11. Wald
Es dauert nicht lange, da schießt die Gondel wieder aus dem Wasser heraus und lenkt sich alleine und ohne Passagier wieder zurück in Richtung der Klippe. Das nehme ich jedenfalls an. Ich konnte vorhin nicht genau erkennen, wer aus der Gruppe in der Gondel gesessen hat. Am Ende ist das auch egal. Ich befürchte, dass die Gruppe aufgeteilt wird, wenn der Gondel mehr als ein Ziel zur Verfügung steht.
Aber welchem Zweck sollte das wohl dienen? Ich habe keine Idee. Mir wird in diesem Moment, mit der leeren Gondel vor Augen, erst richtig bewusst, dass ich hier vollkommen alleine bin. Aus der Magengrube kitzelt sich
ein grausames Gefühl durch meine Eingeweide. Es fühlt sich an, als ob sich lange, eiskalte Finger kratzend und schabend ihren Weg nach oben bahnen und meine Innereien dabei durchwühlen. Ich habe das erste Mal ganz bewusst Angst.
„So Ben, das stehst du also nun in der alten Hütte und musst dich entscheiden, was du tun willst“, murmle ich gedankenversunken vor mich hin, nicht zuletzt um mich selbst aus meinem Angstloch wieder zu befreien. Es ist schon merkwürdig, wieviel Erleichterung es bringt, eine Stimme laut zu hören. Und ist es auch die eigene. Der Blick aus dem kleinen Fenster ist weder faszinierend noch aufschlussreich, er zeigt mir einzig, wie weit
die anderen von mir entfernt sind. Wenn ich an meiner Situation etwas ändern möchte, ist es jetzt an der Zeit, die Hütte zu verlassen. Mit einem letzten Blick auf das Podest überprüfe ich, ob ich vielleicht etwas übersehen haben könnte. Schalter, Knöpfe oder versteckte Mechanismen. Aber da ist nichts. Nur der „Buzzer“ und die zwölf Linien. Die erste türkisblau, die zweite rot.
Gerade als ich mich der Tür der Hütte zuwenden will leuchten alle Linien auf. Sie leuchten alle gleichmäßig und ruhig. Eines jedoch ist merkwürdig. Alle Linien leuchten rot, mit zwei Ausnahmen. Die erste und die sechste. Nummer eins, zwei und drei blinken langsam pulsierend auf und ab. Die anderen
nicht.
Mein Herz bleibt fast stehen, als ohne Vorwarnung ein lautes Rauschen die Stille zerreißt. Mein Schrei bleibt mir sprichwörtlich im Hals stecken und dringt nicht über den Kehlkopf hinaus. Die Kapsel ist wieder da und schießt mit halsbrecherischer Geschwindigkeit einmal quer durch die Hütte. Die Kugel ist so schnell, dass mich der Sog mindestens einen Meter mitreißt. Mein Puls schießt schlagartig hoch auf 270 und meine Beine verlieren den Großteil ihrer Konsistenz. Es fühlt sich an, als ob man zu nah an einem Gleis steht, wenn ein Zug ungebremst durchrast. Der ganze Vorgang nimmt nicht einmal eine volle Sekunde in Anspruch, da ist die Hütte auch schon wieder leer.
Ich versuche wieder etwas Stabilität in meine Beine zu bekommen und meinen Kreislauf vor einem Schock-Kollaps zu bewahren. Meine Atmung ist kurz aber heftig. Habe ich im Unterbewussten erkennen können, wer in der Gondel saß? Saß überhaupt jemand drin? Ich habe nichts gesehen. Ich war ganz allein nur auf mich konzentriert, als dieses Ding aus dem Nichts aufgetaucht ist und ohne Rücksicht einfach durch die Hütte geschossen ist. Ich fühle mich der Situation langsam wieder gewachsen und drücke mich von der Wand ab, an der ich bis jetzt Schutzsuchend gelehnt stand.
In meinem Augenwinkel erkenne ich eine neue Bewegung im Raum. Linie Nummer vier blinkt nun auch. Langsam glaube ich die
Anzeige lesen zu können, diese Maschine zu verstehen. Meine Theorie lässt sich zu 95% innerhalb der kommenden Minuten belegen. Wenn ich Recht habe, dann stehen unsere Chancen vielleicht gar nicht so schlecht.
Und dann passiert genau das, was ich erwarte. Die Gondel schießt ohne Passagier diesmal in die andere Richtung aber wieder ohne Ankündigung durch die Hütte. Diesmal bin ich vorbereitet und erleide keinen Schock.
