Von Zahlen und Buchstaben
Mein Zimmer betrat Aslan nur ausgesprochen selten. Seine Kultur gestattete es ihm nicht, dass eine verheiratete Frau mit einem anderen Mann alleine den Raum teilte. Nun lebte er schon so viele Jahre bei uns, doch die Grundpfeiler seiner Herkunft würden sich immer zeigen.
Heute Abend waren wir sogar vollkommen alleine im Haupthaus. Ein Gefühl der Beklemmung drückte auf meine Brust. Wir würden Kai und Mia erst morgen nach Hause holen, und solange blieb ich hier alleine nur mit
meinem guten Freund Aslan. Seine Miene war besorgt. Eine lange Zeit musste er mit sich gerungen haben, bis er mit mir das Gespräch suchen konnte.
Die Uhr schlug bereits weit nach zehn, und deshalb befand ich mich schon im Nachtgewand und Morgenrock. Hingegen trug er wie immer seine indigofarbene Kleidung. Also legte ich mein Buch beiseite, und bat ihn ins angrenzende Zimmer hinein. Dort fand ich ein zu meiner Überraschung noch brennendes Feuer im Ofen vor, und eine warme Decke für meine Beine lag im Sessel.
"Es wird mir nicht gefallen, was du mir zu erzählen hast", stellte ich fest und setzte
mich.
Im verwaisten Sessel meines Mannes nahm Aslan Platz, wie so oft, wenn wir miteinander ernste Dinge besprachen.
"Kai-Alexander ist ein guter Junge. Er versucht dich zu beschützen", raunte mein Freund, und reichte mir eine Notiz. Ich blinzelte, denn zuerst konnte ich mit dem Wirrwarr aus Zahlen und Buchstaben überhaupt nichts anfangen. Also überließ ich Aslan das Wort.
"Keine Ahnung woher er diese Nachricht hat, aber sie führt ihn direkt in die Arme der Schweizer Garde."
1L3K, MALL
1B1K,3L,1K11/4
0,1B1K,1L3K
1L1K,1L3K,NULL,3L1L3K,2L2K
"Ist es etwa eine Kombination für die verschlossenen Büchertresore?"
Im Gegensatz zu uns Magiern, brauchte der Vatikan keine Büchergeister, welche ihre uralten Dokumente vor dem zeitlichen Zerfall schützten. Dafür entwickelten sie aufwändige Systeme der Lagerung, damit die Pergamente und Bücher optimal aufbewahrt werden konnten. Die brisantesten Dokumente waren zusätzlich mit verschiedenen Sicherungen bestückt, welche wir hin und wieder umgehen mussten. Im Fall Vilon würde es eventuell dazu kommen
müssen.
"Lies es laut, hübsches Mädchen", bat mich Aslan, und das tat ich auch. Mehrfach sogar. Weil das mir nicht wirklich weiterhalf, gab er mir das Schreibheft von Mia in die Hände. Am Anfang erkannte ich nur ihre literarischen Stilblüten. Zur Übung gab ich ihr die Aufgabe wiederholt kurze Sätze aufzuschreiben, welche ihr in den Sinn kamen. Die Ergebnisse waren zahlreich und ... nun ja, recht eigenwillig.
Unter der Woche wohnt Gott im Himmel. Nur Sonntag kommt er in die Kirche.
Ein Kreis ist ein rundes
Quadrat.
Ein Pfirsich ist wie ein Apfel mit Teppich drauf.
Nachdem Aslan mich immer durchdringender ansah ging ich seine Hinweise nochmals logisch durch, und betrachtete mir ausführlich das Schriftbild von Mia.
"Mia beschreibt beim Schreiben immer noch die Buchstaben."
"Genau wie Alex damals, als du ihr das Lesen beigebracht hast", bestätigte mich der Araber und ich begann sofort mit der Übersetzung.
Beschrieb man jeden einzelnen Großbuchstaben des Alphabetes konnte
sich Folgendes daraus ableiten:
Die Buchstaben hinter den Zahlen beschreiben jeweils die Länge der zu gebrauchenden Striche für einen Buchstaben. l = lang, k =kurz, m = mittel, B = Bogen.
Natürlich gab es kleine kreative Abweichungen bei den Buchstaben: G, H,J, P, Q und X
G = 1K 1,3/4 O N= 3L
Somit ergab sich aus dem Text folgende Nachricht: EX UNGUE
LEONEM
"An den Krallen erkennt man den Löwen."
Eine Pause des Schweigens entstand. Diese Botschaft musste ich erst einmal sacken lassen. Wenn ich Kai außer Acht ließ wussten nur fünf weitere Personen, was es mit diesem Spruch auf sich hatte. Die Nachricht erhielten Aslan und ich gerade eben erst und da mein Mann bereits verstarb, konnte es also nur mein Sohn, oder seine Frau niedergeschrieben haben.
Die Decke kam wie gerufen, denn es schüttelte mich vor Entsetzen. Natürlich bemerkte ich auch die Attribute auf dem Wasser am See und dennoch, solange ich
meine Kinder nicht sehen und anfassen konnte, war es zu gefährlich seiner eigenen Hoffnungen nachzugeben. Die Sache mit dem Vatikan war ja schon über zehn Jahre her. Diese Nachricht konnte deshalb vor ihrem Verschwinden entstanden sein.
"Benötigst du Riechsalz, oder etwas Alkohol?", fragte Aslan sichtlich um mein Wohl besorgt.
Völlig erschöpft sank mein Kopf an die Lehne des Ohrensessels. Dann nahm ich meine Brille ab, und versuchte die wilden Punkte vor meinen Augen zu verdrängen.
"Reich’ mir deine Hand damit ich weiß, dass es real ist und kein böser
Traum."
Darauf tat er worum ich ihn bat, und sprach mit bekümmertem Tonfall: "Hübsches Mädchen, ich muss gestehen, es war nur ein Teil der Nachricht. Leider vernichtete Kai den Text, ehe ich mehr sehen konnte."
Etwas Kaltes rollte über meine heißen Wangen. Erst nach langem Schweigen fand ich meine Sprache wieder, indem Aslan nicht von meiner Seite wich.
"Er ist ein guter Junge, und er will uns beschützen."
"Oder er ist ein riesengroßer Dummkopf."
Gut, dass ich Kai-Alexander Hausarrest gab.