Das Studentenwohnheim befand sich quasi um die Ecke von der Universität und bot etwa hundert Studenten einen Schlafplatz, verteilt auf drei Etagen. Wem es ursprünglich einmal gehört hatte und als was es gebaut wurde, wusste niemand. Im Stadtarchiv fanden sich keine Papiere. Viele Jahre hatte das Gebäude leer gestanden und es stand kurz davor abgerissen zu werden. Durch eine Petition von Studenten und deren Eltern wurde es gerettet und umgebaut. Seit dem dient es als Studentenwohnheim. Solveig nutze es, um nach einem anstrengenden Tag
duschen zu gehen, bevor sie ihre Tochter Claudia vom Kindergarten abholen fuhr. Die Waschräume befanden sich jeweils am Ende des Ganges. Rechts war für die Jungs und links für die Damen. Solveig schlenderte an den Zimmern vorbei. In der einen Hand trug sie ihren Kulturbeutel, in der anderen hielt sie ihr Smartphone, auf welches sie ihren Blick haftete. Sie schrieb mit ihrem besten Freund Steve. Manchmal glaubte sie, das er der Einzige war, der sie verstand. Es gab Tage, da waren ihre Gespräche tiefgründig und ernsthaft. Und dann gab es Tage, wie diesen, wo Steve sie in einer Tour zum Lachen brachte. Sie liebte seinen schwarzen Humor, der
mitunter hart an der Grenze des noch Vertretbaren war. Solveig betrat den Waschraum. Noch immer klebten ihre Augen auf dem Display. Als sie mit ihrem Fuß an die Bank stieß, blickte sie zum ersten Mal wieder auf. Sie nahm ihr Handtuch von der Schulter, legte ihr Handy auf die Fensterbank und ihren Kulturbeutel auf die Sitzbank. Dann zog sich schnell aus. Bevor sie unter die Dusche ging, schaute sie noch einmal auf ihr Mobiltelefon: „Papa sagte, ich solle mir eine Kartoffel in die Hose stecken, wenn ich ins Schwimmbad gehe. Er hat aber nicht gesagt, das ich sie vorn rein stecken soll. Jetzt weiß ich
es.“ Solveig hielt sich die Hand vor den Mund und kicherte. „LOL“, schrieb sie zurück und legte das Handy auf die Fensterbank. Sie stieg in die Dusche, verteilte Shampoo und Duschgel auf der Ablage und ließ das Wasser an. Es dauerte nur einen Augenblick, bis sie die optimal Temperatur erreicht war. Solveig schloss die Augen und ließ das Wasser über ihren Kopf laufen. Aus der Dunkelheit, trat ein Junge in Badehose, die hinten eine Beule hatte. Solveig musste augenblicklich lachen. Doch schon im nächsten Moment wurde sie ernst. Sie dachte an Markus, ihren Mann, der was dagegen hatte, das
sie studierte. Seiner Meinung nach, war man mit 36 zu alt dafür. Es war ein harter Kampf gewesen, den sie letztendlich gewonnen hatte. Widerwillig hatte er nachgegeben. Schon länger war es schwierig geworden, mit ihm zusammen zu leben. Angefangen hatte es kurz nach der Hochzeit. Vorher hatten sie eine glückliche Beziehung geführt. Als Claudia sich angekündigt hatte, entschlossen sie zu heiraten. Es war eine kleine Feier im engsten Kreis gewesen und die Flitterwochen verbrachten sie in den eigenen vier Wänden. Dann kam ihre gemeinsame Tochter und das Glück schien perfekt. Solveig war nicht mehr zum Lachen zu
Mute. Betrübt shampoonierte sie sich die Haare und fragte sich, wie es so weit kommen konnte. Wohin war alles gegangen? Die Liebe, der Reiz neues auszuprobieren? Jeder Tag war gleich. Routine. Alltag. Sie spülte ihre Haare aus und unterdrückte den Drang loszuheulen. Plötzlich hörte sie Gekicher. Solveig blinzelte und sah zwei junge Männer vor sich. Erschrocken drehte sie sich um die eigene Achse, bedeckte irgendwie ihre Schambereiche und stieß dabei an den Wasserhahn. Eiskaltes Wasser fiel über sie. Mit Gänsehaut und hochroten Kopf stand sie wie angewurzelt da, nicht in der Lage sich zu
