Dies ist eine Leseprobe aus dem Buch "Seelenpferd - Ein Sommertraum".
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„Da wären wir auch schon!“
Die Autotür krachte, als Romina sie unsanft zuschlug. Ihre Tante Emmi war derweil schon herbeigeeilt, um das Gepäck auszuladen – drei große, schwarze Reisetaschen, prall genug gefüllt, um den Reißverschluss zu spannen. Bei diesem Anblick musste Romina unwillkürlich stöhnen. Da war sie nun, mitten im
Nirgendwo! Sie wusste noch gar nicht, wie schlimm es wirklich sein würde, denn sie hatte sich bisher nicht getraut, sich umzuschauen. Stattdessen stand sie eine Weile lang nur da und umklammerte den kleinen Beutel aus Jeansstoff, den sie als Handtasche benutzte. Romina spürte das Gewicht ihres Handys im Inneren und das weckte sehnsüchtige Gefühle. Wie gern hätte sie Kathy geschrieben, dass ihre Mutter sie zwei Wochen zu ihrer Tante in die Pampa geschickt hatte! Die dachte jetzt bestimmt, Romina brutzelte irgendwo zufrieden in der Sonne, anstatt hier auf dem kahlen
Sandboden der alten Pferderanch zu stehen. Obwohl, ganz so verkehrt war das gar nicht. Es war so heiß, wie Romina es selten erlebt hatte. Sie trug nur ein kurzes, pinkes Top, aber nach der holprigen Fahrt in Tante Emmis altem Pick-up fühlte sie sich ganz verschwitzt. Außerdem tat ihr der Hintern weh. „Willst du dich nicht umschauen?“, fragte ihre Tante da auch schon. Sie hatte rotblondes Haar, das sie zu zwei Zöpfen gebunden trug, und ein schmales Gesicht. Es war von Sommersprossen und kleinen Fältchen durchzogen und machte sie damit etwas älter, als sie
wirklich war. Zumindest glaubte Romina das, denn Tante Emmi war die Schwester ihrer Mutter. Und die sah viel jünger aus. „Nein“, maulte Romina. Die ganze Zeit über wartete sie darauf, dass das Handy in ihrer Tasche vibrierte. Kathy könnte ihr schreiben oder Sophie. Aber Romina hatte schon die schlimme Vermutung, dass ihr Telefon hier gar keinen Empfang hatte. Was für ein Albtraum. Wie sollte sie nur zwei Wochen hier überleben? Tante Emmi lachte nur. „Ihr Kinder von heute.“ Sie hob die Reisetaschen, aber es fiel ihr
schwer. Deswegen eilte Romina nun doch zu ihr, um ihr eine davon abzunehmen. Ihre Mutter hatte genügend Kleidung für ein ganzes Jahr eingepackt, so kam es dem Mädchen vor. Sie hatte noch nie so eine schwere Tasche gesehen! Sie musste schnaufen und hieven, um das Gepäckstück Richtung Haus tragen zu können. Dabei fiel ihr Blick nun auch endlich auf das Gebäude, das in der nächsten Zeit ihre Heimat sein würde. Es war ein kleines Farmhaus mit einer hübschen, überdachten Terrasse, auf der ein Schaukelstuhl und eine Holzbank standen. Das Dach sah schon alt aus und blätterte an manchen Stellen. Dafür war der Koppelzaun frisch
repariert worden – Romina sah noch die neuen Nägel glänzen. Das Gelände um sie herum war so weit, dass sie sein Ende nicht erkennen konnte. Bis zum Horizont gab es nur Sand, Steine und ein bisschen Gras. Eine kleine Windmühle im Vorgarten ihrer Tante klapperte im Wind, ansonsten war es ganz still. „Ich will nach Hause“, jammerte Romina. Hier gab es ganz sicher keinen Handyempfang! „Dein Zimmer ist oben“, erklärte Tante Emmi, als sie das Haus betraten. Es war viel dunkler als draußen und der Großteil der Einrichtung bestand aus
Holz. Sogar der kleine Couchtisch sah aus, als hätte man ihn selbst gezimmert! Das Untergeschoss verband Küche und Wohnzimmer in einem Raum. Es war nicht sehr groß, aber irgendwie auch gemütlich. Die Vorhänge waren mit Blumen bedruckt und auf dem Esstisch stand eine Schale mit frischen Äpfeln. „Darf ich schauen gehen?“, wollte Romina wissen. Als ihre Tante nickte, stürmte sie auch schon los, um sich ihr neues Reich anzusehen. Es gab nur zwei Räume in der oberen Etage. Die Holztür knarrte unter Rominas Sohlen, während sie zwei Stufen auf einmal nahm, aber kaum
erreichte sie das Gästezimmer, war ihr ganzer Elan schon wieder verschwunden. Der Raum war einfach eingerichtet – ein Bett, ein Schreibtisch mit Stuhl, ein kleines Sofa und ein Kleiderschrank. Und kein Computer! Romina stöhnte noch lauter als zuvor auf dem Hof. Es stimmte also. Hier gab es so gut wie keine Technik. Ihr Raum hatte nicht einmal einen Fernseher! Das zweite Zimmer gehörte Tante Emmi und war deren Schlafzimmer, da wollte Romina nicht stöbern. Also ließ sie sich auf das frisch bezogene Gästebett fallen und ergab sich eine Sekunde lang ihrer Frustration. „Mama … Du bist gemein“, maulte sie
für sich. Es war einfach nicht fair von ihrer Mutter, sie hier auszusetzen. Bei dieser Gelegenheit fischte sie schnell das Mobiltelefon aus ihrem kleinen Beutel, um sehnsüchtig nach einer Nachricht von Kathy und den Anderen Ausschau zu halten. Fehlanzeige. Das Einzige, das Romina sofort entdeckte, war ein großer Kreis in der oberen Ecke des Bildschirms. Er war durchgestrichen. Sie hatte also keinen Empfang in diesem Haus und damit wohl auch nicht in der gesamten Umgebung. „Zwei Wochen …“, seufzte Romina und bemitleidete sich selbst. An der Wand neben ihrem Bett hing ein kleiner Kalender, der ihr die vielen Tage
