Rufmord
Paranoia ist die grammatikalische Kurzform der paranoiden Persönlichkeitsstörung. Hierbei handelt es sich um psychische Störungen, bei denen ein systematisierter Wahn im Vordergrund steht. Die Betroffenen erleben ihre Umwelt als verzerrt und sind besonders misstrauisch. Außerhalb der wahnhaften Reaktionen kann durchaus eine geordnet erscheinende Persönlichkeit bestehen bleiben.
Der gekonnte Blick in den Badezimmerspiegel am Morgen
bestätigte, dass ich rein äußerlich ich selbst war. Trotzdem dachte ich weiter nach.
Während meines Handelns war mir vollkommen klar gewesen, dass ich seit meinem neunzehnten Lebensjahr wegen einer posttraumatischen Belastungsstörung in Behandlung war. Diese seelischen Verwirrungen wurden zwar auch durch kritische Ereignisse des eigenen Lebens ausgelöst, jedoch standen sie bei mir nicht mit der Paranoia im direkten Zusammenhang.
Jedenfalls hoffte ich das in dem Augenblick, in dem ich das Handy einer gewissen Vanessa Soltau aus deren Jackentasche
stahl.
Es hatte mich erschreckt, wie leicht ich an ein Gerät ran kam, dessen Wert die Hälfte eines Monatsgehaltes ausmachte und für Teenager ab 14 Jahren unersetzlich war. Sage und schreibe 68 Prozent der Jugendlichen, die ein Smartphone besaßen, verwendeten diesen kleinen Kasten zur Nutzung von sozialen Netzwerken. Innerhalb von einem Jahrzehnt hatte sich das Teil zu einem wichtigen Alltagsbegleiter entwickelt und gut 78 Prozent der Deutschen waren im Besitz eines solchen Gerätes.
Diese statistischen Daten waren es auch, weswegen ich zum Dieb geworden war. Ohne dass Vanessa Soltau es bemerkt
hatte, hatte ich mich hinter ihrem Sitzplatz im Kaffeehaus niedergelassen. Ihre Jacke hing wie bei so vielen über der niedrigen Stuhllehne. Nun war die Terrasse des Kaffeehauses sehr eng bestuhlt, was es meinen herabhängenden Armen leicht machte, in Vanessas Jackentaschen zu kramen.
Allzu viel Zeit blieb mir für diese Aktion nicht, denn wenn ich der Statistik Glauben schenken durfte, sah jeder Jugendliche im Durchschnitt alle sieben Minuten auf sein Handy.
Das erste Anzeichen meiner Paranoia zeigte sich in dem Gedanken, dass ich bereits während meiner Tat bestraft wurde. Zuerst griff ich in ein
Taschentuch mit noch mundwarmem Kaugummi. Anschließend dachte ich, ich würde in etwas greifen, dass meine Mitbewohnerin Sarah für vier Wochen in ihrer Brotbox vergessen hatte. Glücklicherweise stellte sich heraus, dass es ein ausgeleiertes, flauschiges Haargummi war. Das Teil hatte keinen Überzug und war so dünn, dass ich anfangs dachte, ich würde es beim Hineingleiten in meine Jackentasche zerknittern. Schon wenige Augenblicke später griff Vanessa nach dem Kommunikationscomputer in Spiegeldosenoptik. Während sie die gesamte Terrasse wahnsinnig machte, mit ihrem Geschrei um das Ding, übte ich
mich im nervigen Augenrollen. Ähnlich wie viele andere Gäste des Cafés, welche den Aufstand beendet sehen wollten. Bei mir hatte es nur den Hintergrund, dass Augenrollen nicht meine Stärke war und diese Übung meine vollste Konzentration verlangte. Ich fragte mich ernsthaft, wie lange mein liebes Muttertier Melanie für die feinen Nuancen ihrer Augen trainiert haben musste. Eine gute Ablenkung von meinem Herzrasen in Highwaygeschwindigkeit und einem exorbitantem schlechten Gewissen waren die Übungen alle mal.
Der nächste paranoide Gedanke war, ob es möglich war, Muskelkater im Bereich des Augapfels zu bekommen oder ob der
beginnende Augenschmerz bereits die zweite Strafe für mein Handeln war.
Nachdem die bunten Hühner beschlossen hatten, das gestohlene Handy der Polizei zu melden, legte mein Herzschlag den fünften Gang ein und ich vergrub mich aus Scharm noch zwei Stunden in einem Katalog der letzten Hochzeitsmesse, auf dem ich eine Ausstellung von Eheringen betreut hatte.
Da ich befürchtete, dass meine Mitbewohner mir an der Nasenspitze ablesen konnten, dass ich etwas ausgefressen hatte, verpasste ich zwei Busse, sodass ich nach Hause laufen musste.
