit dieser Männer zu erregen. Heute aber war das anders, denn vier von ihnen hatten den Fünften umzingelt. Ohne danebenzustehen war es unmöglich zu erraten, worüber sie genau sprachen. Trotzdem störte mich etwas an ihren geballten Fäusten. Sie weckten meine Zivilcourage. Der fünfte Mann hatte schwarzes Haar und hob mittlerweile abwehrend die Hände, bekam jedoch keine Gelegenheit, das Gespräch zu beenden. Zwei der vier Männer traten stattdessen noch einen Schritt näher, um ihn weiter unter Druck zu
setzen. Mit diesem unschönen Bild vor Augen nagte ich an meiner Unterlippe. Ich wog bereits meine Chancen ab. Es wäre das Beste, einfach zu gehen, aber ich wollte im Nachhinein auf keinen Fall etwas in der Zeitung lesen, was mir für den Rest meines Lebens leidtun würde. Man hörte immerhin Geschichten – über Gangs und Drogen und all das – und ich war der Überzeugung, dass es solche Dinge auch auf dem Land gab. Um die Polizei zu rufen war es vermutlich zu früh. Immerhin war ja noch nichts geschehen. Noch nicht. Ich schluckte. Ob Mr. Harrison noch im
Laden war? Außer mir befand sich leider niemand auf dem Bürgersteig, den ich hätte ansprechen können. Andererseits wollte ich Mr. Harrison auch nicht in eine Sache reinziehen, die ihn gar nichts anging. Am Ende randalierten diese Kerle nachts noch in seinem Laden und schlugen die Scheiben ein. Leider hatte ich damit auch die letzte Idee ausgeschöpft, die mir spontan gekommen war. Eine Sekunde lang zögerte ich noch, mich ernsthaft in die Probleme fünf ausgewachsener Männer einzumischen. Dann sah ich, wie einer der Typen vortrat und den einzelnen Mann grob bei der Schulter packte, um ihm anschließend einen Stoß zu versetzen.
Das reicht. Mit all dem Mut, den ich in meinem 17-jährigen Leben angesammelt hatte, streckte ich entschlossen meinen Rücken und eilte zu der Gruppe rüber. Dabei hoffte ich einfach, dass die Männer sich beruhigen und abziehen würden – und, dass meine Entscheidung kein Fehler war. Ich erreichte die Bande gerade, als der Außenseiter sich wieder gefangen hatte. Er war durch den groben Schubs ins Stolpern geraten, wirkte aber noch immer ruhig und abwehrend. Als ich mich ihm näherte, trafen sich nur für den Bruchteil
einer Sekunde unsere Blicke. Da war Wut, Abwehr und auch Hitze zu erkennen, doch was mir viel mehr auffiel, war das Blau seiner Augen. Es war so tief, wie ich es noch nie bei einem Menschen gesehen hatte. Wie der Ozean auf einem Poster oder einem Reisekatalog. Ein Detail, dass mich lange genug ablenkte, um mir beinahe mein Momentum zu nehmen. Nun hatten sich vier ausgewachsene Männer vor mir aufgebaut, von denen sich zwei zu sehr im Hintergrund hielten, um sie genau zu erkennen. Ich sah nur Brillengläser und einen aschblonden Haarschopf hinter den beiden Kerlen hervorlugen, die offensichtlich die
Anführer spielten. Einer von ihnen hatte dunkle Haut und war nahezu lächerlich muskulös. Seine Augen wirkten im Kern freundlich, aber unversöhnlich. Seine verschränkten Arme verstärkten diesen Eindruck noch. Bei dem zweiten Mann im Vordergrund handelte es sich um das Klischeebild eines Bandenchefs. Ein großbewachsener Typ mit rappelkurz geschorenen Haaren, einem Tattoo am Arm und zerschlissenen Jeans. Sein Blick wirkte feindselig und feurig. Ich hätte schwören können, dass er die Auseinandersetzung gesucht hatte, so kampflustig starrte er mir entgegen. Alles an seiner Gestalt wirkte hitzig und einschüchternd. Er war intensiv. Nichts
