Der Auftrag ging, wie es Rooster nicht anders erwartete an Sabriel. Und wie der Rotschopf überhaupt nicht daran dachte, auch an Akaris Onkel Haston. Dieser Simon Haston kannte sich ausgezeichnet mit alten Schriftstücken aus und war bereits im Center aktiv, bevor Felizitas zur Direktorin wurde. In der alten Garde verschaffte er sich den Ruf eines Eigenbrötlers und Bücherwurms, allerdings stets voller Hochachtung für seine Arbeit im Center. Sein hauptsächliches Problem bestand wohl
eher darin, nicht ins einundzwanzigste Jahrhundert hineinzupassen. Zwar war Sabriel ebenfalls ein ausgemachter Bücherwurm, wobei sie nichts gegen ein Handy, oder einen Computer, sowie schicke Motorräder einwendete. Früher brachte die Mutter ihr einmal bei, dass Bücher schon immer geschrieben wurden um das Wissen für die Zukunft zu bewahren, und nicht das Wissen der Vergangenheit zu katalogisieren. Mit dieser Einstellung prallte sie förmlich gegen ihren Partner bei diesem Auftrag. Wahrscheinlich war dies auch der Grund, weswegen der Schweizer Gardist etwas ungläubig die beiden
Männer begutachtete. Jedoch wollte Felizitas keine Schwierigkeiten und ordnete Sabriel an, ihre männliche Identität zu nutzen. Im konservativen Vatikan hätte sie es dann vermutlich leichter. Was völlig unsinnig war. Das Archivum Secretum Apostolicum Vaticanum, die zentrale Sammelstelle für alle vom heiligen Stuhl erlassenen Gesetze sowie die diplomatische Korrespondenz des Vatikans, ließ bereits seit dem siebzehnten Jahrhundert Wissenschaftler mit einem Empfehlungsschreiben einer Universität, oder anderen Forschungsstätten Einlass in diese Institution. Wenn es in dieser Zeit nicht
einer Frau gelang die fünfundachtzig Regalkilometer zu Gesicht zu bekommen, dann würde Sabriel freiwillig ein Ballett-Tütü tragen. Umso länger die Astrontochter mit Rooster zusammen war, desto unangenehmer wurde ihr der Aufwand sich nicht bequem zu kleiden. Niemals würde sie auf Rüschen stehen, oder gar Rosa. Nein, ihre Geschmacksrichtung orientierte sich an Tops und Caprihosen. Schön schlabberig, und für endlose Lesestunden hervorragend geeignet. Nur, wenn sie solche Sachen trug, sah man ihren Busen, und eine ausgesprochen hübsche Taille mitsamt dem dazugehörigen
Hintern. Die Temperatur fühlte sich in Italien noch recht warm an. Die heißen Sommermonate gingen bereits vorüber, jedoch brachte die Sonne noch ausreichende Energie auf, damit man keine Jacke benötigte, jedenfalls wenn man kein Südländer war. Einen weiten, schwarzen Pullover und eine steife Baumwollhose mit der Bezeichnung unförmig, aber zum Glück gerade noch bequem, trug Sabriel. Die aschblonde Mähne sah struppig aus und auf eine Art zusammen gebunden, sodass man zweimal unter die Hornbrille schauen musste, ob sich darunter doch eine Frau verbarg oder nur ein Mann, der
aber lediglich an der letzten Modeagentur falsch abbog. Das gesamte Gespräch übernahm Haston, denn sein Italienisch war ganz passabel. Dabei glaubte Sabriel sich zu erinnern, dass die graue Maus vor ihr sechs, oder gar acht Sprachen beherrschte. Das war auch der Grund weswegen sie sich Zeit nahm, und kurz die Aufstellung der Hauspolizei des Vatikans durchging. Die kleinste Arme der Welt, die gerade einmal die Stärke einer Kompanie vorweisen konnte, war vornehmlich für die Sicherheit des Papstes zuständig und bestand aus katholischen Schweizern im Alter zwischen neunzehn und dreißig Jahren. Die Eingänge zur Vatikanstadt
bewachten sie, beschützten den heiligen Vater auf Schritt und Tritt, und verrichteten Ehrendienste. Der Vatikan verhielt sich nicht dumm. Die Geistlichen wussten genau, dass zwei Magier die Bibliothek betreten wollten, immerhin suchte Vilon nach nicht christlichen Familien, welche der heiligen Stadt mehr als nur ein einziges Mal auf die Kutte trat. Diese einhundertzehn Männer, selbst wenn sie alle mobilisiert werden konnten, dann hätte Sabriel genügend Spaß an der ganzen Sache gehabt. Der Mann in der blauen Uniform vor ihr steckte sich wahrscheinlich Pfefferspray in die Innentasche, und irgendwo eine
halbautomatische Handfeuerwaffe der Marke SIG P220. Mit einem Sturmgewehr Kaliber neunzig und dem jeweiligen Maschinengewehr mit den Bezeichnungen MP5, oder einer M P7, würde hier bestimmt keiner herumballern. Bei den ganzen Kostbarkeiten würde sie hingegen auch keinen einzigen Funken zünden. Schon im sechzehnten Jahrhundert gewannen die Schweizer an Berühmtheit für ihr Können. Einige aus den fünf Familien machten üble Erfahrungen mit ihnen. Es gab auch Zeiten, in denen diese beiden so genannten Vereine Hand in Hand arbeiteten. Ein Beispiel dafür war