schwarz auf weiß zeigte, die sie hier verbringen würde. Es waren 14 große Kästchen, jedes davon ein ganzer, langer Tag, den sie hier aushalten musste. Romina war der festen Überzeugung, dass sie diese Langeweile nicht überleben würde. „Romina, komm bitte runter!“ Tante Emmis Stimme war immer sanft, ganz egal, worüber sie sprach. Romina hatte ihre Tante bisher erst einmal gesehen, als sie noch sehr viel jünger gewesen war. Damals hatte Tante Emmi ihre Eltern besucht, weil sie geheiratet hatten. Seitdem waren einige Jahre vergangen, denn nach dem Tod ihres
Mannes bewirtschaftete Tante Emmi die Farm ganz allein. Wenn man so viele Tiere hatte, konnte man nicht einfach so verreisen. Immerhin mussten die Pferde gefüttert werden und brauchten jeden Tag neues Wasser. Während Romina ganz lustlos wieder ins Erdgeschoss schlurfte, bewunderte sie ihre Tante ein bisschen dafür, dass sie es hier ganz alleine aushielt. Aber gleichzeitig fand sie sie auch ein wenig verrückt. „Gefällt dir dein Zimmer?“, wollte Tante Emmi wissen, als Romina wieder in der Küche stand. Sie nickte widerwillig. Ihre Tante konnte ja nichts dafür, dass es Romina auf dem Land
nicht gefiel. „Ich habe dir ein Glas Milch eingegossen, du musst Durst haben. Und da stehen auch noch Kekse.“ Wenigstens gab es Süßigkeiten. „Was machst du hier den ganzen Tag?“, fragte Romina nun. Dabei schwang sie sich an den Esstisch und ließ einen der Kekse zwischen ihren Zähnen verschwinden. Er war mit Hafer und Schokoladenstückchen und schmeckte schön süß. Auch die kalte Milch tat bei dieser Hitze richtig gut. „Ach…“, antwortete ihre Tante und winkte ab. Dann wandte sie ihr den Rücken zu, um sich mit dem Abwasch zu beschäftigen. Das alte Rohr rauschte
laut, als sie das Wasser in die Spüle laufen ließ. „Hier gibt es den ganzen Tag was zu tun, du wirst sehen“, erzählte sie. „Ich muss die Pferde füttern und die Kaninchen. Und ich muss jeden Tag alles saubermachen.“ „Das heißt, dass du den ganzen Tag arbeitest?“, fragte Romina entsetzt. Ihre Augen mussten riesengroß geworden sein, denn Tante Emmi warf ihr über ihrer Schulter einen Blick zu und lachte laut. „Kann man so sagen, ja. Und dann muss ich ja auch noch kochen und hier drinnen putzen und die Farm instand halten. Die Koppel muss regelmäßig
repariert werden und die Ställe auch, sonst hauen die Tiere ab.“ Sie kicherte. „Du kannst morgen die Pferde striegeln, wenn du möchtest.“ Romina wollte die Pferde nicht striegeln. Sie wollte eigentlich überhaupt nichts auf der Farm tun, wenn alles nur Arbeit bedeutete! Sie war jemand, der am liebsten Spaß hatte. Zuhause in der Großstadt saß sie meistens den ganzen Tag vor dem Computer, wenn sie keine Schule hatte. Im Internet gab es so viel zu entdecken. Und wenn ihr das langweilig wurde, konnte sie immer noch mit ihren Freunden chatten. Aber hier gab es kein
Internet und auch keinen Empfang. Was sollte sie hier nur den ganzen Tag machen? Tante Emmi hatte ein Bücherregal an der Wand, aber lesen mochte Romina auch nicht. „Ich weiß nicht, wie man striegelt“, gab sie schließlich kleinlaut zu. Aber ihre Tante lächelte darüber nur. „Das macht nichts, das lernst du schnell.“ Als Romina am nächsten Morgen aufwachte, war Tante Emmi längst aufgestanden. Der Tag schien genauso brütend heiß werden zu wollen wie der letzte, deswegen kramte Romina erst einmal in ihrer Reisetasche, um die
Sonnenmilch zu finden. Sie hatte blondes Haar und deswegen helle Haut, da durfte man nicht ganz ungeschützt vor die Tür, wenn man keinen Sonnenbrand bekommen wollte. Während Romina sich gewissenhaft einschmierte, schaute sie vorsichtig aus dem Fenster. Es lag genau gegenüber ihrem Bett und war kreisrund, fast wie das Bullauge eines Schiffes, nur größer. Romina konnte fast die gesamte Koppel überblicken und, im Gegensatz zu gestern, heute auch die Pferde. Es waren mehr als zehn in allen möglichen Farben – braun, gescheckt, schwarz und eines war sogar ganz weiß. Sie hatten sich dem Zaun genähert und schienen darauf
zu warten, gefüttert zu werden. Tante Emmi kehrte derweil mit einer großen Harke altes Heu und Unrat zu einem Haufen zusammen. „Wie furchtbar“, seufzte Romina resigniert. „Es ist gerade zehn Uhr morgens und sie arbeitet schon!“ Auf dem Küchentisch stand ihr Frühstück bereit. Das war sehr nett, denn Romina schmierte sich ihre Brote für gewöhnlich selbst. Tante Emmi hatte ihr ein Glas Orangensaft eingegossen und einen ganzen Stapel Waffeln gebacken. Er war so hoch, dass er fast umkippte. Darüber musste Romina lachen. Wer sollte denn so viel essen?
