Der Bibliothekar
Für Sokrates.
Eine kleine, aber elegante Bibliothek im Barocken Stil und ein im Zentrum des Raumes stehender, mit grünem Leder bezogener Stuhl -davor, der Blick ins Freie. Seit nun mehr als 10 Jahren kommt Humbold jeden Morgen hierher, setzt sich - bewaffnet mit einer Tasse weissem Kaffee- und sieht still in die Ferne.
Das halbrunde, geschlossene Fenster ließ ihm stets Raum zum Nachdenken und Träumen.
Ein Vorhang aus dichtem Nebel und Kondenswasser umschließen dieses melancholische, pitoreske Bild von außen.
Jeden Vormittag sehe ich ihn dort sitzen und schweigen. Traurig und Faszinierend zugleich und doch ist er nur noch ein Abbild seiner selbst. Manchmal höre ich Ihn bis spät in die Nacht -ich bin ein sehr unruhiger Schläfer-
aus seinem Arbeitszimmer.
Auf- und ablaufend, fluchend, hämmernd und dann plötzlich wieder still, als wäre er vor
Ansträngung letztlich doch seiner Müdigkeit erlegen.
Morgens pfegte er stets pünktlich um neun aufzustehen. Munter, als hätte er 2 Tage hindurchgeschlafen, auch wenn ich ihn in der Nacht zuvor bis drei- oder gar vier Uhr noch habe Arbeiten hören. Der ersten Tasse Kaffee folgte ein Waldspatziergang, nur um danach, mit einer weiteren Tasse frisch gebrühtem Kaffee, direkt in seinem Bibliotheks-
sessel zu versinken. Er sprach nur noch sehr wenig und antworet meist Einsilbig oder gar nicht. Stets von eigenen Gedanken erfasst und geplagt ging er nun schon seit 10 Jahren seinen eigenen Weg.
Es begann an dem Tag, an dem seine Frau verstarb. Woran wollte er uns nie Sagen und auch die Ärzte bat er jedem gegenüber um
Schweigepflicht. In privaten Dingen war er stets
sehr verschlossen, dass ist eine der Eigenschaften, die er nie ablegte. Nur seiner Frau gegenüber sprach er über alles. Und seit diesem Tag, dem Todestag seiner Frau, verließ
ihn jeglicher Lebenswille, jegliche Freude, die er vorher bei so vielen alltgäglichen Dingen des Lebens empfand, schien mit einem male Erloschen. Er Redete von Tag zu Tag weniger und saß immer länger in seinem Stuhl. Solange, bis er eines Abends aufstand und begann wieder zu Arbeiten. Auch hierüber Sprach er mit keinem von uns. Nach einigen Monaten richteten wir uns also damit ein, dass er zur Zeit lieber auf sich allein gestellt sein möchte. Dass dies allerdings zehn volle Jahre, bis zu seinem verschwinden so bleiben würde, damit rechnete keiner von uns.
Als er einmal vier Tage und Nächte in seinem Arbeitszimmer verbrachte und wir uns schon Sorgen um ihn machten, begab ich mich
schließlich am dritten Abend in sein Arbeitszimmer. Was mich verraten hatte, wusste ich nicht, aber als ich sein Zimmer betrat, sah ich ihn ruhig an seiner Werkbank sitzen, und Fragend zu mir hinüberschauen. Eine offensichtlich hektisch aufgebrachte Plane entzog einem jede Information und deutete darauf hin, dass er jemanden erwartet hatte.
Nur seine Notizen waren überall auf dem Boden verteilt und enthielten lange, für einen leihen unleserliche, mathematische Formeln
sowie einige Skizzen, die allerdings nicht nach mehr aussahen als ein paar elyptischen Zylindern mit mir unbekannten Maßangaben.
Ich fragte nach seinem Befinden und er sagte nur es gehe ihm gut und dass er große Fortschritte bei seiner nächsten abhandlung
mache, er uns aber noch nicht sagen könne, worum genau es geht. Danach drehte er sich um und schrieb weiter an seinen Notizen.
Vor dem Unfall war er, wie bereits erwähnt, ein sehr Lebensfroher und geselliger Mensch. Er war jemand, der sich seine Freunde sehr genau heraussuchte, jemand der gern schwieg wenn andere redeten und er analysierte stets sein Umfeld, was wir als Folge seiner Liebe zur Mathematik sahen. Gewiss einer der großartigsten Mathematiker unserer Zeit -immerhin Bewies er die unsinnigkeit stochastischer Annahmen und -Rechnungen und revolutionierte so das gesammte Spektrum der modernen, angewandten Mathematik. Oft lud er uns zu langweiligsten, Vorlesungen ein, die wir uns -mehr wider als für- dann unter Gähnen gemeinsam mit ihm anhören durften. Und selbst hier schaffte er es, uns jedes mal eines besseren zu belehren, indem er so Fasziniert über Mathematik sprach, dass ein Teil dieser fast auratischen Faszination direkt auf uns überschwappte -wenngleich wir gewiss nur wenig verstanden.
Der Morgen seines verschwindens setzte ein mit einem Lauten Knall, gefolgt von grellen Lichtblitzen und anschließender Ruhe. Unnatürlicher Ruhe. Erst stunden später, nachdem wir das gesamte Haus abgesucht und längt die Polizei gerufen hatten, setzte die Natur den Lauf ihrer Dinge fort und die Vögel begannen wieder ihr unwesen zu Treiben.
Erst einige wochen später, als uns klar wurde, dass er wohl nicht wiederkommt, fand ich seinen Brief unter meinem Bett.
Auch wenn ich bis heute nicht weiss, wie er ihn dahin bekommen hat.
Der Brief
Es tut mir Leid Alfred, aber ich musste einfach einen Weg finden. Ich hinterlasse Ihnen all meine Besitztümer,all meine Bücher und Schriften, alles, was jeh in meinem Besitz war und -ist soll Ihnen gehören, mein guter Freund.
Nach meinen Berechnungen sollte ich heute vor 30 Jahren eintreffen, jung, dynamisch und in der Blüte meines Lebens. Bereit, die Liebe meines Lebens erneut zu Leben. Jede Minute, jede sekunde werde ich aus vollen Zügen genießen.
Ich schreibe diesen Brief in aller Eile und -kürze, da ich meine Rückkehr kaum noch erwarten kann. Verzeihen Sie mir diesen Umstand, aber ich denke Sie Begreifen meine Unruhe. Wünschen Sie mir Glück und ich Ihnen ein glücksseeliges Leben.
Ihr D. Humbold
Epilog
Es hatte tatsächlich funktioniert! 20 Jahre zurück! Er war wieder in seinen 30ern und stand für einen Moment da wie Sokrates, der gerade herausgefunden hat, dass er weiss, dass er nichts weiss.
Die Freude auf seinem Gesicht, als er sie sah, war unbeschreiblich. Ihm liefen Tränen des Glücks über Wangen und er umarmte
sie Tief und Innig.
Ende