das Datum am 6. Mai 1527, bei der Plünderung Roms. Hätten die fünf Familien und die Gardisten an diesem Tag nicht zusammen gearbeitet, dann wären wahrscheinlich mehr als drei Viertel der Garde, oder der Familien vernichtet worden. Im Grunde war weder Haston noch sie auf Krawall gebürstet aus, jedoch seitdem Napoleon 1810 die Bibliothek nach Paris verlegte und beim Rücktransport zwischen 1815 und 1817 die fünf Familien für empfindliche Verluste sorgten, wurden die Bewohner des Vatikans äußerst vorsichtig. Da die Offenlegung und die Katalogisierung des Archivs immer
weiter vorangetrieben wurden lag beiden Fraktionen, der Christen und Magier sehr viel daran, dass es nicht zu unnötigen Skandalen kam. Sowieso wunderte sich Sabriel, wie Vilon mit diesen Dokumenten hier Ein- und Ausgehen konnte. Aber genau dies war ja ein Grund, weshalb sie mit Haston die nächsten drei Tage in den modernen Büchercontainern der Bibliothek verbringen musste. Streng musste die verkleidete Frau ihren Arm an den Körper pressen, weil Otto-Fritz-Peter damit anfing zu nerven. Eine Hand ergriff ihr Handgelenk, und half fürsorglich den kräftigen Büchergeist zu kontrollieren. Jetzt blickte sie auf und
erkannte die sumpfig grünen Augen von Haston, die hinter einer ovalen Brille hervorstrahlten. Dabei machte er keinen Hehl daraus, dass er sie nicht dabei haben wollte. Doch Julian und er verstanden sich erst recht nicht miteinander, und Felizitas blieb unumstößlich die Chefin. LEIDER! „Ärger?“, fragte Simon Haston tonlos. „Er meint die Menschen haben keine Manieren, weil die Bücher hier ihres Lebens beraubt werden“, flüsterte Sabriel. „Sie können es nicht anders. Zu Hause kümmern sich die Büchergeister um die Bücher und Aufzeichnungen. Hier
müssen die Menschen ohne Magie hilflos zusehen, wie diese Werke nach und nach zerfallen und der Natur zurückgegeben werden. Deshalb diese technischen Undinger.“ „Wir sind da. Bis hierher und nicht weiter. Die letzten Aufzeichnungen des Kardinalskollegiums vor achthundert Jahren sind hier“, brummte der Gardist und stellte sich mit solchem Nachdruck vor die Besucher, dass Simon um ein Haar gegen den Rücken des Mannes gelaufen wäre. „Wir sind hier falsch. Das Kloster Aureus sucht Aufzeichnungen von 1700, nicht von 1200“, meinte Haston im Brustton der
Überzeugung. Argwöhnisch zog der Gardist eine seiner buschigen Augenbrauen hoch. „Ich dachte, ihr sucht etwas über die Balthasarfamilie.“ „Muss jeder Gelehrter der aus Falkenstein kommt, sich gleich mit solch einem Humbug befassen. Mit Dämonen oder Märchen, will ich nichts zu tun haben “, maulte er, und verdrehte entnervt und misstrauisch die Augen. Dieser Gardist war scharfsinnig, denn er schien die Geschichte der Balthasar zu kennen. Nach der Hexenverfolgung ging eine ganze Weile das Gerücht um, die verfluchten Balthasar hätten sich mit einer Adelsfamilie verbündet, um
weiteren Schaden abzuwenden und unterzutauchen. Niemand nahm dieses Gefasel wirklich ernst, allerdings wurde jede Familie von Falkenstein gehässiger Weise darauf angesprochen. Vor allem, wenn sie diese heilige Stadt betraten. „Es ist albern und unsinnig, aber realistisch gesehen, handelt es sich beim so genannten Balthasarfluch der Kirche eher um die ersten Krebsaufzeichnungen. Eine tödliche Krankheit würde ich jedenfalls nicht als vatikanische Strafe, oder Fluch ansehen“, schimpfte der Begleiter von Lucas weiter und so allmählich stieg in ihr der Wunsch auf den Typen neben ihr ins Labyrinth zu stecken, damit er die Macht von
Falkensteins in vollem Umfang kennen lernte. „Genau wegen solchen Gerüchten sind wir hier. Die Aufzeichnungen von Herrn Vilon könnten dafür sorgen, das die Lokalpresse wieder mal schmutzige Wäsche wäscht, wo keine ist.“ Der Gardist sah Luca in die Augen, doch er hielt dem Stahlgrau stand. An ihr hatten sich schon einige Männer die Zähne ausgebissen und keiner erfuhr jemals, dass sie einer Frau unterlagen. Diese Situation würde sich auch heute wieder ergeben. „Dann müssen wir in einen anderen Abschnitt gehen“, gab der Gardist schlussendlich nach, behielt jedoch Luca
und nicht den erfahrenen Simon im Auge. Die beiden wurden in einen Container mit den entsprechenden Daten geführt. Es war stickig und eng in diesem Aufbewahrungsmechanismus. Der vertraute Geruch von altem Papier war dominant, jedoch vermisste Luca die Atmosphäre von alten Regalen, barocken Schnitzereien und die Magie des Alters. Eigentlich plante sie den Büchergeist ihres Freundes im Eingang der Container unbemerkt frei zulassen, nur leider verhielt sich der Gardist absolut aufmerksam. Obendrein wurde dieser Typ während der gesamten ersten Recherche zur Beobachtung abgestellt. Somit ergab sich die Konstellation, dass
Simon Haston, ein Schweizer Gardist und sie auf minimalem Raum drei Tage lang irgendwie miteinander klar kommen mussten. Und Kais Vorahnung bestätigte sich: Diese gesamte Situation missfiel ihr jetzt schon überaus deutlich, und es würde noch viel schlimmer kommen.