Aber ihre Tante hatte es gut gemeint, also aß sie, bis ihr Bauch spannte und ein bisschen wehtat. Der Orangensaft war sauer im Vergleich zum Ahornsirup auf den Waffeln und schmeckte richtig gut. Romina wusste gar nicht, wann sie zuletzt so hungrig gewesen war. Bestimmt wegen der Landluft. Die Sonne begrüßte sie strahlend hell und schon fast genauso heiß wie gestern Nachmittag, als Romina schließlich vor die Tür trat. Heute ging ein zarter Wind über die Umgebung und wirbelte Staub auf. Unter dem klaren, blauen Himmel sah es hier wirklich aus wie auf der Steppe. Fehlte nur noch einer dieser
runden Büsche, die in den Western immer durch die Kamera rollten! Aber Tante Emmi schien sich davon nicht beeinflussen zu lassen. Sie trug eine Latzhose und ein Kopftuch gegen die Sonne. Romina hingegen hielt es selbst in Shorts, Sandalen und ihrem ärmellosen Top kaum aus. Tante Emmi musste von diesem Wetter ganz schön gestählt sein. „Guten Morgen!“, grüßte sie ihre Nichte, als Romina widerwillig auf die Koppel zukam. „Fühlst du dich erholt? Die Reise war bestimmt anstrengend.“ Das stimmte. Um zu Tante Emmis Farm zu kommen, musste man einige Stunden mit dem Flugzeug fliegen und danach
noch lange mit dem Auto fahren. Die nächstgelegene Stadt war gut 20 Minuten Fahrt von der Ranch entfernt und der nächste Flughafen drei Mal so lang. „Ein bisschen“, gab Romina leise zu. „Danke für das Frühstück.“ Romina wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. Sie scharrte mit dem Fuß im Sand und mied den Blick ihrer Tante, denn sie war unsicher. Sie wusste immer noch nicht, was sie den ganzen Tag an einem so öden Ort tun sollte, aber sie traute sich auch nicht, ihre Tante danach zu fragen. Sie wollte sie nicht traurig machen. Und sie wollte auch nicht sofort irgendeine Arbeit
aufgedrückt bekommen! Nach dem Frühstück hatte sie bereits einen Blick auf ihr Telefon geworfen, doch an der unschönen Situation mit dem Empfang hatte sich über Nacht nichts geändert. „Nichts zu danken“, antwortete ihre Tante nett, kehrte dabei aber schon weiter. Staub wirbelte auf und Romina hustete. „Deine Mutter hat mich gebeten, sie anzurufen, wenn du aufwachst“, sprach sie dann weiter. „Willst du das nicht schnell übernehmen?“ „Okay.“ Lustlos schlenderte Romina zurück zum
Haus. Es dauerte eine Weile, bis jemand den Hörer abnahm. Es war halb elf und ihr Vater bereits auf der Arbeit, aber Romina wusste, dass ihre Mutter immer erst mittags ins Büro musste. „Romina!“, rief sie glücklich. Das Telefon von Tante Emmi war uralt und richtig schwer. Fast hätte sie erwartet, zum Wählen der Nummer noch eine Scheibe drehen zu müssen. „Wie geht es dir?“, wollte Mama wissen. „Bist du gut angekommen?“ „Ja“, erwiderte Romina, aber sie konnte ihren bockigen Tonfall nicht verbergen. Ihre Mutter lachte nur. Normalerweise
mochte Romina dieses Geräusch sehr, denn das Lachen ihrer Mutter war glockenhell und munterte sie immer auf. Außer heute. Dieses Mal spürte sie, wie sich eine Träne in ihren Augenwinkel stahl. Ihr war langweilig und sie wollte nach Hause. „Ach Schatz“, sagte ihre Mutter. „Sei nicht sauer. Ich weiß, dass es dir bei deiner Tante gefallen wird, wenn du der Natur nur eine Chance gibst.“ „Was soll mir hier gefallen?“, maulte Romina. „Hier gibt es doch nichts! Nur Sand und Büsche und Pferde.“ „Es gibt noch viel mehr dort. Im Moment kannst du es nur noch nicht sehen, weißt
du?“ Romina schnaubte. Sie verstand nicht, was Mama ihr damit sagen wollte. „Du hast mich ausgesetzt“, jammerte sie stattdessen. Daraufhin lachte ihre Mutter wieder. „Das würde ich nie tun, Schatz, das weißt du“, antwortete sie. „Ich möchte nur, dass du bei deiner Tante etwas Wichtiges lernst. Zuhause hast du immer nur in deinen Computer und auf dein Handy geschaut. Wenn du wirklich erwachsen wirst, ohne diese andere Sache kennenzulernen, wäre ich darüber sehr traurig. Und du bestimmt auch.“ Romina zog die Stirn kraus. Ihre Mutter meinte es gut, das war an ihrem Ton
offensichtlich, aber Romina verstand immer noch nicht, was sie hier in der Pampa lernen sollte. Bestimmt wollte sie nur, dass sie ihrer Tante half. „Na gut …“, murmelte sie trotzdem. Sie wollte nicht streiten. „Ich vermisse dich“, meinte Romina dann. Jetzt kullerte die Träne aus ihrem Auge über ihre Wange und tropfte auf ihr Handgelenk. Sie schämte sich ein bisschen dafür, dass sie weinen musste. Immerhin war Romina schon zwölf. Aber sie war auch noch nie so lange von Zuhause fort gewesen. Nur mal zwei, drei Tage auf Klassenfahrt, aber doch keine ganzen zwei Wochen! „Ich dich auch, mein Kind“, versprach
ihre Mutter. „Benimm dich gut bei Tante Emmi, ja? Wenn du Heimweh hast, kannst du mich jeden Tag anrufen und wir reden.“
„Okay“, murmelte Romina. „Dann bis morgen.“
„Bis morgen. Und pass gut auf dich auf.“
Es knackte in der Leitung, als ihre Mutter auflegte. Aber Romina stand noch eine ganze Weile da und hielt den Hörer in der Hand.