„Quod erat demonstrandum“, sage ich laut und klatsche in die Hände.
Diese spontane Begeisterung verleitet mich sogar zu einem vorsichtigen Lächeln. Ich spüre, wie etwas zarter Mut in mir aufkeimt. QED, hieß das doch im Mathematikunterricht,
richtig? Was zu beweisen war. So ein Klugscheißerkram macht mich ungemein an.
Das ist jetzt das erste Mal, dass ich hier in dieser unwirklichen Situation das Gefühl habe einen echten Schritt vorangekommen zu sein. Ich bin nun sicher, dass diese Gondel kein reines Verkehrsmittel ist, um von A nach B zu kommen. Sie ist vielmehr ein perfide ausgedachtes Stück Technik, um uns alle und wer weiß wieviele vor uns auf einem bestimmten Areal zu verteilen.
Da nun klar ist, dass alle Personen an andere Stellen transportiert werden, habe ich keine Sorge mehr einen Fehler zu begehen, wenn ich die Hütte verlasse. Ich habe Durst und muss dringend etwas zu trinken
auftreiben.
Ich steige über die Schienen, die beim Überqueren erst so richtig mächtig und massiv wirken. Die Erbauer haben großen Aufwand betrieben, um diese Verteilereinrichtung aufzusetzen. Es muss also irgendwo auch Industrie geben. Wo sonst sollten diese offensichtlich künstlichen Ursprungs entstammenden Teile herkommen? Ich frage mich noch immer, welchen Zweck das alles hier verfolgt. Ist es ein Spiel? Eine Prüfung? Irgendein kranker Scheiß eines infantilen, perversen Multimilliardärs?
Eine kleine hölzerne Treppe führt aus der Hütte herunter auf den grasigen Boden. Mit beiden Füßen auf dem Gras verharre ich und wappne mich für den nächsten Schritt, die
Suche nach einem Ausweg. Der Geruch des Waldes, des Grases und des Meeres vermischen sich in der leichten Brise und mit geschlossenen Augen entsteht ein kurzer Moment der Sorglosigkeit und des Wohlfühlens. Ich sammle meine Kräfte, spüre meinen Körper in all seinen Fasern und Muskeln. Die Sonnenstrahlen wärmen meine Haut angenehm auf und ich spüre, wie Energie und jede Menge Adrenalin in meinen Kreislauf gepumpt wird. Meine Vernunft fleht mich an, in der Nähe der Hütte zu bleiben. Dem steht mein Drang gegenüber, aktiv zu werden. Meine Logik erklärt mir, dass es weitere Infrastruktur geben muss. Diese finde ich aber nur, wenn ich mich von der Hütte entferne. Die Uhrzeit auf meinem Smartphone
gilt nur für zuhause, hier kann ich damit nicht viel anfangen. Ich blicke in den Himmel, suche die Sonne, deren Strahlen mich so angenehm aufheizen. Es gibt nur ein Problem. Es gibt keine Sonne. Es gibt keine offenkundige Lichtquelle und trotzdem ist es hell. Ich bin also ohne Orientierungspunkt am Himmel.
Gedanken sammeln. Augen zu, tief einatmen. Langsam und ordentlich ausatmen. Von vorne. Ein. Aus.
Wie ich es auch drehe, mir bleibt nur ein Weg und der ist unabhängig davon, ob ich eine Sonne habe oder nicht.
Zwar gibt es auch hier eine Küstenlinie, aber diese steigt so rasant an, dass in wenigen Kilometern der Höhenunterschied bis zu 100 Metern betragen könnte. Wenn ich nicht
zurück zur Klippe schwimmen möchte bleibt mir nur der Weg durch den Wald hinter der Hütte. Etwas unentschlossen stehe ich vor dem Waldrand und schnaufe tief und laut. “Dann mal los“, ermutige ich mich und trete mit festem Schritt über die Grenze zwischen Wiese und Wald. Wälder haben eine ganz eigene Mystik und Wirkung. Je dichter ein Wald ist, desto unheimlich finde ich ihn. Je dichter ein Wald ist, desto stärker prägt sich bei mir das Gefühl aus, dass ich beobachtet werde. Solange es hell ist, ist alles in Ordnung. Ich ermahne mich darauf zu achten, ob es dunkler wird. Beim ersten Anzeichen von Dämmerung sollte ich zurück zur Hütte. Sie bietet grundsätzlich Schutz vor Wetter und durch die wenigen Öffnungen auch wenig
Angriffsmöglichkeiten. Auf der anderen Seite ermöglicht sie aber keinen 360 Grad Rundumblick von drinnen nach draußen. In meinen Überlegungen ist dies aber das kleinere Übel.