Mama Melanie und ihr Ehemann waren
zum Glück ausgegangen. Sarah war bereits zur Arbeit in die Cocktailbar „Black and White“ gefahren. Was so viel hieß wie: Ich hatte das ganze Haus für mich alleine.
Zuerst holte ich mir die Tageszeitung. Diese ließ ich links liegen, diese würde ich zur glaubhafteren Zeitdokumentation später benötigen. Anschließend holte das Smartphone aus meiner Jacke. Ich stand noch einmal vom Sofa auf und lief in die Küche, wo ich mir Einmalhandschuhe holte.
Ich benötigte drei Anläufe, bis ich den ausspionierten Zeichenkode zum Entsperren korrekt eingegeben hatte.
Nie war ich mir bescheuerter
vorgekommen, während ich mir mit einem Handspiegel vier Schichten Lippenpflege auftrug, nur um dieses Muster zu erkennen. In Spionagefilmen sah das wesentlich eleganter aus und ging vor allem schneller.
Für Mission Impossible wäre ich garantiert keine Bereicherung, ich hatte schlichtweg vergessen, dass ich mir das Muster im Spiegel anders herum als auf dem Touchpad des Handys vorstellen musste. Wieder schoss mir ein wahnhafter Gedanke durch die Synapsen: Vielleicht wollte das Handy seine Geheimnisse nicht mit mir teilen?
Alles, was ich benötigte, fand ich in der bekanntesten App für
Nachrichtenaustausch in Echtzeit. Der Ablöser des SMS-Zeitalters, eine Milliarde mal heruntergeladen in weit über 130 Ländern unseres Planeten besaß sogar einen eigenen Broadcast für die Thematik, welche ich suchte. Drei Freundinnen untereinander tauschten sich Nachrichten zu geplanten Aussagen bei der Polizei aus, gut geplant und strukturiert. Die Mädels hatten ganz schön Mumm in den Knochen, so etwas aufzuziehen. Hierbei schlich sich wieder ein Gedanke ein, den ich in die Kategorie „Wahn“ schieben konnte: Hatten mich die Mädels am Tisch beachtet? Wohl eher nicht. Teenager der beruflichen Pflegeschule interessierten sich nicht
wirklich für eine Mitte zwanzigjährige Goldschmiedin.
Nun begann ich mit meinem Handy, die einzelnen Chatverläufe zu fotografieren. Dazu legte ich das Smartphone von Vanessa Soltau auf die Tageszeitung, so platziert, dass jeder das Datum von heute auf dem Bild erkennen konnte.
Während ich die SD-Karte meines Handys an meinen PC anschloss und begann, die Bilder auszudrucken, fragte ich mich, was aus der Zeit geworden war, in dem man sich Nachrichten auf kleine Zettel geschrieben hatte. Kein Jugendlicher konnte sich heute noch vorstellen, seine Eltern zu fragen, ob man nach der Schule seine beste
Freundin anrufen durfte. Oft mal hatte man dann das Pech eine Antwort zu bekommen wie: „Wenn ihr euch nicht in der Schule verabreden könnt, dann hat das Ganze keinen Sinn mehr heute.“
In der Zeit, in der ein Bild nach dem andern in DIN A4 den Drucker verließ, schlich sich wieder die Paranoia in mein Oberstübchen. Dieses Mal sagte sie mir, es war gut, das Papier, den Briefumschlag und die Briefmarke mit den Einmalhandschuhen anzufassen. Sollten die Texte als Beweis gewertet werden, so konnte niemand meine Fingerabdrücke auf den Beweisen finden. Auch meine Handschrift verfälschte ich so stark, dass der Postbote es schwer
hatte, die Adresse der Polizei in Erbach zu entziffern.
Konnte man Kugelschreibertinte identifizieren? Okay, jetzt drehte ich völlig durch. In meinem ganzen Leben hatte ich noch nie schneller einen Briefkasten erreicht und etwas hineingeworfen. Ich fasste einer abstoßenden Art und Weise, ein Passant hätte glauben können, ich hätte eine Stinkbombe in dem gelben Kasten versenkt.
Ganze drei Tage später, drei Tage der Paranoia, wegen Missachtung der Privatsphäre und Taschendiebstahls eingebuchte zu werden, brachte ich Vanessa Soltaus Handy zum Fundbüro
der Touristeninformation. Der Akku war leer, es war unbeschadet und mindestens dreimal von mir desinfiziert worden. Mein Telefon hatte die Rückkehr zur Werkseinstellung über sich ergehen lassen müssen und meine SD-Karte hatte ich vollständig gelöscht. Einen Zwischenspeicher auf meinen PC hatte es nicht gegeben. Alles nur, weil ich Angst hatte, Spuren zu hinterlassen, welche mein Mitwirken an diesem Fall bestätigen konnten.