Als sie wieder vor die Tür trat, war ihre Tante mit Kehren fertig geworden. Jetzt stach sie mit einer Heugabel in gerollte Heuballen, um das getrocknete Gras überall zu verteilen. Die ersten Pferde waren mittlerweile nähergekommen, um mit großen, dunklen Lippen mächtige Bissen von dem Heu zu nehmen. Ihr Kauen war so laut, dass Romina sie knuspern hören konnte. „Hast du Heimweh?“, fragte ihre Tante. Scheinbar konnte man es ihr ansehen. „Nein“, antwortete Romina. „Fütterst du die Pferde?“ „Ja, aber ich bin schon
fertig.“ Das Heu war nun weitläufig am Rand der Koppel verteilt und die Pferde schienen sich darüber zu freuen. Als Stadtkind hatte Romina noch nie ein Pferd aus der Nähe gesehen, also kam sie vorsichtig näher und tauchte unter dem Holzzaun hindurch, um zu ihrer Tante zu gehen. „Sind sie gefährlich?“ Tante Emmi lächelte. „Nur für das Heu“, witzelte sie. „Aber pass auf, dass du nie direkt hinter einem Pferd stehst. Wenn es sich erschreckt, könnte es dich treten und dir sehr wehtun.“ „Oh!“, machte Romina. Jetzt hatte sie
wirklich Angst und blieb ganz starr am Rand der Koppel stehen. „Keine Sorge. Abgesehen davon sind meine Pferde alle sehr nett.“ „Es sind so viele“, fiel Romina auf. Es waren elf Stück und sie waren alle sehr groß. Zwei Pferde hatten ein rein schwarzes Fell mit einer weißen Blesse – so nannte man den hellen Strich auf ihrer Stirn. Die anderen acht waren entweder ganz braun mit einer schwarzen Mähne oder hatten weiße Flecken auf ihrem Körper, mit denen sie fast aussahen wie riesige Dalmatiner in falschen Farben. Und dann war da noch ein einziges Pferd, das sich von all den anderen unterschied: Das einzige in der
ganzen Herde in Weiß, ganz ohne Flecken oder Blesse. Es hatte große, dunkle Augen und beobachtete Romina sehr intensiv, während sie es musterte. „Sind die alle miteinander verwandt?“, wollte Romina wissen. „Nein.“ Tante Emmi stellte einen Eimer ab, mit dem sie gerade die hölzerne Tränke für die Pferde aufgefüllt hatte. Ihr Rücken knackte, als sie ihn durchstreckte. „Komm, wir gehen einen Saft trinken.“ „Gerne!“, rief Romina. Sie hatte gerade erst gefrühstückt, aber Romina war schon wieder am Verdursten. Tante Emmi saß vor ihr am
Küchentisch und hatte den restlichen Orangensaft auf zwei Gläser aufgeteilt. Er war noch kalt, weil er aus dem Kühlschrank kam, und Romina musste sich bemühen, ihn nicht mit einem Schluck hinunterzustürzen. Die pralle Sonne machte wirklich durstig. „Die Pferde auf meiner Farm waren alle mal Pferde in Not“, erzählte Tante Emmi schließlich. Sie saß sehr ruhig am Tisch und hatte die Hände ineinander gefaltet. „Was heißt das?“, meinte Romina neugierig. „Hatten sie Schwierigkeiten?“ „Das kann man so sagen. Weißt du, nicht alle Menschen, die sich ein Pferd anschaffen, können es auch ein Leben lang behalten. Manche Leute werden
krank oder haben kein Geld mehr, die Tiere zu füttern.“ „Oh…“, machte Romina. Das stimmte. Ein Pferd war sehr teuer und man musste vorher gut überlegen, ob man es sich auch leisten konnte. „Manche Leute verkennen auch, wie viel Arbeit ein Pferd ist“, erklärte ihre Tante weiter. „Sie finden die Fohlen süß und kaufen sie auf dem Markt. Und dann merken sie, dass sie groß werden und viel Arbeit machen. Dann müssen sie weg.“ „Das ist traurig“, stellte Romina betrübt fest. Sie wusste, dass es solche Dinge gab. In ihrer Heimatstadt gab es ein Tierheim, wo immer viele ungewollte
Tiere warten mussten. Der Kater ihrer Mutter kam von dort. „Diese Pferde nehme ich auf“, sagte Tante Emmi. „Denn wenn es niemanden gibt, der diese Pferde haben will, enden sie oft beim Schlachter.“ Jetzt klappte Rominas Mund auf. „Was?!“, fragte sie entsetzt. „Sie werden geschlachtet?“ Davon wiederum hatte sie noch nie gehört! „Leider ja. Das Fleisch wird dann verkauft und bringt den Besitzern oft sogar noch Geld, deswegen ist das eine einfache Lösung. Das finde ich ganz furchtbar.“ Tante Emmi sah wütend aus.