umschrieb ihn besser. Die Luft um ihn herum schien auf eine Art und Weise zu lodern, die mir seltsam vorkam, und erst jetzt fiel mir auf, wie groß die beiden Männer direkt vor mir waren. Sie mussten die 1,90 m sprengen, denn sie überragten sogar meinen Vater. In ihren Schatten schien ich augenblicklich um mehrere Zentimeter zu schrumpfen. Ich fühlte mich, als stünde ich vor zwei Wolkenkratzern, die im Begriff waren, auf mich niederzufallen. Der Klos in meinem Hals offenbarte mir dabei, dass das hier wohl doch eine dumme Idee gewesen war. Aber jetzt gab es auch kein Zurück mehr, ohne mich in noch größere Schwierigkeiten zu
bringen. Allein konnte der schwarzhaarige Mann neben mir gegen diese Typen jedenfalls nicht bestehen. „Gibt’s hier ein Problem?“, fragte ich schließlich so selbstbewusst wie möglich. Es erschreckte mich, wie heiser und rau meine Stimme war. Im ersten Moment befürchtete ich, dass sie mich gar nicht hören konnten. Deswegen zückte ich nun das Telefon aus meiner Tasche, um ein wenig Überzeugung in meine Worte zu legen. Meine Masche schien zu funktionieren. Kaum, dass ich das Handy anhob, warfen die beiden Frontmänner sich plötzlich einen Blick zu. Er wirkte viel weniger angriffslustig
und beinahe nervös. Der junge Mann mit den blauen Augen öffnete derweil den Mund, um etwas zu sagen, entschied sich dann jedoch dagegen. Die Stille zwischen uns war schneidend. Es fühlte sich an, als würde mir jemand den Atem aus den Lungen pressen, während ich auf die Antwort der Gruppe wartete. Es dauerte zwei und dann drei Sekunden, ehe ihre Schultern sich entspannten. Als ich das sah, begann mein Herz wie ein Presslufthammer zu poltern. „Nein“, erwiderte der dunkelhäutige Mann. Dabei tat er eine Geste, als wollte er sich abwenden. Sein tätowierter Freund schien nicht ganz so schnell von
seiner Wut ablassen zu wollen, denn er warf seinem Opfer einen Blick zu, der Bände sprach. Dann drehte auch er sich um. „Hauen wir ab.“ Sein Wort schien Gesetz. Er hatte nicht einmal den ersten, bestiefelten Fuß vorangesetzt, da folgten ihm drei seiner Freunde so treu wie Gefolgsleute. Nur einer von ihnen war stehen geblieben – ein schmächtiger Junge mit aschblondem Haar, der so gar nicht in die Gruppe zu passen schien. Er trug unscheinbare Turnschuhe und Khakihosen und blickte den dreien reglos nach, bis er meine Augen auf sich zu spüren schien. Das brachte ihn dazu, sich zu uns
umzudrehen. Ich wusste nicht, womit ich gerechnet hatte, doch bei seinem Anblick zuckte ich zusammen. Das war kein normaler Junge. Es gab keinen echten Grund, wieso ich mir so sicher war, aber dieses Gefühl packte wie eine eisig kalte Hand nach meinem Nacken. Es musste die Art sein, wie starr er durch uns hindurchblickte. Als könnte er uns nicht sehen, oder als wären wir schlicht gar nicht da. Ich fragte mich, woher die tiefen Ringe unter seinen Augen stammten. Hatte er irgendeine Krankheit? Nur ganz kurz huschte sein Blick umher, als wollte er sich neu orientieren, und dann wanderte er schließlich irgendwo zwischen meinen
Hals und mein Schlüsselbein. „Ian!“, donnerte die Stimme des Anführers. Sie hallte durch die Gasse wie ein Hammerschlag und erschreckte mich zu Tode. Ian jedoch reagierte versetzt. Er sah noch eine Zeit lang vollkommen emotionslos durch uns hindurch, bis er schließlich kehrtmachte und seinen Freunden hinterher trottete. Selbst, als sie bereits hinter der nächsten Ecke verschwunden waren, konnte ich meinen Blick nicht von ihnen lösen. Was um alles der Welt waren das für Typen? Mir fielen so viele Worte für sie ein, dass ich sie kaum greifen konnte, und doch schien keines davon wirklich auf