bewegen. Ihr kam es wie eine halbe Ewigkeit vor, bis sich einer von Beiden erbarmte, ihr zu helfen. Er schaltete das Wasser ab und legte ihr sein Badetuch um. Hastig schnürte sie es um ihren Körper, stieg aus der Dusche, streifte ihr Kleid über, schnappte sich Kulturbeutel, Unterwäsche und Schuhe und trippelte davon. Denn das Badetuch engte ihre Beweglichkeit ein. Sie spürte die Blicke, als sie zu ihrem Auto lief. Im Gehen kramte sie in ihrem Kulturbeutel nach dem Autoschlüssel. Wieso sie ihn ausgerechnet immer da hineinlegte, wusste sie selber nicht. Sie riss die Tür ihres Wagens auf,
schmiss alles auf den Beifahrersitz, setzte sich selbst hinters Steuer, knallte die Tür zu, ihren Kopf aufs Lenkrad und seufzte erleichtert. So saß sie einige Zeit da, bis ihr Puls sich wieder beruhigt hatte. Als ihr Herz aufhörte zu rasen, zog sie umständlich das Badetuch unter ihrem Kleid hervor. Wie sie so dasaß, schoss ihr ein Gedanke durch den Kopf. Warum nicht so, wie sie gerade angezogen war – nämlich unten ohne – zu Markus auf Arbeit fahren. Doch gleich darauf verwarf sie den Gedanken. Claudia wartete auf sie. Außerdem glaubte sie, das es Markus nicht gefallen würde, wenn sie ihn spontan und unangemeldet
besuchen käme. Früher war das anders gewesen. Da hätte er sich darüber gefreut. Und noch mehr, wenn er wusste, das sie unter ihrem Kleid nichts trug. Er hätte alles stehen und liegen lassen und wäre mit ihr in die Büsche gegangen. Aber das war vorbei. Solveig zog sich ihren Slip an und fuhr los. Den BH ließ sie auf dem Beifahrersitz liegen. Claudia sprang Solveig an und kreischte vor Vergnügen. Sie knuddelten kurz und Solveig überlegte, das es noch reichlich früh war, um nach Hause zu gehen. Noch war es Sommer und sehr warm. Doch der Herbst würde nicht mehr lange auf sich warten lassen. Also fuhren sie Eis essen
und dann zum Spielplatz. Wie sie, hatten auch sehr viele andere Eltern die Idee gehabt. Claudia ging in der Menge unter. Doch Solveig machte sich darüber keine Gedanken. Sie konnte ihrem Kind vertrauen. Vor Fremden hatte sie eine solch Heidenangst, das sie sofort anfing zu schreien und wegzurennen, wenn ihr einer zu Nahe kam. Sie wusste sich gut zu verstecken und hatte einen ausgeprägten Orientierungssinn. Außerdem wagte sie es nicht, sich allzu weit von ihrer Mutter zu entfernen. Es wurde spät. Der Spielplatz lichtete sich. Nachdem der große Andrang vorüber war, nahm Solveig ihre Tochter an die Hand und schlenderte mit ihr
vergnügt zum Auto. Bevor sie aber nach Hause fuhren, machten sie einen Abstecher zum Pizzamann, da sie keine Lust hatte, sich noch an den Herd zu stellen. Zu Hause angekommen, fühlte sie sich erschöpft, aber glücklich. Der Vorfall, mit der Dusche, war vergessen. Markus saß, wie immer, auf dem Sofa und las Zeitung. Er reagierte nicht, als seine kleine Familie zur Tür hereinkam. Weder begrüßte er sie, noch fragte er nach, warum sie erst so spät nach Hause kamen. Es schien beinahe, als wäre es ihm egal, ob sie überhaupt nach Hause kommen würden. Solveig verließ die gute
Stimmung. „Ich habe uns Pizza mitgebracht.“ Es war mehr ein Flüstern gewesen, als eine Aussage. Zur Antwort bekam sie nur ein Raunen zu hören. Stillschweigend saßen sie am Tisch aßen. Auch das war einmal anders gewesen. Noch vor wenigen Monaten wurde lebhaft diskutiert. Man sprach über den vergangenen Tag, indem auch Claudia integriert wurde. - Vorbei. Wie so vieles andere auch. Nach dem Essen durfte Claudia immer eine halbe Stunde fernsehen. Danach hieß es Zähneputzen und ab ins Bett. Zum Einschlafen bekam Claudia immer eine Geschichte