„Darum haben dein Onkel und ich es uns zum Ziel gemacht, auf unserer Ranch viele heimatlose Pferde aufzunehmen, damit sie hier in Ruhe alt werden können. Unsere Kaninchen kommen auch alle von anderen Leuten, die sie nicht mehr behalten konnten.“ „Dann bist du so eine Art Tierheim“, stellte Romina zufrieden fest. Das fand sie toll. „Nicht ganz“, erwiderte ihre Tante. „Tierheime vermitteln Tiere an neue Besitzer weiter. Meine Ranch ist eher ein Gnadenhof, weil alle Tiere für immer hier leben
können.“ „Wow.“ Zum ersten Mal, seit Romina hier war, wollte sie mehr darüber wissen, was ihre Tante tat. Es war toll, dass es jemanden gab, der sich um all die armen Pferde ohne Zuhause kümmern wollte. Romina hatte gesehen, wie schwer ihre Tante dafür arbeiten musste und wie selten sie wegfahren konnte, weil all die Tiere sie brauchten. Aber jetzt, wo sie Bescheid wusste, hatte das alles wirklich einen Sinn. Einen richtig großen! „Soll ich … dir irgendwie helfen?“, fragte Romina schließlich zögerlich. Ihr war immer noch langweilig hier, also musste sie sich die Zeit vertreiben. Und
nach dieser tollen Erzählung war sie motiviert, ein bisschen was zu der Berufung ihrer Tante beizutragen. „Wenn du möchtest, sehr gern“, antwortete Tante Emmi. Sie lächelte, als hätte sie mit dieser Frage gerechnet. „Du könntest den Kaninchenstall saubermachen und sie danach füttern.“ „Schon wieder putzen?“, seufzte Romina. Natürlich. Nicht nur die Pferde wollten es schön sauber haben. Ihre Tante lachte über Rominas langes Gesicht, aber jetzt hatte sie schon gefragt. Für einen Rückzieher war es zu spät. Mit den Keksen von gestern gestärkt
machte Romina sich etwas später daran, den Hasenstall zu säubern. Dafür hatte sie einen großen Besen, um das schmutzige Heu zusammenzufegen, und eine lange Schaufel. Die Schubkarre in der Ecke musste so nur beladen und dann rausgefahren werden, aber der Stall war wirklich riesig. Fast so groß wie ihr Kinderzimmer! Überall tummelten sich niedliche Kaninchen mit großen, flauschigen Löffeln, doch bei Rominas Ankunft hatten sich alle gemeinsam in ihre Häuser und Verstecke verkrümelt. Nur ab und an sah Romina eine Nase aus einem Fenster schauen. „Ihr braucht keine Angst haben! Immerhin mache ich euch
sauber.“ Als Antwort hörte sie nur ein leises Hämmern. Ein Klopfgeräusch wie von einer Trommel, das in einem der Häuser startete und sich dann wie ein Chor durch den ganzen Stall zog. Romina hörte es ein zweites, ein drittes und sogar ein viertes Mal. Tante Emmi hatte erklärt, dass Kaninchen sehr soziale Tiere waren, die sich gegenseitig warnten, wenn Gefahr drohte. Dafür klopften sie mit ihren langen Hinterbeinen auf den Boden. Romina hoffte, dass die Kaninchen sich bald an sie gewöhnen würden. Immerhin hätte sie gern einmal eines
gestreichelt. Die Arbeit war mühsam und langwierig. Das schmutzige Heu klebte am Boden und ließ sich nur schwer aufheben und der Stiel der Schaufel war so lang, dass Romina Mühe hatte, sie zu heben. Außerdem schwitzte sie trotz der Überdachung ganz furchtbar. Es war einfach zu heiß zum Arbeiten! Wie hielt Tante Emmi das nur aus? Die Kaninchen machten viel mehr Schmutz, als Romina jemals gedacht hätte. Als sie die erste volle Schubkarre zum Misthaufen brauchte, hatte sie gerade erst die Hälfte des Stalls
gesäubert. Tante Emmi war nirgends zu sehen, doch während Romina die Schubkarre leerte, beobachtete sie jemand anders. Einen Moment lang fühlte sie nur einen Blick in ihrem Nacken, bis sie schließlich die große Gestalt in ihrem Augenwinkel bemerkte. Das weiße Pferd, welches sich soeben noch auf der Koppel bei den anderen befunden hatte, schien irgendwie ausgebrochen zu sein. Anstatt sich in der Gruppe aufzuhalten, stand es nun an der Wand des Kaninchenstalls und beobachtete Romina. „Hey!“, sagte sie verwundert. „Wie kommst du denn aus der
Koppel?“ Auf den ersten Blick ließ sich kein Loch im Zaun erkennen und auch die Tür stand nicht offen. Doch Romina wusste auch nicht, wie sie das weiße Tier wieder zurückschicken sollte. Es trug nicht einmal ein Halfter. Sie entschied, lieber Tante Emmi holen zu gehen, und war schon im Begriff, sich umzudrehen, als sie plötzlich eine Stimme hörte. „Warte.“ Romina war so verdutzt, dass sie nahezu am Boden kleben blieb. Nanu? Sie drehte sich wieder um, aber hinter ihr stand immer noch nur das Pferd. Verwirrt schaute sie umher. Weit und
breit war niemand zu sehen. „Verrückt“, entschied Romina. Das musste sie sich eingebildet haben. „Nein“, erwiderte da plötzlich die fremde Stimme von eben. „Das war ich.“ Romina konnte es nicht fassen. „Ich habe mit dir gesprochen.“ Es war das Pferd! „W-Was?!“ Romina bekam kaum einen Ton heraus. Zuerst glaubte sie an einen schlechten Scherz oder einen Spaß, den ihre Tante sich mit ihr machte, obwohl die Stimme ganz eindeutig zu dem Pferd gehörte. Sie klang dumpfer als die eines Menschen und männlich.
„Du musst dich nicht fürchten“, sagte das Pferd. Seine Lippen bewegten sich nicht. Es sprach, als würde es bauchreden. „D-Das sehe ich aber ganz anders!“, stammelte Romina. Hatte sie einen Sonnenstich bekommen? Oder waren es die Kekse? Oder der Schlafmangel? Sie war ganz durcheinander und stand immer noch wie angewurzelt an der Stelle, an der sie soeben stehen geblieben war, bis das Pferd schließlich langsam näherkam. Es setzte seine Hufe langsam in Bewegung, sodass Romina genügend Zeit hatte, ihrerseits zwei Schritte zurückzugehen.