sie zu passen. Sie wirkten auf eine seltsame Art anders. Bedrohlich. Ich konnte mich nicht daran erinnern, einen von ihnen je zuvor gesehen zu haben. Und nach diesem Treffen hoffte ich, dass es auch in Zukunft so bleiben würde. „Nicht schlecht.“ Die Stimme des jungen Mannes erschreckte mich. Ich hatte ihn beinahe vergessen. Dabei war ich ihm ja zur Hilfe geeilt und hatte nur deswegen diese heroische, dumme Tat begangen. Ich spürte seinen Blick auf mir, als ich mich zu ihm umwandte. Plötzlich war ich seltsam befangen. „Alles okay?“, wollte ich wissen. „Ja“, bestätigte er und unterstrich seine
Worte mit einem Nicken. „Hätte nicht gedacht, dass sie so schnell Reißaus nehmen, wenn sie ein Telefon sehen.“ Es war erstaunlich. Obwohl er bis eben von zwei hausgroßen Männern bedroht worden war, schien er kein bisschen angespannt zu sein. Ich sah es an seiner lockeren Körperhaltung. „Danke“, fügte mein Gegenüber schließlich an und schenkte mir ein schiefes Lächeln. „Du bist ganz schön mutig.“ Ich spürte, wie ich errötete. „Das täuscht“, gab ich zurück und deutete mit dem Daumen über meine Schulter. „Zwei Straßen weiter ist der Laden von meinem Boss. Dort gibt’s
Baseballschläger.“ Das brachte ihn zum Lachen. Es war ein heller Ton, der mir wirklich gefiel. Bisher hatte ich ihn nur im Schatten dieser seltsamen Gestalten gesehen, doch jetzt, wo ich allein mit ihm war, konnte ich ihn genauer beäugen. Er trug dunkle Jeans und ein schlichtes Oberteil, welches das Blau seiner Augen noch mehr zum Leuchten brachte. Ein dunkles, warmes Blau, unterstrichen von dem blassesten Teint, den ich jemals bei einem Schwarzhaarigen gesehen hatte. Er musste älter sein als ich und tatsächlich gut 1,80 m groß. Diese Kolosse von eben ließen wohl jeden kleiner wirken, als er wirklich
war. „Hast du Stress mit denen?“, fragte ich ihn jetzt. Dafür, dass ich ihm geholfen hatte, durfte ich das. Zumindest sah ich das so. Seine Antwort klang gedehnt. „Nein. Ihnen hat wohl nur meine Nase nicht gefallen.“ Ich war nicht unbedingt jemand, der von sich behauptete, eine überdurchschnittliche Menschenkenntnis zu haben. Eigentlich war ich sogar ziemlich unbedarft, wenn ich es mir recht überlegte. Trotzdem sprang mir bei den Worten dieses jungen Mannes sofort ins Gesicht, dass das nicht alles war. Er hielt etwas
zurück. „Verstehe“, antwortete ich steif. Aber das ging mich alles auch gar nichts an. Ich hatte ihm geholfen und meine Pflicht getan. „Kommst du aus Shatterlake?“, fragte er. Mein Nicken genügte, damit sich seine dunklen Brauen besorgt wölbten. „Dann lass mich dir trotzdem einen Tipp geben“, fuhr er fort. „Leg dich mit denen besser nicht an. Die sind … nicht ganz sauber.“ Seine einfachen Worte schienen den Kern der Sache viel zu gut zu treffen. Sie jagten mir einen Schauer über den Rücken, den ich nicht verstand. Wie ein kalter Windzug, der mich plötzlich
erfasste, obwohl noch immer keine einzige Wolke am Himmel stand. „Da hast du wohl recht“, entgegnete ich tonlos. Mir fiel wieder ein, dass ich im Begriff war, meinen Bus zu verpassen. „Soll ich dich nach Hause bringen oder so?“, fragte ich deswegen. Ich war nicht ganz sicher, wie ich unser Gespräch beenden sollte. Aber darüber lachte er nur wieder auf diese angenehme, offene Art. „Nein“, gab er gut gelaunt zurück. „Keine Sorge. Ich komme nach Hause.“ „Gut.“ Ich grinste. „Dann kann ich ja jetzt mein Cape anziehen und dem nächsten Bürger in
Not helfen.“
Darüber lachten wir beide.
„Pass auf dich auf“, sagte ich noch, bevor ich ihm den Rücken zuwandte und zur Haltestelle eilte.
„Du auch“, war seine Antwort. Aber sie kam so leise und gedämpft über seine Lippen, dass ich nicht sicher war, sie wirklich gehört zu haben.