Während ich mich immer tiefer in den Wald arbeite, spiele ich alle möglichen Szenarien durch. Am angsteinflößendsten ist die Antwort auf die Frage, wer oder was wohl noch alles über die Schienen zu unseren Haltepunkten transportiert werden kann. Oder schlimmer noch, sich selbst dorthin bewegen kann. In meiner Fantasie sehe ich überdimensionale Wesen mit spinnengleichen Gliedern rasend schnell über die Schienen huschen. Unwillkürlich schüttelt es mich und eine Gänsehaut überzieht meinen Nacken.
Mein Kopf arbeitet auf Hochtouren während ich immer tiefer in den Wald eintauche. Ich drehe mich regelmäßig um, um mich zu vergewissern, dass ich den Waldrand noch als Orientierungsbereich erkennen kann. Meine Schritte setze ich vorsichtig und darauf bedacht möglichst eine gerade Linie vom Waldrand ausgehend zu beschreiten. Die Bäume, keine große Überraschung, ähneln sich wie ein Ei dem anderen. An den Bäumen selber kann ich mich also nicht orientieren. Auch das markieren ist schwieriger, als ursprünglich gedacht. Der Waldrand verschwimmt mittlerweile mit dem dichten Baumwerk, sodass ich mir nun ernsthaft eine gute Strategie zur Wegmarkierung machen muss. Unter dem Laub auf dem Boden suche
ich mit meinen Füßen einen scharfen oder spitzen Stein, mit welchem ich die Rinde einzelner Bäume so abkratzen kann, dass ich diese Beschädigungen schnell und verbindlich wiederentdecken kann. Angespannt lausche ich sicherheitshalber noch in den Wald. Die leichte Brise weht das ein oder andere Blatt geräuschvoll vom Boden auf und pfeift leise durch die Baumspitzen. Sonst ist nichts zu hören. Kein Knacken, kein Rascheln, welches von schweren Wesen wie Tieren oder anderen Menschen erzeugt wird. Für den Moment scheine ich allein zu sein, Denken und Konzentrieren ist also erlaubt.
Die Schienen, die Linien, die Hütte. Blinken, türkis, blau. Aufteilen der Gruppe, verschiedene Haltepunkte. Ich spüre förmlich,
wie sich eine Verbindung abzeichnet, nur greifen kann ich sie noch nicht. Die Linien, sie blinken in unterschiedlichen Farben. Wie hängt das alles zusa… .Es trifft mich wie ein Blitz. Noch in der Bewegung zum nächsten Schritt nach vorne stürze ich mich förmlich in eine 180 Grad Drehung und renne so schnell ich kann zurück in die Richtung, aus der ich gerade gekommen bin.
„Wie konnte ich nur so dumm und blind sein“, schreie ich mich selbst an.
„Verdammt, verdammt, verdammt“, meine Lunge sticht und meine Schläfen pochen, während ich volles Risiko ohne Vorsicht wo ich hintrete, wieder zurück auf den Waldrand zu halte. Ich bleibe ständig mit meinen Füßen hängen und kann mich nur schwer vor Stürzen
retten. Ich sehe wie die Baumreihen nicht mehr so dicht beieinanderstehen. Hoffnung keimt in mir auf.
„Hoffentlich komme ich nicht zu spät“, denke ich mehr flehend als hoffend.
Der Waldrand zeichnet sich immer deutlicher ab. Meine Beine lassen sich kaum noch heben. Seitenstechen reißt mir fasst die Rippen auseinander. Das Atmen schmerzt so unsagbar, meine Lunge rasselt und pfeift aber ich muss mich zwingen weiterzurennen. Meine Schlagadern pumpen Unmengen Blut durch meinen Körper, ich kann jeden einzelnen Schlag spüren. Bummbummbumm. Der Waldrand. Ich halte abrupt ein paar Bäume vor dem Rand an und versuche neben dem Rauschen meines Blutes in meinen Ohren
meine Umgebung wahrzunehmen. Dann höre ich es. Mir fährt es eiskalt den Rücken runter. Ich balle meine Hände zu Fäusten, presse meine Kiefer aufeinander und trete aus dem Wald hervor.