„B-Bleib da“, stotterte sie. Sie fürchtete sich. „Aber ich will dir gar nichts tun“, beteuerte das Pferd. Es hob den Kopf und tat eine Geste, als würde es nicken. Dabei flog seine weiße Mähne anmutig durch die Luft, während es Romina noch immer mit seinen großen, dunklen Augen ansah. „Ich brauche deine Hilfe, weißt du?“, fügte das Tier hinzu. Romina war immer noch völlig baff. Sie verstand nicht, warum sie plötzlich ein Pferd sprechen hörte, und ihr Verstand weigerte sich auch, all das zu glauben. Aber es war nicht nur seine Stimme! Das
Pferd bewegte sich auch sehr vorsichtig, so als wüsste es ganz genau, dass sie Angst hat. Es konnte nicht nur sprechen, sondern war auch sehr intelligent. Bei diesem Gedanken wurde Romina ganz schwindelig. „Wieso kannst du sprechen?“, fragte sie. Das war im Moment das Einzige, worüber sie nachdenken konnte. Aber bevor das Pferd ihr eine Antwort geben konnte, hörte sie die Stimme ihrer Tante. „Romina!“, rief sie. „Das Mittagessen ist fertig.“ Damit platzte dieser seltsame Moment wie eine Seifenblase und Romina kam sich lächerlich vor. Ein sprechendes
Pferd? Nie im Leben! Das Tier jedoch ließ sie nicht aus den Augen. „Kannst du heute Nacht zur Koppel kommen?“, fragte es, ganz unbeeindruckt davon, dass Romina zum Essen gerufen worden war. „Dann kann ich es dir erklären.“ Romina glaubte immer noch, sie wurde verrückt. „Na gut“, antwortete sie aber. Sie wollte ins Haus und so schnell wie möglich Tante Emmi davon erzählen. „Aber bitte versprich mir, es nicht deiner Tante zu sagen.“ Das Pferd musste ihre Gedanken gelesen haben. Romina zog die Stirn kraus. „Wieso
nicht?“ Das weiße Tier zögerte kurz. „Ich erkläre es dir später“, versprach es. „Bitte lass das unser Geheimnis bleiben. Und komm heute Nacht zur Koppel.“ Mit diesen Worten machte das Pferd kehrt, wandte ihr seine muskulöse Schulter zu und trabte langsam zur Koppel zurück. Romina wandte den Kopf um und sah gerade noch, wie das Tier das Koppeltor mit den Zähnen öffnete, bevor es hineintrat und den Verschluss wieder hinter sich einrasten ließ. Dieser Anblick war so unwirklich, dass sie noch viele weitere Minuten wie angewurzelt neben dem Kaninchenstall stand. Selbst die Schubkarre neben sich
hatte sie vollkommen vergessen. Erst, als Tante Emmi sie ein zweites Mal zum Essen rief, erwachte Romina aus ihrer Starre und stürzte Hals über Kopf zurück ins Haus. Sie musste einen Sonnenstich haben. Sie musste einfach! Bis zum Abend war Romina sehr nachdenklich. Tante Emmi hatte einen alten Fernseher, auf dem nicht alle Sender liefen, aber sie schien damit zufrieden zu sein. Heute lief ein alter Krimi, dem ihre Tante sehr viel Aufmerksamkeit schenkte. Das war gut, denn so fiel ihr nicht auf, wie gedankenverloren Romina die ganze Zeit
vor sich hinstarrte. „Tante Emmi?“, fragte sie irgendwann zwischendurch und bemühte sich, ihren Ton möglichst unbefangen klingen zu lassen. „Ich habe heute das weiße Pferd außerhalb der Koppel gesehen.“ „Ach, nicht schon wieder“, war die belustigte Antwort ihrer Tante. „Passiert das öfter?“ „Ja, andauernd.“ Tante Emmi nickte. „Am liebsten, wenn Besuch da ist. Wind ist sehr abenteuerlustig. Ich habe keine Ahnung, wie er es immer wieder schafft, das Tor zu öffnen.“ Romina wusste es. Sie hatte es gesehen! Aber sie durfte es ihrer Tante nicht
sagen. Immerhin hatte sie es dem Pferd versprochen – auch wenn sie nicht so ganz verstand, warum sie diese Wahnvorstellung immer noch glaubte. Sie hatte einen Sonnenstich und vorhin kalt geduscht. Ganz bestimmt. Wenn sie heute Nacht wirklich zur Koppel ging, würde sie nichts mehr hören. Da war sie sicher. „Es heißt Wind?“, fragte Romina neugierig. „Ja, Wind ist sein Name. Er ist noch nicht so alt, erst zwei oder drei Jahre.“ „Woher hast du ihn?“, wollte Romina wissen. „Er wurde damals versteigert. Da war er noch sehr jung. Aber er hatte eine Wunde
am Bein und hat mir leidgetan.“ „Da hast du ihn gekauft?“ „Genau“, meinte Rominas Tante. „Der Tierarzt hat ihn behandelt und seitdem lebt er bei mir.“ „Verstehe.“ Das brachte Romina noch mehr zum Grübeln. Es dauerte lange, bis ihre Tante ins Bett ging. Romina lag eine Ewigkeit in ihrem Kissen und horchte auf die Stufen der Treppe, die verrieten, wann sie schlafen ging. Dabei musste Romina selbst mit ihren Augenlidern kämpfen, denn die Arbeit im Kaninchenstall und die Hitze hatten sie ganz schön müde gemacht.