„Schau dir das an. Wie aus Kübeln!“ Als Audrey eine Woche später gereizt aus ihrem Wohnzimmerfenster spähte, hatte Kanadas wechselhaftes Klima sich längst dazu entschieden, uns mal wieder so richtig das Wochenende zu vermiesen. Ich hatte meine Schicht im Harrison Sports schon vor einigen Stunden beendet und mich danach von Audrey abholen lassen, um mit ihr zu lernen. Jedenfalls offiziell. Inoffiziell hatten wir ein paar Stars im Internet angeschmachtet und dabei stolze eineinhalb Tüten Chips verdrückt. „Du tust mir echt leid“, fügte Audrey
kurz darauf an. Als sie sich zu mir umdrehte, um sich wieder auf das breite Sofa fallen zu lassen, war ihr Blick voller Mitgefühl. „Danke“, erwiderte ich. „Ich mir auch.“ Es war eine grausame Fügung des Schicksals, dass ich die einzige in meinem Freundeskreis war, die noch mit dem Bus fahren musste. Das bedeutete nicht nur, den Großteil meiner Zeit immer wieder auf die schnaufende Hydraulik sich öffnender Bustüren warten zu müssen, sondern auch, bei jedem Wetter zur Haltestelle zu hetzen. Besonders heute fühlte sich das an wie eine Strafe. Layla war bereits vor über einer Stunde abgeholt worden, um mit
ihren Eltern essen zu gehen, und Audreys Mutter steckte noch auf der Arbeit fest. Sogar Dad hatte sich Überstunden aufbrummen lassen – irgendein Notfall mit einem LKW. Er war mit zu viel Seele KFZ-Mechaniker, um in einem solchen Fall nicht zur Stelle zu sein. Für mich bedeutete das leider, dass ich die Sintflut der Himmel später zu Fuß durchqueren musste. „Weißt du was?“, fragte Audrey irgendwann, während sie geräuschvoll ihren Laptop zuklappte. „Die Schule nervt.“ Ich lachte. „Sei doch nicht so“, beschwichtigte ich
sie. „Nein, ehrlich“, maulte Audrey. „Wir sind junge, hübsche Mädels. Wir sollten draußen sein. Unsere zerbrechliche Haut braucht UV-Strahlung.“ „Damit wir schneller alt werden?“, riet ich. „Hör auf, meine Träume zu zerstören!“, fuhr sie mich an. „Stattdessen sitzen wir hier und büffeln, bis wir schwarz werden.“ „Wir haben ja heute auch so viel gebüffelt“, gab ich sarkastisch zu. „Sobald Layla weg ist, läuft irgendwie gar nichts mehr.“ Sie war unsere Anstandsdame. Natürlich nahmen wir unseren Schulabschluss
ernst, aber ich musste zugeben, dass das bisweilen schwierig sein konnte. Besonders, wenn Audrey einen dauernd ablenkte. „Wir haben es ja bald geschafft“, sagte ich dann versöhnlich. „Bald sind Ferien und dann kommen auch schon die letzten Semester bis zur Graduation.“ „Ja, Ferien!“, jauchzte Audrey. Den Rest überhörte sie einfach. „Endlich. Und meine Mum fährt sogar mit mir weg.“ Jetzt machte ich große Augen. „Echt?“, wollte ich wissen. „Wohin?“ Audrey kramte kurz in einem Stapel Dokumente, die unter dem Couchtisch aufbewahrt wurden, bevor sie mir ein Prospekt reichte. Es zeigte ein großes
Gebäude mit Pool. „Ein Wellness-Hotel?“, las ich vor. Es sah vielversprechend aus und war auch gar nicht so weit entfernt. Dafür aber höllisch teuer. „Ja!“, freute sich Audrey. „Bist du neidisch?“ Ich schnitt ihr eine Grimasse. „Na klar. Wir fahren fast nie weg, weil wir niemanden haben, der sich um die Pferde und die Hunde kümmert.“ „Es sind auch nur vier Tage“, gab Audrey zu bedenken. „Aber besser als nichts. Ich werde mir so lange Gurken auf die Augen legen, bis du meine Schönheit nicht mehr wiedererkennst.“ Ich kicherte, bevor ich einen Blick auf
mein Handy warf. „Es hilft nichts, ich muss los.“ Ich hatte Mum versprochen, ihr heute Abend Gesellschaft zu leisten. In der Küche warteten bereits Popcorn, Kakao und Taschentücher darauf, einen schwülstigen Liebesfilm mit uns zu schauen. Solche Frauenabende konnten wir meistens nur veranstalten, wenn Dad außer Haus war. Natürlich stand es ihm frei, sich solange an den Computer oder in seine Garage zu verziehen, um an seinem uralten Mercedes zu schrauben – doch sobald wir eine DVD einlegten, versüßte er unsere Filmerfahrung lieber mit sarkastischen Kommentaren. Keine Chance, ihn davon abzuhalten. Heute