vorgelesen. Sobald ihr Kind tief und fest schlief, gingen auch Markus und Solveig ins Bett. Markus Nacht war schon um drei wieder beendet, weshalb er so früh ins Bett ging. Früher stand sie mit ihm gleichzeitig auf, um etwas von ihm zu haben. Gemeinsam frühstücken, spontanen Sex… All das gab es nicht mehr. Weder das Eine, noch das Andere. Und auch Gespräche gab es keine mehr. Solveig nutze die Zeit, um den Tag zu planen und sich um den Haushalt zu kümmern. Wenn es Zeit wurde Claudia zu wecken, war alles fertig und sie konnte sich voll auf ihrer Tochter widmen. Als Solveig ihre Armbanduhr ablegte,
traute sie ihren Augen nicht. Und plötzlich war die Erinnerung an den Vorfall in der Dusche wieder da. „Wie kommt mein Handy hierher? Ich dachte, ich hätte es verloren.“, fragte sie halblaut. „Ein Halbwüchsiger hat es vorbeigebracht. Er wollte es dir persönlich geben. Aber du warst ja nicht da. Wo warst du eigentlich? Ich habe auf dich gewartet.“ „Ich war mit unserer Tochter Eis essen und dann waren wir noch auf dem Spielplatz. Das Wetter war so schön und wir hatten beide keine Lust schon nach Hause zu gehen. Ich hätte dich ja angerufen, aber da ich hatte mein Handy
schon nicht mehr.“ „Vermutlich bei ihm liegenlassen, wie dein Oberteil. Heute morgen hattest du noch einen BH angehabt. Als du nach Hause kamst, nicht mehr.“ „Ich war im Studentenwohnheim noch duschen und hab dabei die Zeit verpasst. In der Hektik hab ich mir nur das Nötigste angezogen, um nicht zu spät im Kindergarten anzukommen.“ Sie wusste, das er ihr nicht glaubte und es war ihr einerlei. „Ich schlafe auf der Couch.“, knurrte er, nahm sein Bettzeug und ging. Solveig sah ihm hinterher und unterdrückte die aufkommenden Tränen. Sie nahm ihr Handy und wollte Steve
schreiben, was ihr heute widerfahren war. Doch dann sah sie, das er es schon wusste. Irgendein junger Mann hatte bei ihm angerufen und nach ihrer Adresse gefragt, um ihr ihr Telefon zurückzugeben. Er hatte ihm, Steve, die Geschichte von der Dusche erzählt und auch Fragen über sie gestellt; Name, Status und so weiter. Woraufhin Steve ihm dann ihre Adresse mitteilte. Eine ihr unbekannte Nummer teilte ihr mit, das es unvorsichtig sei, ein Handy ungeschützt liegen zu lassen. Er riet ihr ein Muster zu benutzen, oder zumindest eine PIN. Außerdem schrieb er, von wem er ihre Adresse hat und das er es nur wissen wollte, um ihr ihr Telefon
wiedergeben zu können. Ohne darüber nachzudenken schrieb sie ihm zurück, dass sie nicht weiß, wie das geht und ob er es ihr nicht bei Gelegenheit zeigen könne. Bevor sie diese Nachricht abschickte, schaute sie zur Seite, wo Markus liegen sollte. ‚So leer, wie mein Herz.‘, dachte sie und fragte sich, ob sie für Markus noch etwas empfand. Mindestens drei Monate war es her, als sie das letzte Mal intim waren und dabei war es ihr vorgekommen, als würde er nur ehelichen Pflichten nachkommen. Eine Träne bahnte sich ihren Weg. Sie wischte sie weg und drückte auf Enter. Dann fügte sie hinzu: „Bei der
Gelegenheit kann ich dir gleich dein Badetuch zurückgeben.“
Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten:
„Ok. Morgen um eins in der Mensa? Als Erkennungszeichen leg dir mein Badetuch um die Schultern. P.S.: Guckt dein Mann eigentlich immer so finster?“
„Er ist nicht mehr mein Mann. Wir sind geschieden.“ Und in Gedanken fügte sie hinzu: Er weiß noch nichts davon, aber morgen werde ich es ihm sagen.
„Dann kann ich also hoffen?“
„;-)“