Tatsächlich träumte sie schon von dem Kater ihrer Mutter, als die alten Dielen vor der Tür endlich knarrten. Mit diesem Geräusch schreckte Romina aus dem Schlaf und spähte noch viele, stumme Minuten lang an die dunkle Zimmerdecke, bis sie sicher war, dass Tante Emmi schlief. Dann konnte es losgehen. Es war immer noch verrückt. Romina war nicht sicher, was sie erwarten sollte, während sie ganz leise die Treppenstufen hinunterschlich. Sie wusste nicht einmal, was sie hoffen sollte. Ein sprechendes Pferd war einfach zu verrückt! Aber wenn es nicht
sprach, bedeutete das, dass Romina sich alles nur eingebildet hatte. Das klang irgendwie auch nicht besser. Als sie die Haustür verließ, lag die Koppel ganz im Dunkeln. Sie hatte keine Taschenlampe, aber immerhin strahlte der Mond weißgrau vom Himmel und wies ihr den Weg. Die Pferde waren in der Finsternis kaum zu erkennen. Nur dann und wann ertönte ein Schnaufen aus der Richtung, in welche die kleine Gruppe sich zurückgezogen hatte. Am Koppelzaun angekommen legte Romina die Arme auf das Holz und beugte sich ein wenig vor. „Psst!“, rief sie. Dabei kam sie sich
unsagbar dämlich vor. Doch kaum war der Ton über ihre Lippen gekommen, hob ein Pferd inmitten der Gruppe den Kopf und lauschte. Dann setzte es sich in Bewegung, verließ seine Artgenossen und kam mit langsamen, gemächlichen Schritten auf sie zu. Romina konnte es einfach nicht glauben. Es war Wind und er blickte ihr ebenso wach und intelligent entgegen wie heute Mittag. Sie hatte es sich nicht eingebildet. Wind konnte tatsächlich sprechen. „Sie schläft“, sagte Romina leise, als Wind sie erreicht hatte. Das große Tier war so nahe, dass sie den Atem aus den großen Nüstern fühlen konnte. Er blähte
ihre Kleidung wie ein warmer Sommerwind. Die anderen Pferde schienen keine Notiz von ihnen zu nehmen – sie hatten die Köpfe gesenkt und ruhten weiter, auch ohne Wind an ihrer Seite. Wind tat eine Geste, als wollte er nicken. „Danke, dass du hergekommen bist“, sagte er. „Ich bin dir bestimmt unheimlich.“ „Ein bisschen“, gab Romina zögerlich zu. „Also … Was wolltest du mir sagen?“ Da stand sie nun, mitten in der Nacht an einem Koppelzaun, und sprach mit einem Pferd. Vor Beginn ihrer Reise hätte Romina sich das niemals träumen
lassen. „Ich brauche deine Hilfe“, erklärte Wind. Seine dunklen Augen sahen aus wie mattschwarze Opale und blickten genau in ihre. „Die Farm ist in Gefahr und ich will sie retten.“ „Was?“, fragte Romina nun verwirrt. „Wieso?“ Wind schnaubte. „Ein Mann will sie kaufen“, erklärte er. „Aber ich traue ihm nicht. Er riecht wie ein schlechter Mensch.“ „M-Moment!“ Romina war durcheinander. Sie verstand nicht, was das Tier ihr sagen wollte. Das alles ging einfach etwas zu
schnell. „Warum sollte meine Tante die Farm verkaufen? Sie liebt sie über alles!“ „Ich weiß es nicht.“ Wind schüttelte seinen massigen Kopf. „Ich bin umhergeschlichen und habe sie belauscht, als der Mann hier war. Er hat ihr Angebote gemacht und versprochen, sich gut um die Farm und die Pferde zu kümmern. Deine Tante sagte, sie würde darüber nachdenken.“ „Aber …“ Romina verstand es nicht. Heute noch hatte sie ihre Tante mit so viel Leidenschaft über ihren Lebenstraum sprechen hören! Die Ranch war alles, was Tante Emmi hatte und wollte. Das
wusste Romina. Es gab einfach keinen Grund, sie verkaufen zu wollen. Es machte keinen Sinn. „Bist du dir da ganz sicher?“, fragte Romina ernst. Sie hatte beinahe vergessen, dass sie sich mit einem Pferd unterhielt. Ihre Alarmglocken waren angesprungen! Das weiße Pferd nickte. Unter dem bleichen Licht des Vollmondes leuchtete Wind wie ein Geist. „Ja“, sagte Wind. „Ich habe versucht, die ganze Geschichte herauszufinden, aber dabei stoße ich an meine Grenzen.“ Nun hob Wind die Lippen, sodass Romina seine breiten, stumpfen Zähne sehen konnte.