Abend hatten wir sozusagen sturmfrei. „Ist gut“, sagte Audrey traurig. Sie wusste noch nicht, wann ihre Mutter heute nach Hause kommen würde. Ihr Vater hatte die Familie früh verlassen und sie war Einzelkind. Ihre Mum war leitende Angestellte in der Nachbarstadt, weshalb sie häufig erst spät abends nach Hause kam. Unter der Woche sah Audrey ihre Mum deswegen manchmal überhaupt nicht. „Vergiss nicht, deinen Badeanzug anzuziehen“, witzelte sie, als sie mich umarmte. Dann brachte sie mich zur Tür. „Und schreib mir eine Nachricht, wenn du heil zu Hause angekommen bist, klar?“, verlangte sie
noch. „Ja, Mama“, erwiderte ich brav, bevor sie mir geräuschvoll die Tür vor der Nase zuschlug. Einen Moment lang warf ich einen hoffnungsvollen Blick auf den düsteren Himmel, aber es sah nicht so aus, als würde der Regen bald nachlassen. Also zog ich die Kapuze meiner Jacke über den Kopf und den Reißverschluss richtig zu, bevor ich durch den Wolkenbruch eilte. Von Audrey bis zur Haltestelle war es ein gutes Stück, das ich heute in einem Rekordtempo zurücklegte. Es war nicht immer ganz einfach, von hier aus nach Hause zu fahren. Zwar kam der Bus
immer pünktlich, so lag doch beinahe der gesamte Weg am Waldrand. Ein fürchterliches Detail, wenn es schon dunkel war. In finsteren Wäldern beschlich mich seit meiner Kindheit ein mulmiges Gefühl. Keine direkte Panik – nur das Bedürfnis, auf solche Erfahrungen lieber zu verzichten. Das Wetter war schuld daran, dass der Himmel auch heute bereits weit dunkler aussah, als er es um diese Uhrzeit normalerweise getan hätte. Deswegen zog ich meinen Kragen enger, bevor ich noch einen Zahn zulegte. Ich erreichte die Bushaltestelle natürlich zu früh. Sie war nur ein einfaches Schild
ohne Überdachung, weswegen ich mir einen nahen Baum suchen musste, um mich unterzustellen. Seine Nadeln beschützten mich zumindest ein wenig vor der unfreiwilligen Dusche, der meine Jacke kaum gewachsen war. Heute Morgen hatte noch die Sonne vom Himmel gestrahlt, aber daran gewöhnte man sich, wenn man hier lebte. Auch, wenn man trotzdem noch griesgrämig aus der Wäsche schaute. Während ich mit dem Schuh Kreise in die Erde malte, warf ich immer wieder einen Blick auf die Straße, um den Bus rechtzeitig zu erkennen. Manche Busfahrer neigten dazu, gar nicht erst anzuhalten, wenn niemand am Schild wartete. Also lauerte
ich wie ein Tiger im Gestrüpp und wartete auf meine Chance, nach vorn zu springen und nach Leibeskräften zu winken. Als nach fast fünfzehn Minuten jedoch immer noch kein Bus in Sicht war, runzelte ich besorgt die Stirn. Er wird doch nicht … Das fehlte mir noch. Wie häufig war es, dass ein Bus einfach ausfiel? In meiner Umgebung passierte das zumindest nicht sehr oft. Als Vielfahrer wusste ich das. Sicher hatte er sich nur etwas verspätet, weil das Wetter so ein riesengroßer Mist war. Er würde bald da sein. Bestimmt. Besorgt schritt ich zum Straßenrand, um noch zehn weitere Minuten mit dicken,
kalten Tropfen begossen zu werden. Dann warf ich schließlich entnervt die Arme in die Luft. „Auch das noch!“ Eine Sekunde lang wusste ich nicht, was ich machen sollte. Mums Auto war in der Werkstatt – sie konnte mich also nicht abholen. Aber laufen würde ich den weiten Weg auch nicht. Mir blieb wohl nichts anderes übrig, als zu Audrey zurückzugehen und darauf zu warten, dass der nächste Bus fuhr. Der dann hoffentlich auch kommen würde. Ich war gerade im Begriff, meinen Ärger herunterzuschlucken und mich in Bewegung zu setzen, als mich plötzlich die Scheinwerfer eines Fahrzeuges
trafen. Das leise Quietschen der Bremsen ließ mich zuerst glauben, der Bus wäre doch noch gekommen. Ich bemerkte aber schnell, dass das Auto dafür viel zu klein war. Vor mir parkte ein grüner VW Jetta. Er wirkte nicht wie ein neues Modell, aber auch nicht unglaublich alt. Der Lack war gut gepflegt und an der Seitentür prangte ein Aufkleber des kanadischen Ahornblattes. Mein erster Impuls war Flucht, denn mit Fremden in Autos sprach ich grundsätzlich nicht. Bevor ich dies in die Tat umsetzen konnte, fuhr der Fahrer jedoch das Fenster herunter.