Vor lauter Anstrengung der letzten Tage und der Erleichterung das Corpus Delicti endlich los zu sein, nahm ich mir ein Taxi und ließ mich ins „Black and White“
fahren.
Dort angekommen erwartete mich bereits Sarah hinterm Tresen. Meine erschöpfte Miene bestellte ohne großen Aufwand einen doppelten Schokoladenlikör. Mit diesem in der Hand und mich unterm Arm zog Sarah uns beide an einen ruhigen Tisch der Bar. Der Betrieb war noch nicht im vollen Gange und so setzte sich meine Mitbewohnerin zu einem Mann, dem ich drei Jahre lang Schweiß und Beklemmung zu verdanken hatte.
Herr Lehmann war ein Mann mittleren Alters und für einen Mathelehrer sah er sehr gut aus. Das hieß so viel wie: Keine Hornbrille, kein schlabbriges Doppelkinn, eine Kordhose und
zusätzlich die Fähigkeit kochen und einkaufen zu können, ohne aus der Supermarktrechnung einen Dreisatz zu machen.
Trotz seiner diabolischen Vorliebe für Zahlen, die mit Buchstaben multipliziert werden konnten und somit Quadrate ergaben, hatte er im Unterricht immer locker und aufgeschlossen gewirkt. Bei den Schülern war er stets beliebt gewesen. Auch als Klassenlehrer hatte er den Zuspruch der meist lernfaulen Teenager erhalten. Nur gab es da leider Vanessa Soltau, welche seit der Ausgabe des letzten Zeugnisse behauptete, mehrfach von ihm sexuell belästigt worden zu
sein.
Diese unschöne Affäre hatte den Mann ins „Black and White“ getrieben, nach dem seine Suspendierung ausgesprochen worden war.
Auch Sarah kannte den Lehrer, der nun wesentlich älter aussah. Er hielt sich nicht mehr gerade und seine Augen wiesen Ringe auf. Nervös spielte er an seinem Ehering, den ich sogar als Arbeit meiner Chefin erkannte.
An dem Abend, an dem Herr Lehmann bei Sarah an der Bar gesessen hatte und sie im leichten Suff als Psychotherapeutin benutzt hatte, hatte sie mich wiederum aus dem Bett geklingelt. Sie zahlte mir das Taxi und
somit konnte ich mir um halb eins in der Frühe die ganze Odyssee des Herrn Lehmann anhören. Woraufhin ich, berechtigterweise, das wusste ich jetzt, zur Diebin geworden war.
Es war keine Wahnvorstellung, dass ich mich bei der Aktion mies gefühlt hatte. Wahrscheinlich würde ich so etwas auch nie wieder tun, aber es bewies die Unschuld eines Mannes, der vielleicht freundlich und offenherzig war, aber niemals einer seiner Schülerinnen etwas zuleide tun würde.
Paranoid war es von Vanessa Soltau, seine Bemühungen, ihr Mathematik und Chemie näher zu bringen, in dem er ihr Nachhilfe in der Schule gab, als
Anmachversuche zu deuten. Zwar erkannte sie in gewisser Hinsicht ihren Liebeswahn, nutze aber diese Situation gut, damit sie das schlechte Zeugnis ihrem strengen Elternhaus so plausibel wie möglich erklären konnte.
Die Dankbarkeit von Herrn Lehmann war sehr groß. Nichtsdestotrotz lag sein Leben wie eine Art Scherbenhaufen vor ihm. Egal wie das Verfahren gegen ihn ausgehen würde, seine Stellung und Kariere hatte er verloren. In einem kleinen Landkreis wie dem Odenwald waren Gerüchte schlimmer wie der Pest. Wer würde Herrn Lehmann mit dem Vorwurf der sexuellen Belästigung noch beschäftigen. Seine Frau als
Grundschullehrerin musste sich bereits auch mit unangenehmen Fragen von Kollegen und besorgten Eltern anhören.
In den von Alkohol betäubten Augen, erkannte ich den Entschluss Freunde, Familie und das erbaute Eigenheim aufzugeben. Nur eine einzige schlechte Note und Vanessa Soltau hatte das Leben einer ganz normalen Kleinstadtfamilie an den Abgrund ihrer Existenz getrieben.
Eine Geschichte, die sich bestimmt schon irgendwo ein Mal wiederholt hatte. Egal, ob nun aus einem Liebeswahn heraus entstanden, der Angst vor den Eltern oder auch weil es tatsächlich so war und ein Lehrer etwas tat, was niemand tun sollte, den Ruf eines Menschen zu
zerstören, war oftmals schlimmer als ihm ein Messer in die Brust zu stoßen.