„Ich bin ein Pferd. Ich kann nicht ins Haus.“ „Verstehe …“, flüsterte Romina. Sie war völlig durcheinander. Ein sprechendes Tier und dann die Sache mit der Ranch. Plötzlich machte sie sich große Sorgen. Sie hatte ein ungutes Gefühl. „Wer ist der Mann, der die Farm kaufen will?“, fiel Romina dann ein. „Ein Immo…“ Wind dachte nach. „Immo… biläum. Oder so ähnlich.“ Romina sah das Pferd verdutzt an. „Du meinst Immobilien?“ „Jahaa.“ Wind wieherte seine Worte vor Freude
und warf den Kopf in die Luft. Romina zuckte zusammen, legte im gleichen Moment aber auch schon den Finger an die Lippen. „Sei leise!“, flüsterte sie. „Du weckst Tante Emmi.“ „Entschuldigung“, erwiderte Wind. Jetzt war er wieder ganz gefasst. „Also ein Immobilienmakler …“, grübelte Romina. Sie hatte die Arme verschränkt und war tief in Gedanken. Obwohl es Nacht und sie nur im T-Shirt war, fror sie nicht. Der Sand gab immer noch die Hitze vom Nachmittag ab. „Er sagte zu deiner Tante, er sei ein sehr angesehener Immo… du weißt schon“, meinte Wind. Seine Stimme wurde
schroff. Dabei schüttelte er seine Mähne aus. „Ich traue ihm nicht“, fügte das Tier dann an. „Wir riechen es, wenn jemand unehrlich ist. Und dieser Mann hat böse Gedanken.“ Das verstärkte Rominas Unbehagen noch mehr. „Du meinst, er führt etwas im Schilde?“, hakte sie nach. „Ja, genau das. Ich weiß nicht wie und warum, aber er will deiner Tante schaden. Oder zumindest der Farm.“ Jetzt huschten Winds große, dunkle Pupillen über Rominas Gestalt, bevor er ihr in die Augen sah. „Romina ist dein Name, oder?“, fragte
er. „J-Ja.“ „Ich möchte deiner Tante helfen. Ich will nicht, dass sie die Farm verliert.“ Damit drehte Wind den Kopf, um zu der schlafenden Gruppe von Pferden zu blicken. „Sie sollen nicht schon wieder ihr Zuhause verlieren. Wer weiß, was dieser Mann mit uns vorhat.“ „Hast du keine Angst?“, flüsterte Romina. Sie wusste seit heute, welch schlimme Dinge mit Pferden geschehen konnten, die nicht gewollt waren. Tante Emmi hatte es ihr erklärt. Romina wollte das verhindern. „Nein, ich habe keine
Angst.“ Wind schüttelte abermals seine Mähne und vertrieb damit eine Fliege. „Aber ich möchte, dass deine Tante glücklich ist. Sie hat mir damals geholfen.“ Wind schien sich an den Tag zu erinnern, an dem Tante Emmi ihn gekauft und versorgt hatte. In diesem Moment wollte Romina ihn vieles fragen – warum er sprechen konnte, wo er gelebt hatte und solche Dinge – aber jetzt war dafür nicht die Zeit. „Und ich möchte, dass die anderen sicher sind“, fügte Wind hinzu. Das brachte Romina dazu, entschlossen zu nicken.
„Ich auch“, sagte sie. „Ihr habt genug durchgemacht. Ihr alle, meine ich. Wir müssen herausfinden, was dieser Mann im Schilde führt und warum Tante Emmi überhaupt darüber nachdenkt, die Ranch zu verkaufen.“ Das war eine große Aufgabe. Romina hatte Angst, dass zwei Wochen dafür zu wenig Zeit waren. Aber sie musste es zumindest versuchen. Wind wieherte leise und warf den Kopf vor und zurück. „Du bist schlau“, meinte er anerkennend. „Ich werde dir helfen. Versprochen. Lass uns
zusammenarbeiten.“ „In Ordnung.“ Romina dachte kurz nach. „Ich muss mir einen Plan überlegen. Gib mir Zeit bis morgen, okay?“ „Gut.“ Wind wirkte sehr zufrieden. Seine Körperhaltung war entspannt und sein Schweif schlug dann und wann mit einem leisen Klatschen gegen seine Beine. Als Romina ihn so ansah, fielen ihr all ihre Fragen wieder ein. „Du bist sehr müde“, warf Wind da jedoch ein. „Ich kann es riechen.“ „Oh… Da hast du recht“, gab Romina zu. „Aber ich würde dich gern ein paar Sachen
fragen.“ Jetzt wirkte Wind noch zufriedener. „Ich werde gern gestriegelt“, gab er zu. Seine Stimme klang, als wollte er bei diesen Worten am liebsten zwinkern. „Du könntest mich morgen striegeln. Dann erzähle ich dir, was du wissen möchtest.“ „Abgemacht“, stimmte Romina zu. „Dann bis morgen.“ „Gute Nacht“, sagte Wind noch. Diesmal wartete das Pferd, bis Romina die Haustür hinter sich geschlossen hatte, bevor es zurück zu seiner Herde trabte. Romina schlief in dieser Nacht so tief wie noch nie zuvor. Sie hatte damit gerechnet, von sprechenden
Pferden und fiesen Immobilienhaien zu träumen, doch am Ende schlief sie so fest, dass sie sich am nächsten Morgen an keinen einzigen Traum erinnern konnte.
Das war die Leseprobe zu "Seelenpferd - Ein Sommertraum".
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Beste Grüße,
deine Virginia E. Gray
Schildkroete Sehr naturverbunden beschrieben mit den Blick auf das wirklich wesentliche. |
Marc_de_Sarno Hallo Virginia Grey, ich habe gestern deine Leseprobe gelesen. Schön und flüssig geschrieben. Für Jugendbücher bin ich zwar zu alt, aber bei Pferdebüchern schmökere ich immer gerne rein, wenn auch meist kritisch. Zum Inhalt: Erster Gedanke: Beinahe ein Klassiker der Jugendbuch – Pferdeliteratur :) … müsste sich also gut verkaufen. Zweiter Gedanke: Mal sehen wo das Problem des Schimmels liegt und dritter Gedanke: Es geht nicht weiter, die Leseprobe ist aus :( … und die Erkenntnis, du hast mich gefangen, bevor ich es gemerkt habe. Man taucht so schön ein und blättert und blättert … Das Buch ist offenbar mit viel Liebe und Spaß geschrieben und liest sich auch so. Ich werde es auf jeden Fall weiterempfehlen. Schöne Grüße Marc de Sarno |
VirginiaEGray Vielen vielen Dank für deinen netten Kommentar! Ich habe mich riesig darüber gefreut. Ich freue mich auch total darüber, dass der Spaß, den ich beim Schreiben hatte, ein wenig auf dich abfärben konnte :) |