Ich staunte nicht schlecht. Am Steuer saß der junge Mann mit den blauen Augen. Er grinste wie ein Superheld, der gerade jemandem zur Hilfe geeilt war. „Brauchst du eine Mitfahrgelegenheit?“, fragte er. Er musste sehr laut sprechen, um den Regen zu übertönen. Zudem schallte alternatives Metal aus seinem Radio. In diesem Moment dachte ich nicht darüber nach, ihm zu misstrauen oder seine Absichten in Frage zu stellen. Ich spürte nur den eisigen Regen auf meinen Wangen, den Wind und wie unangenehm meine Jacke an meinem Rücken klebte,
bevor ich die Tür öffnete und einstieg. Kaum hatte ich mich angeschnallt, fuhr der unbekannte Fremde an und rauschte mit mir davon. Das böse Erwachen folgte erst etwas später – nämlich, als mein Hirn fünf Minuten Zeit zum Trocknen gehabt hatte. War ich eigentlich wahnsinnig geworden? Ich biss mir auf die Unterlippe. Wie lange kannte ich diese Person schon? Ich traute mich gar nicht, mir das selbst zu beantworten. Zeitgleich erinnerte ich mich an die Menge der Personen, die jedes Jahr vermisst wurden und nie
wieder nach Hause kamen. Ein viel zu wirksames Gegengewicht, das eine gewisse Beklommenheit in mir aufsteigen ließ. Sie brachte mich dazu, einen vorsichtigen Blick in das Gesicht meines Fahrers zu werfen. Er schien mich im selben Moment beobachtet zu haben, denn unsere Blicke trafen sich kurz und intensiv. Dann ruckte sein Kopf ertappt nach vorn, um sich wieder auf die Straße zu konzentrieren. „Also?“, fragte er dann. Er klang nervös und ich betete dafür, dass dies kein schlechtes Zeichen war. Was war nur in mich gefahren? Gewaltverbrechen am Straßenrand. Ich sah die Schlagseite in der Zeitung
schon vor mir. „W-Was?“, stammelte ich. Mein Mund war staubtrocken. Nun lachte er. „Wohin soll ich dich bringen?“ Ich war mir noch nie in meinem Leben so blöd vorgekommen. Nachdem ich ihm die Adresse genannt hatte, blickte ich mich um. Das Auto wirkte auch von innen sehr gepflegt. Es war die günstigere Ausstattung ohne Leder, deren Sitzbezüge ganz in dunkel gehalten waren. Am Spiegel baumelte ein grünes Duftbäumchen, das erstaunlich gut zur Lackfarbe des Wagens passte. Es verströmte einen sanften, künstlichen
Apfelduft, der dem Ambiente eher schadete. Das hier war definitiv kein Raucherauto. „Danke“, sagte ich schließlich. Ich musste ein Gespräch starten, sonst wurde ich vor Angst noch wahnsinnig. „Fürs Mitnehmen, meine ich.“ Mein Satz entlockte ihm ein Lächeln, das mich sofort zurück an jenen Tag versetzte, an dem wir uns zum ersten Mal getroffen hatten. Ich sah die kleine Gasse vor mir und die bedrohlichen Typen, wie sie um die Ecke verschwanden. Mit dieser Erinnerung vor Augen entspannten sich meine Schultern etwas, denn verglichen mit ihnen wirkte mein Gegenüber sehr
vertrauenserweckend. „Kein Problem“, erwiderte der Mann. „Ich kam gerade vorbei und habe dich an der Haltestelle gesehen. Da dachte ich, revanchiere ich mich für deine Hilfe von neulich.“ Er hatte mich also auch noch nicht vergessen. Irgendwie fühlte ich mich geschmeichelt. „Ist das dein Auto?“, fragte ich nach. „Ja“, erwiderte er. Sein Blick blieb unablässig auf die Straße gerichtet. „Ich habe es heute gekauft.“ „Echt?“ „Du bist mein erster Passagier“, lachte er. „Oh“, machte ich entsetzt. „Und ich
tropfe dir schon mit meinen nassen Klamotten die Sitzbezüge voll!“ Ich machte Anstalten, mich aus meiner Jacke zu schälen, als er mir nun doch einen Blick zuwarf. Er war noch immer nervös, aber auch warm und einladend. „Nein, nein. Keine Sorge“, sagte er schnell. „Du trocknest doch wieder.“ Mit seinen Worten drehte er die Heizung höher, als wollte er den Vorgang damit beschleunigen. „Also kommst du gerade vom Autohaus“, stellte ich fest. „Von einer Privatperson“, korrigierte er mich. „Ich habe gestern eine Zeitungsannonce gesehen, in der jemand in der Nachbarstadt sein Auto verkaufen
will.“ Jetzt grinste er wieder. „Und ich brauchte ein Auto. So kam eines zum anderen.“ Darüber musste ich lachen. „Dann herzlichen Glückwunsch“, meinte ich. „So eins hätte ich auch gern als meinen ersten Wagen. Es ist echt gemütlich.“ Vielleicht nicht unbedingt die Limousine, die man sich für später erträumte, aber in unserem Alter reichte das vollkommen. „Machst du gerade den Führerschein?“, erkundigte der junge Mann sich und ergriff meine Gesprächseinleitung damit
sofort. „Nein“, gab ich zurück. „Keine Kohle.“ Er gluckste. „Mach dir nichts draus. Ich habe auch Jahre gespart, um mir den hier kaufen zu können. Mit viel Feilschen, versteht sich.“ Ich wollte ihn fragen, wie alt er war, aber das erschien mir zu persönlich. Ich hatte einfach keine Erfahrung mit sowas. Natürlich gab es Jungs in unserer Klasse, aber mit denen führte man nie so befangene Gespräche. Ihm gegenüber wusste ich hingegen kaum, was ich fragen durfte und was nicht. Seine Gegenwart machte mich irgendwie unsicher. Audrey hätte diese Gelegenheit
sofort genutzt, um gemeine Lieder zu singen und mich damit auf die Schippe zu nehmen. „Wie heißt du?“, war stattdessen meine Frage. Das war auch persönlich, klang aber nicht so nach einem Flirt. „Josh“, erwiderte er. „Josh Grayson.“ Und so hatten die fremden, blauen Augen schließlich einen Namen bekommen. Josh. „Ruby Bennington“, stellte ich mich vor. „Schöner Name“, bemerkte Josh. „Wie der Edelstein.“ Ich spürte, wie ich errötete. „Danke“, nuschelte ich. Darauf folgte eine peinliche Stille. Keiner von uns schien zu wissen, wie er
das Gespräch fortsetzen sollte. Ich konnte nicht behaupten, dass Antisympathie der Grund dafür war, denn Josh war wirklich nett. Ich mochte die selbstverständliche Art, mit der er neben mir saß. So als gehörte er dort schon ewig hin. Und natürlich war ich 17. Ich schaute romantische Filme mit meiner Mutter und träumte, wie jedes Mädchen in meinem Alter, von der ersten Liebe und all ihren Details. Nur leider hatte ich keine Ahnung, woran man merkte, ob man einander wirklich sympathisch war. Ich war einfach nicht gut darin. Josh schien es genauso zu gehen, denn er kratzte in der kurzen Stille ganze zwei Mal nervös seinen Nacken. Ich fürchtete
schon, bald so wortlos zu Hause wieder aus dem Jetta steigen zu müssen, als das Radio mir den rettenden Anker zuwarf: Einen Song, den ich kannte. „Der ist gut“, sagte ich schnell. Ich spürte, wie Josh sich neben mir sichtlich entspannte. „Du kennst ihn?“, wollte er wissen. „Der war in den Charts, glaube ich.“ Ich hatte schon bemerkt, dass wir die ganze Zeit irgendein Album hörten. Die Instrumente waren hart und laut, aber die Texte teilweise viel tiefsinniger, als ich es ihnen zugetraut hätte. Ich hatte eine Vermutung gehegt, um welche Band es sich handelte, und mit dem jetzigen Song nun
Gewissheit. „Die sind gar nicht übel“, fügte ich an. Meine Worte schienen Josh zu gefallen. „Ich mag sie auch. Meine Lieblingsband, denke ich“, gab er zu. „Die meisten finden sie kontrovers, aber ich finde, man muss ihnen nur mal zuhören.“ Er zuckte die Schultern. „Es gibt echt viele, die sich über sowas aufregen, oder?“, fragte ich rhetorisch. „Dabei ist es doch nur Musik.“ Josh ließ für einen Moment nachdenklich das Lenkrad durch seine Hand gleiten, ehe er lächelte. „Stimmt“, gab er zurück. „Das gefällt mir. Es ist nur
Musik.“ Als wir an der kleinsten aller Seitenstraßen vorbeikamen, hob ich schließlich den Finger. „Dort musst du reinfahren“, sagte ich. „Der Hof, auf dem ich wohne, ist noch ein ganzes Stück geradeaus im Nirgendwo.“ Während Josh einlenkte, runzelte er die Stirn. Dann sah er mir direkt ins Gesicht. „Du bist das Mädchen vom Hof?“, fragte er, als wäre das etwas ganz besonders Eigenartiges. Ich konnte den Ton in seiner Stimme nicht recht interpretieren, aber er entrüstete mich. Was sollte das
denn heißen? Das Mädchen vom Hof? Tratschte man etwa über uns? „Ja“, erwiderte ich unsicher. „Wieso?“ Er sah aus, als hätte er sich am liebsten auf die Zunge gebissen. „Nichts“, gab er zurück. „Ich habe mich nur gewundert, weil ich dachte, du wohnst in der Innenstadt.“ Sein Lächeln war entwaffnend. „Ich glaube, ich habe dich schonmal irgendwo gesehen.“ „Ja, letzte Woche“, war meine Antwort. So ganz hatte ich ihn für den Kommentar von eben noch nicht vom Haken gelassen, aber ich wollte auch nicht so sein. Ihm war diese Situation genauso peinlich wie mir, das merkte man. Da
sagte man dumme Sachen, oder? Josh gluckste wieder. „Du arbeitest bei Harrison’s, hast du gesagt?“, wollte er wissen. „Hat der auch Schuhe?“ „Ja.“ Ich nickte. „Im Moment ist sogar Sale. Brauchst du welche?“ Josh dachte kurz nach. „Eigentlich schon“, gab er zu. „Ich muss nur sehen, ob das Auto mir noch Budget lässt, das ich zusammenkratzen kann.“ Dafür erntete er mein ehrliches Mitgefühl. So ging es mir jeden Samstag vor dem Bäcker, der diese köstlichen Kuchen
verkaufte. „Vielleicht komme ich mal vorbei“, fügte Josh hinzu. Seine Stimme war versöhnlich, deswegen nahm ich nicht an, dass er das ernst meinte. „Gern“, erwiderte ich trotzdem, um ihn nicht abzuschneiden. „Ich bin immer samstags da.“ Da wirkte er schon etwas ernster. „In Ordnung.“ Ich ließ mich vor der Einfahrt absetzen und nicht direkt vor der Haustür. Das hatte zwei gute Gründe. Zum ersten wollte ich nicht, dass Josh sich möglicherweise auf unserem ungepflasterten Hof festfuhr, und zum
zweiten musste ich unter allen Umständen verhindern, dass Mum ihn sah. Wenn das geschah, konnte ich für nichts mehr garantieren. Sie würde vermutlich nie mehr aufhören, mich zu löchern. Ich wollte es mir gar nicht ausmalen, also stieg ich geschwind aus dem Wagen, als Josh zum Stehen gekommen war. „Vielen Dank nochmal“, sagte ich freundlich. Josh hatte die Scheibe heruntergekurbelt, um sich zu verabschieden. „Gern geschehen“, erwiderte er. „Ich hoffe, du erkältest dich nicht.“ Das war sehr nett. „Ach, ich bin hart im Nehmen“, gab ich
zurück. Im gleichen Moment bemerkte ich eine Bewegung im Augenwinkel. Es war die Gardine in der Küche. Mum hatte ihren Wachtposten am Fenster eingenommen. Oh nein, schoss es mir durch den Kopf. Am liebsten hätte ich laut gestöhnt. „Komm gut heim“, wünschte ich Josh, bevor ich mich aufrichtete und schließlich ins Haus ging. Es hatte immer noch nicht aufgehört zu regnen, doch das kalte Nass wirkte viel einladender als noch vorhin. Immerhin wusste ich jetzt, womit ich unweigerlich den Rest dieses Abends verbringen würde, sobald ich die Küche betrat: Damit, von Mum im Detail zu Josh
befragt zu werden und mir den Kopf darüber zu zerbrechen, wer um alles in der Welt über uns tratschte.
Das war eine Leseprobe des Romans "Wolf - Under your Skin". Hat sie dir gefallen? Dann freue ich mich über einen Kommentar! :-)
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Wird Ruby eine Beziehung zu Josh aufbauen können? Und was lauert unter
seiner Haut? Erfahre es in 26 weiteren, spannenden Kapiteln!
Deine Ellen Hunter / Virginia E. Gray